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Die Keusche (1962)

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Hinter den Bäumen im Westen sank ein herrlicher Tag hinab. Noch flimmerten die Felder im Ausklang der Ernte, seltsam verklärt. Langsam verglühte die Sonne in der zitternden Wärme des Abends.

Er stand unter der einzigen Laterne des Gasthofs und spürte die zärtliche, streichelnde Hand des Herbstes, den letzten Gluthauch des scheidenden Augusts. Er stand und wartete.

Sie kam nicht.

Und während er verharrte und den Blick in die leblosen Giebel des Dorfes schweifen ließ, dachte er etwas enttäuscht: ‚Das Übliche!‘

Sie kam nicht.

Er hasste diese verstreuten Häuser. Er hasste diesen Samstagabend, der ihn so allein ließ. Vor nicht einmal drei Wochen war er hier angekommen, in diesem mecklenburgischen Dorf; im August zweiundsechzig, als Praktikant bei einem Messtrupp der Firma Geophysik. Wie jeden Sommer mussten sie hinaus ins Feld, die schwere Arbeit kennen lernen, nachempfinden. Auch das gehörte zum Studium. Auch dass es den einen oder anderen „ans Ende der Welt“ verschlug. In ein solches Achthundertseelendorf eben. Tote Hose!

Doch sie kam nicht …

Er hatte es eigentlich erwartet. Gewohnheitsmäßig. Was in aller Welt sollte man sonst dieser Einöde abverlangen? Ein Flirt, ein wenig Abwechslung. Aber bedeutungsloser Küsse wegen? Gewohnheitsmäßig?

Wer denn war dieses Mädchen mit dem goldenen Haar? Das Lachen hatte ihm gefallen. Bedeutete das alles?

Sie kam nicht.

Wohin nun führte ihn diese angegammelte Stunde lähmender Misslaunigkeit? Wohin mit den miserablen Gedanken? Wohin mit der bedrückenden Melancholie? Nein, vielleicht war es sogar besser so und er musste für diese Viertelstunde verwartete Besinnung danken.

Er schaute hinüber zum offenen, lichtdurchtränkten Eingang des Wirtshauses, in dem er wie einige andere auch sein Quartier gefunden hatte, aus Mangel an besseren Möglichkeiten hatte finden müssen. Andere waren auf Bauernhöfen untergekommen. Allein, für diese vier Wochen, die er hier mit seinem Praktikum verbringen musste, schien eine andere Lösung nicht möglich zu sein, war nur ein bescheidener Gästeplatz vonnöten. Allerdings fand er sich nicht allein in dieser glücklosen Lage. Zwei Hilfsarbeiter teilten mit ihm das vollgestopfte Zimmer. Und er ließ sich kaum aushalten, dieser Trubel, der unten herauf aus der Gaststube in die komfortlose Enge drang. Vor Mitternacht war an ein Einschlafen überhaupt nicht zu denken! Ach! Der Missmut überstülpte ihn, da er den Lärm hörte, das Tohuwabohu sah vorn an der Eingangstür. Die drei Linden am Anger standen wie drohende Riesen und fächelten sanfte Luft gegen das ziegelrote Dach.

Sollte er dennoch auf sein Zimmer gehen?

Er zog verdrossen die Brauen zusammen und stapfte hinüber zum Tor. Stinkender, stickiger Qualm, schwellender Lärm schlug ihm entgegen, als er die klappernde Tür zum Gastraum öffnete. Schwaden von Rauch durchnebelten die Luft; die Aschenbecher quollen über von zerdrückten Stummeln. Auf den deckenlosen Holztischen standen die Gläser in zahllosen Lachen von Bier. Säuerlicher Geruch drang in die Nase. Dies alles, obwohl die Fenster weit offen standen! Sein Blick tastete sich von einem Tisch zum anderen. Wetterverbrannte Gesichter; meistens Kollegen aus dem Messtrupp.

Am Tisch neben der Theke saßen die vier Bohrer: Tschombé, Lumumba – fast jeder hier hatte mit einem Spitznamen zu leben –, de Groote, Hansheinrich. Sie spielten unentwegt Karten, wie immer. Volle Gläser standen auf dem Tisch, zwei leere fielen um, weil eine herrische Faust auf die Platte donnerte. Die Kumpel würdigten ihn keines Blickes, als er hereintrat, schienen hochkonzentriert. Recht so! Was sollte er mit ihnen schaffen oder reden an diesem verdorbenen, verschenkten Abend.

Er setzte sich, in die Ecke gedrängt, an den einzigen freien Tisch. Mit dem Daumen signalisierte er dem Wirt seinen Wunsch nach einem schaumigen Bier. Der Wirt nickte stumpf.

… Sie war also nicht gekommen. Nun gut!

Musste man halt den Weltschmerz im Bier ersäufen! Dachte er, lächelte er. Nein, nichts mit Kleinschlagen eines unschuldigen Tisches! Immer besonnen, immer zurückhaltend! Keine Schimpfworte, kein Ausspucken! Mürrisch schaute er auf die fragwürdige Blume des Bieres, das der Wirt ihm vor die Nase setzte. Der Schaum zerplatzte, wie alles, wie alles … Unermüdlich drehte er das Glas zwischen den Fingern. – Letztes Jahr war es doch ähnlich gewesen. Oder? Wie oft eigentlich hatte er schon vergeblich gewartet! Verlorene Zeit! Oder auch nicht? Hier zu sitzen, ließ sich bestimmt nicht sinnvoller an. Dieselben Gedanken, dieselbe Enttäuschung! Wollte er denn nie daraus lernen! Ja, zum Teufel, hatte er andererseits nicht das Recht, sein Leben auszukosten?

Müdigkeit legte sich ihm auf die Augen. Sollte er nicht doch lieber die Kammer da oben aufsuchen? Zweifelnd schaute er zur Decke, dachte mit Grauen an die lädierte, altmodische Waschschüssel ohne Abfluss, den unreinen Eimer stattdessen, die funzlige Nachttischlampe, die muffige Bettdecke.

„Student?“

Erschrocken fuhr sein Blick herab.

„Hast noch’n Platz, Student?“

„Ich heiße Reinhard“, erwiderte er, verärgert darüber, immer nur mit Student angesprochen zu werden.

Aber der andere hatte sich bereits gesetzt, ohne Seitenblick, ohne Antwort zu erwarten. Es war einer der Hilfsarbeiter, Margarine-Schorsch, nicht der Eifrigste eben, auch nicht der Behäbigste. Was wollte ausgerechnet der von ihm? Wirklich nur einen Platz am Tisch? Er bekam sein Bier und einen Korn. Griente.

„Schon lange hier?“

Was ging dies Margarine-Schorsch an! Reinhard wiegte den Kopf. Abermals schien sein Gegenüber nicht an einer Antwort interessiert. Der junge Mann, kaum älter als er selbst, schaute sich gelangweilt um, kippte den Schnaps mit verzogenem Gesicht hinunter und stürzte den Inhalt des Bierglases nach.

‚Soll er das Saufen lassen, wenn es ihm nicht schmeckt!‘, dachte Reinhard, verstimmt durch die ungewünschte Ablenkung. Der andere schaute gläsern zu ihm hin, lächelte abfällig und widmete sich sogleich dem anderen Geschehen in der Gaststube. ‚Kann dieses Individuum überhaupt Glück empfinden?‘ schmollte Reinhard in Gedanken. ‚Ist der überhaupt fähig dazu? Grinst mich an! Ideale, was bedeuten ihm Ideale! Dümpelt hin von einem Tag in den anderen. Schlafen – Arbeiten – Saufen – Fressen – Schlafen!‘ Verdrossen drehte Reinhard sein Bierglas zwischen den Händen. ‚Am besten umwerfen, psschscht, dass es klirrt! Blöde gucken! Hohnlachen! Wisst ihr denn nicht, wie hässlich ihr seid, ihr … ihr Zwerge! Ihr Fratzen! Die das Leben wegwerfen!‘

„Mädchen, hä?“, kicherte MS, nun schon sein zweites Doppel vor der Nase. „Hat dich sitzen lassen, Student? Weibervolk, verdammtes!“

Ein Gespür dafür besaßen solche Leute, schien es Reinhard. Na ja, es gab nicht viel daneben zu tippen. Er selbst mochte nichts sagen darauf, nicht antworten. Um nicht gar zu ungehobelt zu erscheinen, nickte Reinhard dann doch leicht mit dem Kopf.

„Scheiße“, resümierte Margarine-Schorsch. „Elende Wirtschaft! Kann ein Lied davon singen, Student. Ganze Kompanien Mädels hätt’ ich gehabt an jeder Hand. Aber wenn man nur eine will, nur die eine, dann ist es Scheibenkleister. Verstehst? Scheiße. Alle Spielverderber. Kann ich dir sagen, Student, kann ich dir sagen! Kennst du die Keusche?“

„Die Keusche? – Nö.“

„Mensch, der kennt die Keusche nicht!“ Margarine-Schorsch lehnte sich erstaunt über den Tisch und grinste. „Was bist du überhaupt für’n Kerl, hä? Mann, diesen Pullover kennst du nicht?“

„Gehört hab ich manches …“, versuchte Reinhard einzuwenden. Nichts hatte er gehört, natürlich nichts!

„Gehört, gehört! Kieken muss man, Junge!“

Reinhard erinnerte sich schwach, dass der Name „die Keusche“ unter den Feldarbeitern wohl ab und an gefallen war. Aber sonst? Deren Gesprächsthema, nicht seins! Wie sollte ihn eine solch luftige Person beschäftigen! Nein, er hatte sie tatsächlich noch nicht gesehen. Was sollte es auch! Wer war sie schon!

„Titten hat die“, fuhr Margarine-Schorsch mit leuchtenden Augen fort und spreizte die Hände. „Alles dran, Student! Die braucht ordentliche Pranken!“

„Ach, ist sie nicht Lehrerin.“, versuchte sich Reinhard zu erinnern? Doch, doch, er hatte sie wohl einmal gesehen, von weitem, mit einem kleinen Köfferchen.

„Genau die! Aus Sachsen angereist in diese Öde, um uns das Leben zu versüßen. Keine irdische Kragenweite, sag ich dir! Gar nicht zu vergleichen mit den feisten Bauernweibern hier. Fein und gebildet! Sieht man schon an den Fingern. Und ihre Stimme: Wie ausgelassene Butter. Den Gang musst du dir ansehen, Student, tänzelt wie ne Stute vorm Hengst! Wenn sie sich nur öfters sehen ließe! Verstehst? Wir sind ja nun schon ein halbes Jahr hier, gesehen hab’ ich sie aber nur zwei Mal. War ganz schön abgefahren auf sie, muss ich gestehen. Die Kumpel ziehen mich auf deswegen!“ Er schaute sich um und schien nicht wenig stolz. „Purer Neid! Aber an die kommt keiner ran, das behaupte ich mal, niemand. Die ist die verdammte Keuschheit selbst – wie vom Papst geschaffen! Ich will ja auch nur riechen, verstehst, mal verkosten. Mehr ist für unsereinen gar nicht drin. Aber ich fress einen Besen, wenn die nicht irgendwo ’n Macker sitzen hat. Wär sonst bestimmt nicht so zickig. Geht nicht ins Kino, nicht zum Schwof. Ist scheißfreundlich, aber so bissig, dass dir gleich das Lachen vergeht. Oder du kriegst eine gescheuert, wie unserm Inschenieur. Schiebt dich einfach beiseite! So was gibt’s einfach nich! Vernaschen, ja, das wär’s!“

„He, Margarine-Schorsch!“, rief es vom Nachbartisch. „Hat sie dich wieder versetzt?“ Gelächter. Margarine-Schorsch winkte gelangweilt. „Geh auf dein Zimmer, ich weiß was Besseres!“

„Scheiß, lass mich in Ruhe!“, schnauzte Schorschi zurück.

„Lass sie sausen, MS, lass sie sausen! Kommst doch nicht ran. Affengeil! Affengetue!“

„Schneeaffe!“ Margarine-Schorsch brummelte verärgert vor sich hin.

Ja freilich, dieser rüde Ton war halt ihre Umgangssprache. Reinhard schaute belustigt hinüber. Aber Margarine-Schorsch fühlte sich tatsächlich getroffen. Junge, Junge, so fantastisch konnte das Weib doch nicht sein! Oder? Selbst als Lehrerin … Huh!

„Ist ’ne Sexbombe, Student, sag ich dir, ’ne Sexbombe!“ Reinhard rümpfte die Nase und neigte sich vor. „Unser Schießer hat sie mal baden sehen. Mann, dem sind die Augen übergekocht! So ein Becken, solche Titten!“

Maßlos wie immer, dachte sich Reinhard und drehte schweigend sein Bierglas. Geschwätz! Angebereien! – Es ist wohl besser, ich zahle.

Margarine-Schorschs Blick hing ohnehin am Nachbartisch. „Hättest das Eichel-Daus nich schmieren sollen!“, sagte er.

„Spielst du Karten o-oder ich, du Jungfernkiller, du du!“, stotterte Tschombé.

„Hol du doch dein schmieriges Eichel-Daus raus, MS!“ Lumumba lachte laut auf.

„Die Keusche leg ich noch übers Knie!“, verkündete Margarine-Schorsch lauthals und stierte Reinhard leicht umnebelt an. „Drauf kannst du einen lassen, Student!“

„Keiner ist bis heute an die ran-rangekommen, Student“, sagte Tschombé und sah zu, wie Reinhard seine magere Zeche dem Wirt auf die Hand zählte. „Treibt mit ihren Reizen nur Schindluder. Wozu, verdammt, hat der liebe Gott so was so was geschaffen! Und auch du wirst sie nicht knacken, Student. Verwett ich meinen Arsch!“ Reinhard wollte sich schon erheben, aber noch immer gab Tschombé nicht auf. „Einmal hab ich sie an-angefasst; nach dem Kino. Wollte sie nur mal betatschen, sehen, ob das auch echt ist. Da hat sie mir eine gegescheuert. Ha-ha. Noch mal, noch mal passiert mir das nicht! Gebildete, eingebildete Zicke! Hat auch nichts anderes als wie andere Weiber.“

Margarine-Schorsch rückte seinen Stuhl an den Nachbartisch. Reinhard ging.

Draußen umfing ihn frische Luft. Der Abend war nicht mehr so drückend. Tief sog er zweimal die Luft ein, dann schien der Mief der Kneipe aus seinen Lungenflügeln vertrieben. Dennoch, er ärgerte sich über das dumme Geschwätz. Immerhin aber hatte es seine Neugier angefacht. Sollte er tatsächlich etwas verpasst haben, bisher, hier, in den letzten beiden Wochen? Gab es wirklich ein solch mysteriöses, fantastisches Mädchen, eine sanfte, unwiderstehliche Schönheit? Langsam schlenderte er einige Schritte die grillendurchzirpten Gärten entlang und lauschte hinaus in die ferne Stille der Natur.

Wie, andererseits, widerte ihn dieses abstoßende Gebaren an! Wie einsam und allein kam er sich vor! Niedergeschlagen. Enttäuscht von Welt und Leben. Nun ja, nur noch wenige Tage musste er in diesem Nest ausharren!

Die da drinnen, sann er verärgert, die da drinnen dachten nur an das Heute, den Tag, die Stunde. Was davor, was dahinter lag, schien ihnen fatal gleichgültig. Was aber brachte das Morgen, sollte das Morgen bringen? … Gedanken eines Wehleidigen, was? Gedanken eines Zerrissenen? Gedanken eines, der nicht mit dem Leben zurechtkam? Wie eng und bedrückend erschien ihm alles hier. Enttäuschung und Frust, gedrückte Stimmung, gedrückte Laune, wie auch immer; Misanthropie, Melancholie, Selbstmitleid. Was er im Augenblick fühlte, setzte sich unbeholfen nur aus solchen Schlagwörtern zusammen. Aber war er denn anders als jene? Bewegte sich in ihm nicht alles in gleichem Maße, wenn auch auf anderer Ebene?

Ach, es war vorüber, verraucht! Reinhard spürte den immer würzigeren Duft, je mehr er sich von den drei drohenden Linden entfernte, je weniger ihn der Lärm dieser Gesellschaft einholte. Die angenehme Luft durchströmte plötzlich jeden Zipfel seines Körpers, jeden Winkel des Hirns; säuberte es von trüben Gedanken. Er fand zu seinem Lächeln zurück. Ein leiser Seufzer entwich seiner Kehle und hüpfte in die Dunkelheit davon.

Bald hörte er nur noch seine knirschenden Schritte im lockeren Sand. Windstille. Ruhe vor dem Sturm? Von ferne herüber rollte das gedämpfte Quaken unzähliger Frösche aus den kleinen Teichen am Dorfesrand. Noch schwebte ab und an der Duft der Ernte in geballten Schwaden heran – die heißen Reste des Tages wichen dahin.

Willenlos schlenderte er der Freiheit seiner Füße nach. Jetzt fanden Trost, Geruhsamkeit, innere Einkehr zurück. Hinter dem großen Nussbaum des Gemeindehauses schielte der Mond hervor; zunehmend huschten Wolkenfetzen an ihm vorüber. Schwüle. Von Ferne rauschte etwas heran, blitzte es wetterleuchtend. Ein aufkommender Wind begann zu stöhnen. Maunzend querte vor ihm eine Katze den Weg und verschwand in den verstaubten Nesseln.

Kein Zweifel, ein Gewitter.

Er wandte sich um, damit er nicht von diesem Unwetter überrascht werde. Drüben in der Kneipe öffnete sich die Tür – ein kurzes Lachen, dumpfes Poltern und trappelnde Schritte. Dann verschwand der Lärm wieder hinter dem groben Portal aus Eichenholz.

Der Wind nahm zu.

Abermals eine Stimme. Heißeres, männliches Lachen – nicht sehr weit entfernt. Wortfetzen, ein holprig hingeworfener Satz, den Reinhard nicht verstand. Der schrille Tonfall eines Mädchens. Angst oder Lebensfreude? Reinhard blieb stehen und richtete sich auf, doch er vernahm lediglich undeutliches, beruhigendes Gemurmel. Über seinem Kopf begannen die Blätter der Linden zu tanzen und zu rauschen; Böen fegten verräterisch zwischen die Äste. Noch sah man den gehetzten Mond zwischen den Wolken, bald aber verschwand auch er im Rachen der nahenden, pechschwarzen Wolkenwand.

Ein deutlicher Aufschrei nun in der Nähe, wohl hinter ihm irgendwo auf der Dorfstraße – der schmerzliche Aufschrei eines Mädchens. Reinhard hielt inne. Ihn trieb die Neugier und ein wenig die Befürchtung, zu Hilfe eilen zu müssen. Er trat einige Schritte in den Schatten der Gärten zurück. Der Mond riss ein letztes Loch in die Wolken und Reinhard erkannte, unweit in Fetzen von Licht getaucht zwei menschliche Gestalten. Sie schienen sich nicht so recht einig, das Mädchen und der Bursche. Reinhard glaubte deutlich, Handgreiflichkeiten zu erkennen. Wohl nichts Aufregendes, dachte er, die üblichen Zierereien … Schon wollte er sich abwenden, da vernahm er wiederum die weibliche Stimme:

„Lassen Sie mich! Gemeiner Mensch, Sie! Ich schreie um Hilfe!“

Nein, so artikulierte sich kein Mädchen vom Dorfe! Reinhard ließ die Arme sinken, starrte verwundert hinüber und schien im Augenblicke unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Keuchendes Gelächter antwortete aus der Dunkelheit und eine raue Stimme presste hervor:

„Ich werd dich schon kirre machen! Verdammtes Biest!“

„Ich schreie!“

„Schrei doch! Ich halte dir die Klappe zu. Wer weiß, ob dein Geheul überhaupt jemand hört!“

Reinhard stolperte einige Schritte auf das Pärchen zu. Der heftige junge Mann packte das Mädchen bei den Unterarmen, so dass es sich unter seiner Derbheit hin und her wand. Reinhard blieb erschrocken und unentschlossen stehen. Machte er sich möglicherweise nur lächerlich, wenn er vorgab, einen Streit zu schlichten? Wenn aber, andererseits … Reinhard hielt es für geboten, zumindest zufällig an ihnen vorbei zu schlendern. Aber als er ihnen nahe kam, verhielten beide zwar in Stimme und Handgreiflichkeit, doch umklammerte der rohe Bursche das Mädchen mit deutlicher Kraftanstrengung. Feige und mit schnellen Schritten eilte Reinhard davon. Wenn dennoch …? Was tun?

Ein dumpfer, tief schmerzlicher Aufschrei des Mannes und ein fallartiges, raschelndes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Unsicher wandte er den Blick zurück. Was er in der Dunkelheit erkannte, überzeugte ihn nun doch von der Gewalttätigkeit der Szene. Offensichtlich hatte das Mädchen die Überraschung genutzt und seinem Peiniger zwischen die Beine getreten. Fast ebenso schnell jedoch richtete der Bursche sich wieder auf, holte die junge Frau nach wenigen Schritten ein und schleuderte sie mit brutaler Hand zu Boden. Er wälzte sich rachsüchtig auf sie und schlug auf sie ein.

„Hilfe! Hilfe!“, schrie sie röchelnd. Doch er ließ sie nicht los.

„Schnauze, Miststück!“, zischte der aufgebrachte Kerl und drückte ihr roh die flache Hand auf Mund und Hals. „Dich krieg ich schon noch weich!“

Reinhard konnte sich später kaum erinnern, wie schnell er am Ort gewesen war. Er warf sich auf beide Gestalten und mühte sich, sie mit all seiner Kraft zu trennen. Der Bursche jedoch, kräftiger als er selbst, schien sich nicht beirren zu lassen und versuchte unbeeindruckt, ihr und ihm mit Schlägen beizukommen. Kurz darauf, als Reinhard wie besessen auf seinen Rücken einhämmerte, sprang er plötzlich hoch und baute sich wenige Schritte vor ihm auf.

Die junge Frau rappelte sich weinend empor, sah Reinhard erstaunt mit tiefdunklen Augen an und stolperte davon. Ein kleiner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel. Ihr zerzauster Pferdeschwanz verschwand in der schützenden Dunkelheit. Sie war hübsch, gewiss, aber Reinhard hatte davon in der Hastigkeit des Geschehens kaum etwas erkennen können.

„Weißt du überhaupt, was du machst?“, schrie ihn der Bursche an. „Wer bist du denn! Mischst dich in meine Angelegenheiten! Was ich mit ihr anstelle, ist allein mein Bier! Hau ab, sag ich dir! Sonst brech ich dir noch die Knochen! Hau ab!“

Reinhard zog die Ellenbogen hoch und posierte wie ein Boxer. „Bist du blöd, Mann? Entweder sie will dich, dann braucht sie kein solches Theater. Oder sie will dich nicht, dann hast du eine Vergewaltigung am Hals!“

„Sie hat mir in die Eier getreten!“, jammerte der Kerl.

„Was, bitte, hätte sie sonst tun sollen?“

„Das werd ich dir noch heimzahlen, du Arschloch, das verspreche ich dir!“ Er versuchte, der jungen Frau mit hastigen Schritten nachzustolpern, aber Reinhard stellte sich ihm in den Weg. „Geh dort lang!“, sagte er und schob ihn in die Richtung der Kneipe. „Die ist längst über alle Berge! Und bald wird es gewittern.“

Wie zur Bestätigung fuhr der erste Blitz krachend nieder. Tropfen platzten auf die staubige Erde und hinterließen kleine Krater.

„Lass dich nur nicht alleine erwischen“, rief der verunsicherte Bursche. „Dich schlag ich noch grün und blau!“

Im aufzuckenden Blitz sah Reinhard den Kerl hinter der nächsten Linde verschwinden. Hatte er durch den erholsamen Spaziergang an den Gärten entlang ohnehin seine bessere Laune zurückgewonnen, so befriedigte Reinhard jetzt um so mehr das erhabene Gefühl, einem bedrängten Menschen beigestanden zu haben. Dass dieser Mensch ein hilfloses Mädchen war, erfüllte ihn mit Stolz. Er breitete die Arme aus und stellte sich unter den düster behangenen Regenhimmel. Genüsslich ließ er die großen Tropfen auf seinem Gesicht platzen. Doch dann sprang er in übermütigen Sätzen, die noch zaghaften Pfützen meidend, in den Schutz der Linden am Haus. Oben, in seiner Übernachtungskammer, riss er sich die durchnässten Kleider vom Leibe, öffnete das knarrende Fenster und ließ den prasselnden Regen vor seiner Brust herabrauschen. Er bejubelte alle Blitze, die die umliegenden Häuser in ein stroboskopisches Licht tauchten.

Unten in der Kneipe kehrte gespenstige Stille ein, Türen und Fenster wurden verrammelt. Das gewöhnliche Leben duckte sich unter dem Toben der Natur.

Dieses Mädchen!

Er hatte es ja nur flüchtig gesehen … Reinhard lehnte sich weit über das Fensterbrett hinaus und ließ den Regen auf seinen Kopf trommeln.

Wie glücklich fühlte er sich, wie stolz! Weit hinter sich ließ er die trüben Gedanken dieses miserablen Abends. Hungriges Leben meldete sich! Nichts da von Traurigkeit und Resignation. Er, ein fröhlicher Mosaikstein dieser großen, allumfassenden, zu umarmenden Welt! Jeder Ort erstrahlte in plötzlicher Schönheit. Auch dieser!

‚Leise flehen meine Lieder

durch die Nacht zu dir …‘,

pfiff er vor sich hin. Kitsch, argwöhnte er sogleich, Kitsch, diese Stimmung. Nein, so empfand er es keineswegs. Es trieb ihn reine Freude, der Genuss an dieser berauschenden Melodie. Zärtlichkeit …

‚… lass auch dir die Brust bewegen,

Liebchen, höre mich!

Bebend fahr ich dir entgegen,

komm, beglücke mich!

Komm, beglücke mich!‘

Es schien ihm gar nicht bewusst, wie seltsam die Genugtuung über seine edle Tat in eine unbestimmte Sehnsucht nach diesem geheimnisvollen Mädchen übergesprungen war. Verstummendes Summen auf den Lippen, schloss er das Fenster, trocknete sich das nasse Haar, ließ sich ungehemmt lang auf die knarrende Bettstatt fallen. Augenblicklich schlief er ein.

Der nachfolgende Morgen verhieß einen wunderbaren, gereinigten Tag. Die Sonne stieg über die Wipfel des rückwärtig gelegenen Waldes empor. Vom Weiher her zog ein zierlicher Schleier, letzter, kühlender Rest des nächtlichen Gewitters. Frische Luft zog durch die Gassen, belebtes Grün lag in den Gärten, Wiesen und Wäldern.

Sonntag.

Reinhard lauschte dem Gezwitscher in der Linde vor seinem Fenster. Als er sich hinauslehnte, verstummte es für kurze Zeit. Sein Blick schweifte an den mächtigen drei Kronen vorbei in die unendliche, erblauende Ferne. Flache Moränenhügel schmiegten sich an den Horizont. Davor Felder, immer wieder Felder und kleine Waldhaine, Reste vergewaltigter Auen. Einfache Zweiheit: Himmel und Erde.

Die anderen schliefen noch, schnarchten vor sich hin.

Er beschloss, am frühen Nachmittag hinauszuwandern in die so unvertraute Natur, hinüber in das Wäldchen, in dem er Ruhe und Entspannung zu finden hoffte, Ruhe vor jenem Geschehen, das ihn gestern Abend eingestandenermaßen aufgewühlt hatte. Um die Mittagsstunde ließ er die letzten Häuser hinter sich, die letzten äpfel- und birnenträchtigen Gärten. Er traf kaum jemanden. Alles, die Lautlosigkeit, die Natur, den ländlichen Frieden sog er in sich auf. Sonntäglich still wurde es um ihn her. Nur die Lerche, die Grille, den Frosch – nur diese verträglichen Geräusche nahm er wahr. Die wöchentliche Hast schien verbannt.

Er lenkte seine Schritte auf diesen und jenen Weg, streifte dort am Rande eines Hains hin, mied insektenumschwirrte Tümpel und suchte zuweilen die angenehme Kühle eines dichten Waldstücks, wie es hin und wieder zwischen den Feldern verstreut lag. Er bewunderte die zahlreichen, betagten Eichen und Erlen, Eschen und Ulmen. Durch die Wipfel streute dämmernd das Licht. Auf dem Feld tauchte die Sonne Licht und Schatten in die tiefgefahrenen Rinnen des Bodens.

Ländliche Idylle. Landschaft, die unter jedem Grashalm neue Wunder gebar.

Leise kicherte Reinhard vor sich hin: Vorfreude auf die anstehende Heimreise? Er genoss diesen Tag gewissermaßen schon als Scheidender.

Eine gute halbe Stunde hatte er sich schon vom Dorfe entfernt. Drüben grüßten noch die roten und grauen Dächer, der aus Feldsteinen zusammengefügte Kirchturm. Vor ihm lag ein großer Flecken urtümlichen Laubwaldes, in den ihn der schattige Weg nun führte. Bis hierher hatte er sich noch nie gewagt. Bald umfing ihn das dichte, gereifte Grün des Blattgewölbes; nirgendwo links und rechts spürte er den Griff ordnender Menschenhand. Das Unterholz wucherte, verschlang den Weg und teilte ihn in wundersame Pfade. Unbekümmertes Vogelgezwitscher drang an sein Ohr. Oh ja, hier beschirmte das Leben das Leben! Unzählige Stimmen, einziges Rauschen!

Unvermittelt verhielt er, da seine Augen auf dem Boden suchten, vor einem verquer liegenden, modernden Baumstamm. Ein Knistern – nicht von ihm verursacht – hatte ihn gewarnt. Aufmerksam wandte er den Blick zur Seite. Hatte man ihn bemerkt? Es schien, als streifte ein Paar brauner, unsicherer Augen durch das unwegsame Gestrüpp. War sie es? Die junge Frau kam ihm unvermittelt, nur wenige Meter entfernt, auf einem Seitenpfade entgegen. Dickicht verschleierte ihm den sicheren Blick. Er konnte die Züge nicht deutlich erkennen. Sie ging vorüber und das Bild entschwand zwischen dem dichten Laub, der elastische Rücken zerfloss im Blaugrün der störrischen Zweige. Ein dunkler Schopf verlor sich in den Farbtupfern dieser Wildnis. Kein Blick zurück!

So weitab vom Dorfe!

Wer mochte dies sein? Wer schritt hier so einsam, so stolz und unbekümmert daher? War sie es?

Kopfschüttelnd überstieg er den morschen Stamm und setzte den Weg gedankenverloren fort. Ohne sich recht seines Wollens bewusst zu sein, wendete er die Schritte an erstmöglicher Stelle auf jenen Pfad, den dieses rätselhafte Mädchen gegangen war. Hoffnung durchhämmerte plötzlich sein Herz. Schmetterlinge flatterten im Bauch! Er fühlte sich ertappt, da er dem Weg dieses Mädchens so unverfroren folgte. Spannung vor dem Erkennen! Nichts weiter!

Nichts weiter?

Hatte er nicht gestern erst dieses langweilige Leben hier verdammt? Hatte er sich nicht geschworen, keinem zweifelhaften Mädchen mehr nachzulaufen? Hatte nicht gestern erst ein solches Wesen ihn wieder sitzen lassen? Doch andererseits: Tauchte nicht dieses wundersame Geschöpf auf wie Phönix aus der Asche? Bedurfte er nicht einer Seele, die ihn tröstete?

So schnell, wie er die junge Frau aus dem Blickfeld verloren hatte, so unvermittelt schimmerte ihr blaues Kleid plötzlich wieder zwischen den Bäumen hervor. Sie kam ihm entgegen, direkten Fußes! War sie ihm gefolgt? In seinem Kopf überschlugen sich die Vermutungen und der Wunsch auf erhoffte Entdeckung. Ja, sie war es wirklich und wahrhaftig! Große, dunkle Augen schauten ihn fragend an, Augen, die ihn auch am vergangenen Abend verwundert angesehen hatten, tief und glänzend. Eine weiße Spange schnürte den braunschwarzen Pferdeschwanz. Und ein blaues Kleid fiel ihr diesmal über die wohlgeformte Hüfte, nicht jene enge Hose.

Reinhard fragte sich, wie diese junge Frau den Mut aufbrachte, hier allein umher zu wandeln, meilenweit entfernt vom Dorfe und nach all dem, was gestern geschehen war. Doch ehe er sich in weiteren Vermutungen erging, hatte sie sich unvermittelt auf einen Baumstamm niedergelassen. Die Begegnung schien unvermeidlich, ob sie nun gesucht und gewünscht war oder gar peinlich berührte. Wohl auch erkannte er ihre Verlegenheit. Ihr Nicken, sein Nicken … Sollte dies der ganze Gruß bleiben? Selbst ein schwaches Lächeln half nur wenig über die Verlegenheit hinweg.

„Na …“

„Ich …“

Ein erleichtertes Lächeln spielte auf ihren Lippen und ihre Augenlider zogen sich um ein Blinzeln zusammen.

„Ich wollte mich so gern bei Ihnen bedanken!“, sagte sie leise. „Welcher Zufall! Das waren doch Sie gestern Abend, nicht? Ich …“

Reinhard nickte verlegen, biss sich auf die Lippen.

„Sie haben mir wirklich in einer misslichen Situation beigestanden. Ich, ich bin nicht mehr sicher vor diesen Übergriffen …“

„Sie sollten es nicht auf sich beruhen lassen“, sagte er vorwurfsvoll. Aber, mein Gott, wenn man so aussah wie sie, dachte er weiter. Diese Erhabenheit, diese Schönheit! Nein, nicht oberflächliche Wohlgestalt! Anmutige, weibliche Schönheit! Reinhards Blick hing an ihren schmalen, geschwungenen, fast schwarzen Augenbrauen, bewunderte das unverfälschte, natürliche Rot ihrer Lippen und die gerade Nase mit einem Anflug von Sommersprossen. In sanften Wellen floss das Haar über die linke Schulter. Sie zupfte, da er sein Schweigen nicht brach, verlegen an einem widerspenstigen Zweig.

„Heute ist ein angenehmer Tag, nicht?“, stammelte er schnell.

„Angenehmer jedenfalls als gestern“, fügte sie hinzu. Sie schaute ihm verschämt in die Augen. „Sie werden sich wundern“, sagte sie, „mich so weitab und einsam zu finden. Aber ich gehe oft und gern allein hier spazieren, eben weil ich nicht belästigt werden möchte. Hier trifft man niemanden.“

„Bin ich niemand?“

„Ja“, erwiderte sie leicht auflachend. „Ich kenne Sie nicht. Und dies überrascht mich keineswegs.“

„Wissen Sie“, – noch immer trat er vor ihr unschlüssig von einem Bein auf das andere –, „als ich Sie eben hinter den Sträuchern verschwinden sah, dachte ich: ‚Orplid – mein Land, das ferne, leuchtet.’ Das blaue Mädchen. Kennen Sie das Buch?“ Sie schüttelte leicht den Kopf und wartete. „Ehm Welk“, fuhr Reinhard fort. „In jener Geschichte aus seinen Erinnerungen sieht er jedes Mal, wenn er im Walde spazieren geht, ein Mädchen. Nur von fern. In einem blauen Kleid. Nie aber kann er sich ihm nähern, immer entschwindet es alsbald zwischen den Bäumen.“

„Sehr romantisch!“ Sie trat einen Schritt zur Seite und stellte sich in angemessener Entfernung neben ihn hin; nicht so nah, dass er sie berühren musste, nicht andererseits so fern, dass es hätte Abschied bedeuten sollen.

„Sie ziehen sich oft hierher zurück? Sozusagen? Und mir“, sagte er mit einem spöttischen Lächeln, „mir wurde buchstäblich das Glück zuteil, Sie zwischen den Bäumen hervortreten zu sehen.“

Ihn traf ein verlegener Blick. Welch geschwollene Sprache! – mochte sie denken. Er wusste nicht, ob ihr diese Parallelen gefielen oder nicht. Endlich wandte sie ihr Gesicht und ging langsamen Schrittes vor ihm her, sich wohl sicher, dass er ihr auf dem schmalen Pfad folgte. Dieser Blick! Er hatte ihm bedeutet, sie zu begleiten!

„Ah, Sie sind ein gebildeter Mensch!“, rief sie, mühsam einen gewissen Spott verbergend. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit gaben, dies zu erraten.“

„Ich bitte Sie!“

„Ich hätte es wissen müssen, meinen Sie?“

„Ganz und gar nicht“, meinte er befangen.

„Ach ja!“, erwiderte sie. „Und Sie? Sie gehören diesem seismischen Messtrupp an, nicht wahr?“

„Woher wissen Sie das …“

„Es spricht sich herum. Denken Sie sich: Dieses Dorf ist doch nicht Rom!“

„Ich …“, versuchte er zu entgegnen.

„Sie sind nicht wie die anderen, wollen Sie sagen?“ Sie wandte sich plötzlich um, neigte den Kopf zur Seite und lächelte verschmitzt. „Oh ja, Sie gehören doch dazu! Freilich, von Ihnen hört man keine Sottisen. Freilich.“

„Nein“, sagte er und sah ihr in die forschenden Augen. „Nein, nein, eigentlich gehöre ich nicht dazu. Nur ein Student, wissen Sie, im Praktikum.“

„Ah ja“, meinte sie kurz. Ein Zucken durchlief ihre Züge und sie wandte sich schnell wieder ab. „Sie studieren also.“

„Ja, Geophysik. In Freiberg.“

„So, so.“

Sie schritt vor ihm her und er konnte nicht erkennen, welche Bewegung sich auf ihrem Gesicht zeigte. Sein Atem erhitzte sich. Aber: ‚Mein Auftritt ist blamabel!’, spürte er. Die Stille um sie herum kam ihm befremdlich vor und bedrückend zugleich. Ihr Schweigen schnürte auch ihm die Kehle zu. Mein Gott, was sollte er so schnell auch hinzufügen, Bedeutendes sagen? Der Pferdeschwanz wippte verlockend vor ihm hin und her. Dennoch wollte er alles andere als daran zu zupfen. Die weiße Spange zitterte vor seinen Augen, herausfordernd, aufreizend. Gedämpftes Licht verteilte sich in hellen Tupfen über ihren kastanienbraunen Schopf. Betäubend duftete ihr Haar, wenngleich er sich nicht nahe genug fühlte. Noch immer schritt sie schweigend voraus, den schmalen Pfad entlang, der es nicht erlaubte, an ihre Seite zu treten. Was mochte sie denken, da sie seinen Blick im Nacken spürte? Lächelte sie vor sich hin oder blitzten ihre Augen voller Spott? Ach, ihr verhaltener Schritt, ihr wippender Gang! Hin zum Waldessaum! Warum schwieg sie so strafend? Er musste sprechen! Unbedingt. Gewiss wartete sie darauf! Wie aber beginnen, wollte er nicht lächerlich erscheinen?

„Und Sie?“, fragte er schließlich stockend.

„Was!“, rief sie, wandte sich für einen Augenblick um zu ihm und betrachtete ihn zweifelnd. „Sie sollten mich nicht kennen?“

„Entschuldigen Sie, ich sah Sie wohl gestern Abend. Das erste Mal. Und sogleich unter solch widerlichen Umständen.“

„Dies mag wohl wahr sein.“

„Ja und …? Haben Sie mich vielleicht …“

Sie hüllte sich einen Augenblick in Schweigen. Er spürte deutlich, dass sie dies unangenehm berührte. Starren Blickes schritt sie geradeaus. „Ich bin Lehrerin, jawohl“, sagte sie dann plötzlich. „Seit einem Jahr.“

„Was? Sie sind die …“ Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Wie konnte er so blind gewesen sein! Plötzlich erschien ihm alles, was geschehen war und geschah, als das Naheliegendste der Welt. Diese junge Frau! Von allen vergöttert! Hier wandelte sie selbstsicher vor ihm einher!

„Die Keusche, wahrhaftig!“, klang es von vorn. „Sie werden deshalb hoffentlich nicht gleich das Weite suchen! Oder?“

„Durchaus nicht“, stotterte er. „Ganz im Gegenteil …“

Sie kicherte kurz auf und wandte sich um. „Oh ja …?“

Dann lachten sie beide aus vollem Halse. Und im selben Augenblick traten sie gleichzeitig hinaus auf das weite Feld. Ein Schwall strohiger Wärme schlug ihnen entgegen; das mystische Dunkel der Eschen, der Erlen und Ulmen verschwand in ihrem Rücken. Nun endlich konnte er sich an ihre Seite wagen, nun endlich durfte er sie innig betrachten, nun endlich blieb der Blick in den Augen des anderen hängen.

„Ich habe Sie hoffentlich nicht Ihrer Ruhe beraubt?“, fragte er – ein wenig unbeholfen. Sie warf ihm einen abwägenden Blick zu. Nein, sie meinte nicht, darauf antworten zu müssen. Ihre Hand griff nach einem vergessenen Roggenhalm und riss ihn aus der getrocketen Erde. Sie beugte sich mit dem Antlitz über ihre Handfläche, auf die sie die Ähre behutsam abgelegt hatte. Trotzdem, er glaubte sehr wohl, dass er sie gestört habe. „Sie hofften doch, allein zu lustwandeln …“ Lustwandeln – welch blödsinniges Wort!

Sie schielte zu ihm hinüber. „Keineswegs!“, erwiderte sie dann mit offenem Blick. „Sie stören mich keineswegs.“ Leicht ließ sie die Ähre über ihre Wange streichen. „Wer weiß … Vielleicht sehne ich mich auch nach Gesellschaft.“

„Ach!“, sagte er und beide lachten. „Ich amüsiere Sie?“

Nein, so war an ein ernsthaftes Gespräch nicht zu denken! Fast wünschte Reinhard nun, die Idee zu diesem Spaziergang wäre ihm nie gekommen. Aber andererseits: Ein Steinchen gab sich zum anderen; ein Mosaik entstand, ein wundervolles Bild. Vielleicht würde man es eines Tages im Innersten bewahren wollen.

„Ich amüsiere Sie!“, wiederholte er trotzig und vorwurfsvoll.

„Nein!“, behauptete sie sehr bestimmt. „Wieso sollten Sie?“

Ach, sie ließ sich aber auch alles aus der Nase ziehen, sich nicht aufs Glatteis führen! Er betrachtete ihre schmalen, geschwungenen Augenbrauen, blickte sie unbekümmert, ja unverfroren an, auch dann noch, als sie ihm erwartungsfroh die Augen zuwandte. Aber dieser Blick blieb nicht dreist, er wandelte sich in milde Wärme, in Melancholie, in Hoffnung … Reinhard errötete. Durfte er diesen Blick wirklich ehrlich in sich aufnehmen?

Sogleich zwinkerte sie und kehrte in ihre Schale zurück. „Sie könnten mich fressen, nicht wahr?“, murmelte sie. „Mein Gott, bin ich heute unausstehlich!“

Also doch: Gespielte Ironie? Oder nur Unsicherheit, Unzufriedenheit? Wie war dies Mädchen, nein, diese junge Frau, zu verstehen? Er erinnerte sich an Margarine-Schorsch. Wie Recht mochte der haben – wenn auch aus anderem Gesichtswinkel.

„Sie sind gestern noch gut nach Hause gekommen?“, erkundigte er sich.

„Schon, schon, auch wenn meine Haare nicht wenig nass geworden sind. – Kaum der Rede wert.“ Sie schaute ihm abermals mit jenem weichen Blick, der ihn so konfus zu machen drohte, in die erwartungsvollen Augen. „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht bedankt …“

„Ach was“, sagte Reinhard heiter. „Das hätte jeder tun sollen.“

„Sie glauben nicht, wie oft das wohl der Fall sein müsste“, antwortete sie verdreht.

„Mir gleichfalls!“, brach er in ihre Gedanken. „Mir sind auch die Haare nass geworden. Meine Schuld! Ich hätte schnell in die Kneipe laufen können. Im Übrigen hab ich den Regen genossen.“

„Sie hausen auch dort?“

„Ich hause auch dort. Nicht sehr angenehm das alles. Ich habe lange am Fenster gestanden und die teuflischsten Blitze gezählt.“

Ihre Ruhe war wohl instinktive Verschlossenheit. Wie sollte sie diese Begegnung denn beurteilen, wenn sie im Dorfe täglich mit Übergriffen rechnen musste? Aber dieses Lächeln andererseits! Dieses Lächeln ermunterte ihn.

„Wissen Sie“, fuhr Reinhard deshalb fort. „Ich war gestern in ein tiefes Loch gefallen, muss ich gestehen. Ja, wenn Sie das hören wollen: Mich ekelt dieser rabiate Verein an, dieser Kneipenjahrmarkt. Maskuline Großkotzigkeit! Sammelsurium niedriger Instinkte! Ich weiß, ich weiß, das alles ist maßlos übertrieben, vielleicht ungerechtfertigt. Und wodurch rechtfertige ich meine Überheblichkeit! Verstehen Sie? Dieses Lagerleben wird mir zur Höllenqual, zerstört die besten Vorsätze! Dann fühlt man sich verlassen und allein.“ Sie zuckte plötzlich zusammen und sah erschrocken, nein betroffen in die Ferne. „Da bedeutet ein solcher Zwischenfall wie gestern Abend nicht nur banale Abwechslung sondern er besitzt auch schicksalhaften Sinn. Ich hatte mich überwunden, fühlte mich glücklich und erhaben, als Held gewissermaßen! Ach, wie erbärmlich! Immerhin fasse ich es wieder, mein zerbrechliches Weltbild …“

Schien sie dies traurig zu stimmen, zumindest verwundert? Sie wandte den Blick hinüber auf das entfernte Dorf. Und erstarrte in verwirrter Verständnislosigkeit über seine Worte.

„Aber wem sage ich das!“, setzte er plump hinzu.

Sie hielt inne und ließ den Blick in die unendlichen Felder fliehen. Einsamkeit? Ja, ja, freilich. Wem sagte er das! Und wie sagte er das! Aber wohin mochte ihn dieses Jammern führen? So hatte sie sich diesen Nachmittag gewiss nicht erträumt.

Er merkte es wohl. „Sie stammen auch aus dem Süden?“, fragte er schließlich, nur um etwas Gleichgültiges hinzuwerfen. „Ihr Dialekt verrät es.“

„Allerdings. Aus einem Dorf in der Oberlausitz.“

„Der nächste Weg!“, brummte er. „Wie denn hat es Sie ausgerechnet hierher verschlagen?“ Ans Ende der Welt? – Wollte er hinzufügen.

„Das ist durchaus keine ungewöhnliche Geschichte“, begann sie. „Es wird auch Sie eines Tages vermutlich in ähnlicher Weise einholen. Dieser Staat fühlt sich bemüßigt, jedem vorzuschreiben, wo und wie er zu arbeiten hat. Wir mussten uns aufs Ehrenwort verpflichten, dort zu wirken, wo man es für richtig hielt. So delegierte man mich nach dem Studium hierher und behauptete noch, es sei eine Auszeichnung. Es gab keine Alternative. Bei uns zu Haus hätte ich keine Stelle gefunden, nicht finden dürfen. So ist das nun mal. Und so bin ich eben hier gelandet, wenngleich mir im Herzen meine Berge fehlen und diese flache Unendlichkeit langweilt.“

„Diese Unendlichkeit besitzt auch ihren Zauber“, meinte Reinhard. „Ich kann daran nichts Hässliches finden. Mein Name ist übrigens Reinhard, Reinhard Zander.“

Sie nickte. „Und ich heiße Annelie Hübner. „Ich kann mir nicht helfen, in dieser endlosen Gleichförmigkeit von Land und Leuten, in dieser Einsamkeit finde ich keinen Halt, nur endlose Sehnsucht. – Sie kommen auch aus Sachsen?“

„Nördliches Vogtland“, warf Reinhard hin. „Sie sind also schon länger hier?“

„Im zweiten Jahr. Zwei Jahre muss ich mindestens noch büßen. Die glauben, dann werden wir uns schon eingewöhnt haben, sesshaft und eingebürgert sein.“

„Diese Zeit wird schnell vergehen.“

„Ich kann es nicht glauben.“

„Bin schon im Bilde. Aber es gibt auch Tage, die man nie vergessen wird. Darf ich den gestrigen, den heutigen dazu zählen?“

„Schmeichler!“, sagte Annelie und das Lächeln der Mona Lisa kehrte auf ihre Lippen zurück. „Deren werden, Herr Zander, unverhältnismäßig wenige sein!“, fügte sie spöttisch hinzu.

Er konnte ein Grienen nicht verbergen. „Entschuldigen Sie“, erwiderte er. „Jetzt glaube ich wenigstens zu wissen, dass Sie nicht verheiratet sind!“

„Gewitzt! Gewitzt!“, meinte sie nur und lachte.

„Finden Sie denn gar keine Freunde hier, keinen Anhang?“

„Wissen Sie“, erwiderte sie ernst, „ich könnte wohl ein Dutzend Bekannte hier haben; Geliebte, Verehrer, andere Laffen, wenn Sie meinen, – und ich will nicht mal in Abrede stellen, dass sie sich mir gegenüber nicht nobel verhielten –, aber dies allein kann es doch nicht sein. Manche Leute sind liebenswürdig, gewiss, noch nie jedoch habe ich jemanden geistvoll gefunden! – Verstehen Sie mich nicht falsch: Hohe Ansprüche stelle ich keineswegs. Doch die Bedürfnisse hier erweisen sich in der Regel als zu karg und niemand möchte Grenzen überschreiten, jeder möchte ewig so weiterleben. Gewohnheit ist zum Wohlfühlen … Was die Mädchen, die jungen Frauen angeht, für diese trifft dies erst recht zu. Nein, Sie brauchen mir nichts einzureden!“

„Und eine Freundin haben Sie nicht?“

„Nein, keine Freundin.“

Er seufzte. „So sind Sie also von allen guten Geistern verlassen!“

Sie schaute ihm verschmitzt in die Augen und lachte. „So kann man es auch sehen.“

„Ach was!“, beschwichtigte er. „Sie sind mit Ihren Gefühlen gewiss nicht allein! Ich muss allerdings gestehen, dass mich gestern ähnliche Gedanken quälten.“

„Sehen Sie!“

„Auch mich lässt diese Atmosphäre hier verstummen, wenn man dies in zwei Worten sagen darf. Gestern fand ich es bedrückend. Doch das Gewitter reinigte gewissermaßen. Sie auch? Man soll jeder Seite des Lebens auch etwas Gutes abgewinnen.“

„Werden sie nicht moralisch!“, warf sie ihm vor. „Sie haben gut reden! Sie verlassen diesen lottrigen Fleck in absehbarer Zeit. Ich aber sehe nur Trümmer vor mir.“

„Mag sein“, fügte er mit traurigem Unterton hinzu. „In vier Tagen ist es so weit.“

Sie hielt erschrocken die Hand vors Herz und versuchte dann, sich gleichmütig zu geben. „In einigen Tagen schon?“

Es entfuhr ihr unwillkürlich heftig. Sie setzte an, etwas Besänftigendes hinzuzufügen, etwas Gleichgültiges, doch dann zauderte sie und starrte verbissen auf den Staub des Weges. Vier Tage! Das machte sie betroffen, wenngleich sie diesen jungen Mann noch gar nicht recht kannte, wenngleich sie mit ihren Gefühlen rang. Es schien, als vermisste sie schon etwas, was ihr noch gar nicht gehörte. Nur vier Tage! Mit Bitternis trauerte sie zumindest der hoffnungsvollen Abwechslung nach, die sich vor ihr eröffnet hatte. Sollte alles ins Nichts zerfließen, alles, von dem sie nicht einmal sicher wusste, was es war?

Sie musterte ihn nun unverhohlen und entdeckte, wie unter ihrem Blick eine verlegene Röte empor flammte. Doch sie war geschickt genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Geraume Zeit verstrich, in der sie ihre so plötzlich verworrenen Gedanken und Gefühle zu ordnen versuchte. Sie ließ auch ihm Zeit. Sie liefen schweigsam nebeneinander her. Doch wohin verschwand plötzlich ihr verwirrendes Lächeln? Weshalb erzählte sie nicht weiter? Aber: Fand er selbst denn Worte? Diese mageren vier Tage hatten sie zweifellos enttäuscht.

Konnte er es ändern?

Als der Weg sich gabelte, wies sie mit dem Kopf nach rechts. In naher Entfernung tauchte ein anderer, kleinerer Hain am Rande des Weges auf. Plötzlich klammerte sie sich an den Gedanken, diesen ganzen Nachmittag unbedingt mit ihm allein verbringen zu wollen. Und sie betrachtete ihn sogleich mit geradezu vernarrter Neugier – ohne ihr Lächeln, denn sie wusste nicht, wie beginnen, wie enden. Sie mochte nur genießen.

Er schaute sie an und eine tiefe Glut stieg aus seinem Inneren, da auch ihm nun die entsetzliche Kürze dieser vier Tage bewusst wurde. Sein Blick hing an ihrem üppigen Haarschopf, dem schwanenhaften Hals, der quellenden Brust und den properen Hüften im blauen Kleid. Nein, nicht nur ihre Stimme war ihm vertraut geworden, vielmehr verzehrte sich sein ganzer Körper nach diesem unbeschreiblich bezaubernden Wesen. Hatte er beim ersten Blick ihr Antlitz als nüchtern empfunden, so verschmolz es jetzt zu tiefverklärter weiblicher Anmut. Und ach, ihr immer neu erstehendes Lächeln!

Sie reute es also nicht, mit ihm allein zu sein!

„Ja, leider nunmehr“, seufzte er nach minutenlanger Pause. „Am Donnerstag ist mein letzter Tag hier.“

Beharrlich schwieg sie; biss sich die Lippen.

„Danach geht es zum Ernteeinsatz. Vielleicht.“

„Ach?“ sagte sie.

Diese Sache schien nicht ganz sicher. Zwar fuhr jedes Jahr mindestens die halbe Studentenschaft gen Norden in die Ernte, aber meist fielen die niederen und höheren Semester aus. – Die niederen, weil sie ihren verkürzten „Ehrendienst“ in der „Nationalen Volksarmee“ über sich ergehen lassen mussten. Darüber war er schon längst hinaus. – Die höheren Semester zum Teil, da sie verlängerte Praktika in Anspruch nahmen, sich auf die Diplomarbeit vorbereiteten oder anderweitig eingesetzt wurden. Reinhard hatte das achte Semester absolviert; er stand vor der Diplomarbeit. Was ihn in der nächsten Woche in Freiberg erwartete, das wusste er zuverlässig nun auch nicht.

„Ebenso könnten wir …“, stotterte er. „Wir beginnen nun das letzte Studienjahr. Es ist daher durchaus möglich … Wenn ich eins und eins zusammenzähle …“ Er sah verstohlen auf ihr Profil, das mühsam verbarg, was eigentlich in ihr vorging. Betroffen warf er hin: „Ich langweile Sie gewiss.“

Sie schreckte aus Gedanken hoch. „Ganz und gar nicht“, beeilte sie sich zu versichern. Und damit schien es ihr sogar ernst zu sein. Sie schaute ihm wieder für Augenblicke in die Augen, lange genug, dass der Blick verräterisch hängen blieb. „Oh, nein. Entschuldigen Sie! Erzählen Sie! Erzählen Sie, was das Zeug hält! Ich bin so froh, jemandem zuhören zu dürfen.“

Er horchte auf. Es fiel ihm plötzlich schwer, von gewöhnlichen Dingen zu sprechen, von profanen Dingen. Qualvoll spürte er die Last dieser Augenblicke. Verlangte sie mehr von ihm, als er geben konnte? Aber je flüssiger er jetzt von Wort zu Wort eilte, je bestimmter wuchs auch sein Mut zur Ungezwungenheit. Er fühlte sich gleichermaßen dazu bewogen, sprach sie das erste Mal mit ihrem Vornahmen an, wenngleich sie noch immer zögerte. Er sprach beflissen über dieses Praktikum, sein Studium, über sein Zuhause. Und sie hörte schweigend zu. Aber ob sie auch alles dies aufnahm? Wenn er einen Anflug von Humor, von Heiterkeit wagte, schien sie nicht sehr erbaut. Ihre Augen blieben starr geradeaus gerichtet; nur ab und an streiften sie seinen Mund, seine Stirn mit einem gleichsam verschleierten Blick. Als sie spürte, dass er zu Ende kommen wollte, nahm sie gleichsam das Gespräch von seinen Lippen und schilderte nunmehr aus ihrer Sicht, wie sie es hierher verschlagen hatte und wie der Sehnsucht nach der Heimat, nach der sie sich so sehr aus dieser Einsamkeit hinweg verzehrte, ihrem Leben einen tieferen Sinn gab. Aber auch über Freuden und Sorgen sprach sie und über die Kinder des Dorfes, die ihr mehr und mehr ans Herz wuchsen. Dann leuchteten zuweilen auch ihre Augen und ihre Stimme erwärmte sich.

Sie waren weit gegangen. Der Weg schlug einen ausufernden Bogen und näherte sich fast unwillig einem lieblichen Waldstück, das etwas mehr Kühle versprach. In der Ferne leuchteten Dächer, von denen er im Augenblick nicht einmal wusste, ob sie ihrem Dorfe zugehörten. So sehr hatten sie sich in ihren Spaziergang vertieft! Nirgendwo an diesem heißen Sonntagnachmittag ein Wesen! Weitab aller menschlichen Weltlichkeit liefen sie beide nebeneinander her, eine volle Stunde wohl schon.

Erheitert warf er ihr vor: „Sie verführen mich, Annelie! Wenn Sie mich fragen, wo wir uns befinden, muss ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben.“

„Habe ich Sie so lange beschwatzt, dass Ihre Aufmerksamkeit darunter leidet?“

„Oh nein, nein!“

„Nun gut“, sagte sie schelmisch. „Ich glaube zu wissen, wohin uns unsere Unaufmerksamkeit verschlagen hat. Keine Bange! Wenn Sie also wollen, Reinhard … Der Weg ins Dorf ist allerdings nicht der nächste. Entschuldigung, ich habe tatsächlich nicht darauf geachtet.“

„Um so besser“, versicherte er. „Mir ist heute kein Weg zu lang.“ Sie fixierte ihn mit einem schrägen Blick. „Dieses Dorf da“, vermutete er mit spitzer Ironie, „kann mithin also nicht das Unsrige sein?“

„Nein, ist es nicht, mein Herr.“

„Durchaus nicht schade“, meinte er. „Nicht schade für unsere gleichgesinnten Seelen!“

„Welche Bücher lesen Sie nur!“, rief sie in einem Anflug von Spott. „Sie sollten an Ihrem manierierten Stil feilen.“ Annelie warf den Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. Die Plötzlichkeit dieses Ausbruchs erschreckte ihn. Sie verhielt auf der Stelle, befürchtete, ihr Lachen stünde ihr übel an oder verstimme ihn zumindest.

Der Hain kam näher. Schon spürte man in seinem Schatten einen Hauch von Frische. Wieder winkten die Erlen und am Rande eine Reihe hochgewachsener Birken. Das Gras dort war trocken und lag in glänzenden Wellen über der dürstenden Erde. Der Platz lud ein zum Verweilen.

„Meinen Sie nicht, wir sollten uns etwas ausruhen?“, wagte er sich vor. „Den Heimweg werden wir vor der Dämmerung doch sicher bewältigen?“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich meine auch, meine Füße sind etwas überfordert.“

Sie ließ sich zwischen zwei Birken im Grase nieder, noch bevor Reinhard überhaupt nach einem geeigneten Flecken Ausschau halten konnte. Er sah ihre weißen Zähne aufblitzen, als er sich neben sie hockte.

„Die Ruhe hier ist köstlich“, meinte Annelie und ließ den Blick in der Runde schweifen. Genüsslich sog sie die duftende Luft in ihre Lunge. „Man muss sie ständig tief einatmen, man muss es.“ Sie stützte ihren rücklings geneigten Körper mit ihren Unterarmen und ließ ihren Blick einen rissigen Birkenstamm empor wandern, der neben ihnen in den Himmel schoss. Leicht hob und senkte sich die Brust unter dem luftigen blauen Kleid. Sekunden später verharrte sie mit geschlossenen Augen.

„Als ich hierher kam, war ich voller Illusionen“, begann sie unvermittelt.

Doch er legte den Finger auf ihre Lippen, so dass sie die Augen erstaunt aufschlug. Doch schon hatte er sich wieder zurückgezogen. Er mochte nicht, dass sie die alten Unleidlichkeiten aufwärmte.

„Als ich hierher kam“, wiederholte er deshalb bestimmt, um ihr zuvorzukommen. „Als ich hierher kam, glaubte auch ich nicht, in dieser Landschaft, unter diesen Menschen etwas Reizvolles zu finden. Als ich hierher kam, glaubte ich nicht, ein Mädchen zu entdecken, das mich so verwirren würde …“

Sie sah ihn schelmisch an. „Ist das so schlimm?“

„Wollen Sie mich vergrämen? – Entschuldigen Sie meinen hausbackenen Stil. Die Sehnsucht …“

„Die Sehnsucht, die Sehnsucht!“ Annelie rümpfte die Nase. „Freilich: Die Sehnsucht!“

„Ach lassen Sie doch!“, meinte er etwas bedrückt. „Wenn ich die kleinen Haine und Wäldchen sehe, die Felder, die unser künftiges Brot tragen, diese mächtigen Bäume hier, die in den Himmel wachsen … Wie kann man da ohne Gefühl und Andacht vorübergehen. Diese wispernde Romantik, ja Romantik, kann uns niemand nehmen. Niemand darf dies lächerlich finden. Glauben Sie nicht, Annelie … Meinen Sie nicht, dass uns eines Tages die Schritte zurückkehren lassen? Vielleicht, weil wir denken, etwas verloren zu haben? Dann werden wir um jede Stunde barmen, die wir vertrauert haben!“

Sie wandte sich seinem Gesicht mit vollem Blick zu. Waren dies nicht auch Dinge und Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen? Was geschah in dieser Stunde? Was fand sie an diesem jungen Mann so anders? Was fesselte sie? Im Innern wuchs schon das Bedauern, dass dieser Tag bald ein Ende haben würde. Taumel in ein erwachendes Glück? Sie erwartete von seiner Nähe unendlichen Trost. Sie wollte ihn umarmen, ihn ausforschen, geistig fordern, mit ihm streiten, ihn erregen, weil sie das alles selbst auch von ihm zu erfahren hoffte. Sein Antlitz – ihr Spiegel! Dass sie ihn zu hoch bemessen könne, daran dachte sie nie und nimmer.

„Sie möchten wohl nicht, dass ich spreche?“, flüsterte sie.

Reinhard schüttelte den Kopf. Er spürte, wie unmöglich es war, ihr irgendwelche Zügel anzulegen, Vorschriften zu machen, selbstbewusst wie sie war. Und vielleicht mochte es tatsächlich angenehmer und vernünftiger sein, sich den Kummer von der Seele zu reden. Weshalb sollte er nicht zuhören? Warum aber hatte sie ausgerechnet ihn dazu erkoren, niemand anderen? Befangen von ungewissen Gefühlen ließ er sich ins Gras fallen. Sie sah zu ihm hinab, schamhaft lächelnd. Dieses plötzliche Zutrauen, ja, das verwirrte ihn. Schon lehnte sie sich, auf den Ellenbogen gestützt, neben ihn. Es schien ihnen beiden, als kennten sie sich nicht nur diese Sonntagsstunde lang, sondern schon ein ganzes Leben – ohne sich je begegnet zu sein. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und begann zu sprechen:

„Du ahnst nicht, wie ich mich fühle, wie ich mich langweile! Ach, diese geistige, geisterhafte Verlassenheit zehrt an meiner Seele! Kein Buch, keine Zeile hilft mir darüber hinweg. Es bekümmert mich, wenn ich als Lebendige das Leben nicht spüre! Ja, als ich hier eintraf, war ich noch voller Illusionen, voller Enthusiasmus, voller Hoffnungen. Eingebildetes Wissen, hochgezüchteter Tatendrang barsten förmlich in mir. Besser konnten Partei und Regierung es nicht wünschen! Doch welche Enttäuschung! Nach wenigen Tagen bereits begann ich, mir die Hörner einzurennen. Nichts mehr von ekstatischem Eifer, nichts von romantischem Pflichtbewusstsein, das mich hätte erfüllen sollen, nichts von revolutionärem Kampf gegen Relikte von gestern. Der sogenannte ‚Klassenfeind‘ nagte in mir selber. Wahrlich besessen war ich. Wollte aufräumen! Doch was, in aller Herren Länder, sollte ich aufräumen? Jahrhundertlange Tradition? Ein Erbe ist nicht rigoros beiseite zu schieben! Ich fühlte mich, ich weiß nicht wodurch, eines Besseren belehrt. Zu Recht.“ Annelie riss einen Grashalm aus und warf ihn verärgert von sich. „Der Tag, an dem ich anreiste, steht noch heute unauslöschlich vor meiner Seele. Man reichte mir den Koffer vom Hänger des Traktors, der mich vom Bahnhof abholte. Der Mann da vorn auf dem Fahrersitz sprach kein Wort. Es war die Hölle. Es regnete in Strömen. Der Motor dröhnte.

In der Folge: keine Freundin, kein Gleichgesinnter, nur unendliche Einsamkeit! Verraucht all die guten Vorsätze, im Keime erstickt! Aber es regte sich ja gar kein Keim! Welch ungeheuerliche Veränderung, mit der ich zu kämpfen hatte! Hie Idealismus – dort Realismus. Nach dem ersten Elternabend lag ich am Boden zerschmettert und hatte das Dorf gegen mich. Ich schlief zwei Nächte lang kaum. Der einzige Kollege hier stand kurz vor der Rente. Er wollte mir wohl nicht helfen oder konnte nicht und ließ sich krankschreiben. Der liebe Herr Bürgermeister versprach mir salbungsvoll jede Unterstützung, doch bei den ersten Worten des Feldbaubrigadiers, der sich über mich beklagte und forderte, dass sein Sohn, statt den Wandertag zu genießen, für die Ernte zur Hand gehen sollte, dieser Bürgermeister fiel um vor den Leuten wie ein gehauener Maisstängel! Das Fazit: Ich solle gefälligst die Kinder das ABC lehren und sonst nichts.“

„Und heute?“, fragte Reinhard. „Wie sieht es heute aus? Nach einem Jahr?“

„Nun ja, man hat sich kennen gelernt, Federn gelassen. Der Bürgermeister, freilich, besitzt noch immer kein Rückrat. Und für viele bin ich noch immer die böse, staatlich gelenkte Fee aus dem fremden Süden. Gewiss, ich war ein unreifes Ding, so manche Nacht hab ich geheult wie ein Schlosshund und bin dann mit geröteten Augen vor die Kinder getreten. Sie haben mich gequält und gegängelt, aber endlich, nachdem ich schon zerstört am Boden lag, hat sich der alte Lehrer doch meiner erbarmt und stellte sich mir zur Seite. Was ich am Institut gelernt habe, ist inzwischen fast völlig verflogen, war für die Katz. Meine Kinder aber bedeuten mir heute alles. Allein sie machen mir das Leben erträglich. An ihnen erkenne ich mich und meine Aufgabe!“

„Na siehst du! Geduld und Bedacht!“

„Phrasen! Na schön! Auch schon gehört, wie? – Freilich, durch Teilerfolge fühlt man sich neuerdings bestätigt, aber wo ist das Lebensmilieu, wo Lebenskultur, der Lebensraum, alles das, was du selbst brauchst? Ich habe hier nichts davon gefunden, leider. Ich habe hier niemanden gefunden. Und dies lässt meine Seele kränkeln, lässt sie von Tag zu Tag mehr verkümmern. Ach! Es kann mir keiner die Frage danach verbieten, welcher Mensch ich wohl sein werde, wenn ich zwanzig Jahre lang hier versauern müsste – oder mein ganzes Leben lang. Dann bin ich ein Kümmerling. Dann bin ich ein Nichts, ein mechanisch optimiertes, aber leeres Nichts, ein seelisches Nichts. Wenn sich meine Bedürfnisse und Sehnsüchte im Unendlichen verlieren, bin ich tot!“ Er antwortete nicht, zweifelnd, ob sie im Recht sei. Mit Klagen allein schien es ihm nicht getan. Oder fehlte ihm nur ihre Erfahrung, dies einzuschätzen? Er war noch nicht in den Pool dieser gesellschaftlichen Suppe geworfen worden. „Du willst mich trösten?“, fuhr sie fort. „Gut so; doch bedenke, du hast in jenen drei Wochen hier nicht jenen Eindruck gewinnen können, der mich nun schon ein Jahr lang quält. Und ich komme nicht los davon! Nicht am Donnerstag, nicht in einem Jahr! Was ich vergessen habe, ist erschreckend genug. Kein Theater, kein Konzert; ein Film pro Woche – und welch ein Film! – Aber was ereifere ich mich! – Ach, lassen wir das!“ Sie unterbrach sich, sah mit wässrigen Augen in die Ferne. „Die Menschen hier sind so unnahbar. Und eben darum verbittert mich die freche Aufdringlichkeit dieser Bauernsöhne. Tag für Tag“, klagte sie. „Doch wozu diese Anwandlungen! Schade um die schönen Stunden.“

„Der Tag ist lang“, widersprach Reinhard, „so lang, wie wir ihn wünschen.“

„Ja“, sagte sie mit leiser Enttäuschung.

Sie maß ihn mit einem schätzenden Blick. War er groß genug für sie? Trug er keinen Mittelscheitel? Standen seine Ohren auch nicht zu weit ab? Gewiss wog er seine hundertfünfzig Pfund. Dafür war er hochgewachsen und schlank! Und sein Blick, verdammt, dieser Blick konnte sie so heillos verwirren. Bemerkte sie all das erst jetzt? Wo, zum Teufel, hatte sie bisher ihre Augen gehabt? Vielleicht aber nutzte auch er nur die Stunde, missbrauchte ihre Vertrauensseligkeit? Abgefeimter Bube! Allerdings, hatte er nicht in anderem Tone mit ihr gesprochen, mit anderen Worten? Es tat so wohl, erwärmte sie, seiner sanften Stimme zuzuhören. Ein Hallodri? Dann hätte seine Stirn wohl kaum dieses verräterische Rot überzogen. Und sie redete sich ein, er besäße sehr wohl das Recht, sie mit zurückhaltenden Worten zurechtzuweisen. Nun, war es wie es war! Sie plauderte sich die Seele gesund und allein das empfand sie als Balsam genug. Ein Mensch, der ihr zuhörte, einer, der sie auch zu verstehen suchte!

Dieser Mensch war keine Fiktion. Dieser Mensch saß neben ihr im Grase und musterte sie. Musste sie ihm nun auch zuhören? Wollte sie das überhaupt? Was blieb von diesem Nachmittag, wenn man sich gegenseitig mit Wehleidigkeiten überschüttete?

„Und dieser Nachmittag reut dich tatsächlich nicht?“, fragte sie.

„Keineswegs“, beteuerte er heftig. „Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können.“

„Ich empfinde es wie ein Gefängnis“, fuhr sie fort. „Glaube mir, es ist wie ein Gefängnis! Und ich hätte heute Freigang. Dann müsste ich wieder zurück in die Dunkelheit und alles wäre vergessen. Lediglich ein schöner Traum … Nur Briefe sind dann noch das Band der Hoffnung.“

„Die Eltern?“, fragte er.

Sie schaute ihn missbilligend an, schüttelte den Kopf. „Nein, nur Gleichgesinnte, Gleichbestallte“, sagte sie.

„Gleichgesinnte?“

„Menschen wie du und ich, Seelen wie ich und du …“

Obwohl sie dies gleichmütig dahingesagt hatte, spürte er sehr wohl den verzagten Unterton. Sie ließ ihre Hand neben die seine sinken. Reinhard betrachtete ihre langen, gepflegten, jedoch schmucklosen Finger. Sie ruhten so nah, dass er ihre verschwenderische Wärme zu spüren vermeinte. Er vermochte nicht zu erkennen, ob Absicht, ob Annäherung hinter dieser Geste lag. Nein, so wie es jetzt aus ihr herausbrach, immer noch herausbrach, konnte sie kaum an Verführung denken. Zu sehr sah er ihre Seele beschäftigt, mit sich selbst und mit ihm, der er ihr zuhörte.

„Allerdings“, schloss sie ihre anders laufenden Gedanken, „allerdings bin ich wohl in diesem Jahr gereift. Insofern hat es mir einiges gegeben, ist es nicht nutzlos gewesen.“ Und wieder ließ sie den sehnsüchtigen Blick in die Weite schweifen.

Er riss sich los von diesem Anblick. „Siehst du“, sagte er. „Was hast du nicht alles schon gewonnen! Warum solltest du verzagen? Es wird sich auszahlen, glaube mir.“

„Wer zahlt es mir aus? Dieser Staat?“, fragte sie. „Er behandelt mich wie ein Zugtier, das seinem Hüh und Hott zu folgen hat!“

Er war über die Maßen erstaunt von der Offenheit, mit der sie sich ihm, einem unbeschriebenen Fremden, so bedingungslos anvertraute. Von einer Lehrerin hätte er mehr Loyalität ihrem Staate gegenüber erwartet. Diese beispiellose Widersetzlichkeit aber erstaunte ihn. „Nichts ist verloren!“, beschwor er sie. „Nicht in zwei Jahren. Selbst wenn es deine Jugendjahre sind, sie können nicht verloren sein. Und du wirst aus dieser Zeit mit erhobenem Kopf und gestärktem Willen hervorgehen! Du wirst Wahrheiten lernen und begreifen.“

Annelie schaute ihn unverhohlen misstrauisch an. Sollte sie sich so getäuscht haben? Solche Phrasen! Solche Allgemeinplätze! Hätte sie ihre Worte, ihren berechtigten Ärger besser bemänteln sollen? „Ja, wir werden wohl sehen müssen …“, sagte sie enttäuscht. „Ach, lassen wir das. Es bringt uns nicht weiter.“

„Sollen wir darüber schweigen?“

„Das nun auch nicht gerade!“, erwiderte sie schnell und warf sich rücklings ins Gras. „Ach, lassen wir das!“

„Ich glaube an die Kraft der Überwindung.“, meinte er.

‚Aber ich allein …‘ Sie sprach es nicht aus, hatte plötzlich Angst davor, Angst, etwas zu zerstören, Angst vielleicht auch, ihm zu schnell nahe zu kommen. Und wie das Dorf sich darüber das Maul zerriss, daran mochte sie erst recht nicht denken.

„Es ist alles halb so schlimm, wenn man es mit den Augen der Hoffnung sieht.“

Darin gab sie ihm wohl Recht. Aber woher diese Hoffnung nehmen? Diese unendliche Weite hier verleitete zu einer Sehnsucht, die nirgendwo ein Ende fand. Annelies Blick folgte dem schwirrenden Flug einer Lerche; sie dachte an „Romeo und Julia“ und lauschte dem unbekümmerten Zwitschern nach. Dieser Vogel trällerte hier, er trällerte in ihrer unmittelbaren Heimat. Zu jeder Zeit, an jedem Ort trällerte er unbekümmert. Sie lehnte sich noch mehr ins Gras zurück, verschränkte die Hände hinter dem Haarschopf und atmete heftig, als müsse dieses Tirilieren und Seufzen auch ihre eigene Brust verlassen. Der Blick tastete den rissigen Birkenstamm empor, verfing sich in den quirligen Blättern, die zwischen den Sonnenstrahlen tanzten. Sie sah nicht zu Reinhard hin, sie wollte sich selbst entspannen.

„Herrliche Luft!“, sagte sie. „Herrlich klare Luft!“

„Ja“, erwiderte er. „Tausendmal ja. Wo genießt man das schon heutzutage.“

Und endlich gab er sich einen Ruck, stützte sich auf den Ellenbogen und betrachtete unverfroren lange ihr Gesicht, ihre Augen mit dieser unendlichen Tiefe. Gespannte Ruhe, ganz Besinnlichkeit. „Ist dir’s nicht leid um die Jugend hier, um die Kinder?“

„Warum, warum auf meine Kosten?“, forschte sie in seinem Gesicht; nein, nicht vorwurfsvoll. „Warum lässt man uns allein? Abgeschoben? Verdammt noch mal, wo ist die vorgegaukelte Unterstützung geblieben? Wo findest du Kultur? Unser Lebensglück bleibt auf der Strecke.“

„Wer sollte da besser Abhilfe schaffen als du selbst?“

„Ich überschätze mich nicht gern“, erwiderte sie indigniert.

„Auf Rosenblüten geht man wohl zur Hochzeit, danach muss jeder sich allein durch alle Dornen kämpfen.“ Ach, er hätte es lieber verschluckt. Aber sie sah ihn weder vorwurfsvoll noch spöttisch an. Sie nahm es so, wie er es gemeint haben musste. Verlegen presste er seine Lippen aufeinander.

„Du bist ein altkluger Mann“, sagte sie schließlich vorwurfsvoll.

„Verzeihst du mir? Du hast all diese Albernheiten zum ersten Mal, noch dazu von mir, gehört?“

Sie schaute ihn verschmitzt an und wälzte sich lachend an seine Seite, so dass sie sich immerfort anschauen konnten. „Allerdings!“, rief sie locker, um gleich darauf ihr vorwitziges Lachen einzufrieren. „Aber sind es wirklich Albernheiten?“ Ihre Augen wanderten plötzlich hin und her, suchten in seinen Pupillen nach Wahrhaftigkeit. „Es ist ein so irrsinnig weiter Weg.“

„Ach Annelie!“, seufzte er zum ersten Mal. „Vielleicht möchtest du nach zwei Jahren dieses Dorf gar nicht mehr missen. Vielleicht hast du übermorgen dieses Gespräch schon längst vergessen.“

„Übermorgen?“, fragte sie bestürzt und schaute über seine Schulter hinweg in die Ferne. ‚Vielleicht hat er Recht‘, dachte sie abermals. ‚Aber nein, nie wird er Recht haben! Mein empfindsames Leben! Ich will es ausleben! Die unerfreulichen Lebensstürme! Ich mag sie nicht. Sollte mein Herz aufgehen können in der Saat, die ich gesät habe? Wer, wenn nicht diese Kinder, wird hier neues Leben schaffen? Ihr Schicksal liegt in meiner Hand! In diesen Kindern wird die Zukunft liegen! Was, hingegen, bedeutet da schon meine egozentrische Zerrissenheit!‘ „Zerrissenheit!“, murmelte sie selbstvergessen.

„Zerrissenheit?“, fragte er nach. „Hast du denn keine Freude an deiner Arbeit?“

„Oh doch!“, seufzte sie. „Aber besteht das Leben allein darin?“

Er schwieg betroffen. „Für mich ist es nicht leichter“, versuchte er einen Neubeginn. Aber dann überkam ihn plötzlich der Eindruck, dass alles schon gesagt sei, dass Wiederholungen ermüdeten, ja sogar misslich aufreizten. Sie ahnte den Grund seines Stockens und war nahe daran, ihm plötzlich die Hand zu streicheln. Doch eine unnennbare Last hinderte sie, ihre Hand zu heben. Er selbst lehnte sich wieder zurück ins Gras, um zu schweigen oder endlich dem Gespräch eine andere, erfreulichere Wendung zu geben. Sie schien berührt von seiner Zurückhaltung, seiner rücksichtsvollen Befangenheit.

„Vielleicht hast du Recht“, gab sie dann leise zu. „Vielleicht.“

Und sie schwiegen beide wieder vor sich hin. Dennoch brachte es sie irgendwie näher zueinander. Seltsam. Es bedurfte keines Blickes, keines neuen Gedankens. Sie meinten beide, ihre Herzen klopfen zu hören, unvermittelt und erschreckend offen. Nahe beieinander. Noch immer jedoch lagen ihre Hände streng und eng nebeneinander. Wie ein Hitzewall legte sich ein Spalt trennender Nachmittagsluft dazwischen. Wer die seine bewegte, musste die andere treffen. Und Reinhard bewegte sie endlich; vergeblich suchte ihn eine Geisterhand davon abzuhalten. Er fühlte sich gefesselt und unwiderstehlich verlockt. Nichts hätte ihn von dieser Macht losreißen können. Leicht fühlte er ihr zartes Flair; ein fast unmerkliches Kribbeln durchlief ihren Körper bis hinauf zu den Schultern. Sie hob die Hand und strich sich unsicher durchs Haar, bevor sie den Arm gesittet fallen ließ. Doch ihre Finger berührten seine Hand nicht mehr. Nein, das nun mochte sie auch nicht! Oder doch? Und sie spürte und sah, wie ihr kleiner Finger unmittelbar neben seinem Handgelenk lag.

„Der Herbst wird schön werden“, murmelte sie lächelnd.

„Ja“, antwortete er zaghaft. „Wollen wir’s hoffen!“

„Ich spür es am Duft“, fuhr sie fort. „Du nicht?“

„Nein.“ Er war verwirrt.

Ihre Melancholie schien verflogen. Sie wandte sich ihm wieder vollen Blickes zu. „Ach, weißt du was“, sagte sie fröhlich. „Du magst immer Recht behalten, immer und ewig. Ich will all diese Widerwärtigkeiten ertragen, wenn nur, wenn nur …“ Sie war sich unschlüssig, ob sie sich erklären sollte. „Wenn nur dies Alleinsein nicht wäre! Ich sollte mich besinnen, Reinhard. Weißt du, eigentlich bin ich dir unendlich dankbar!“

„Wieso, wofür?“, fragte er erstaunt.

Sie setzte sich auf, seufzte, riss abermals einen Grashalm aus und verstummte. Nein, sie wollte keine Antwort geben; mochte er denken, was er wollte. Wenn sie sich bedankte … Er konnte doch nichts Schlechtes vermuten? Sie öffnete ihre Lippen, doch kein Wort drang daraus hervor. Ach ja, flieg, Traurigkeit, flieg hinweg! – Unfassbarer Gegensatz!

„Sollten wir nicht weiter …“, stotterte er.

Sie antwortete ihm noch immer nicht, ließ vielmehr den Blick durch den Rasen schweifen. Schon wollte er sich erheben.

„Die kleinen Käfer!“, murmelte sie und verhielt, im Grase sitzend. „Sie klettern den Halm rauf und runter, ohne ein glückliches Ende zu finden. Ich hab sie nie so vergnügt beobachtet.“

„Annelie …“, flüsterte er.

Nichts geschah. Sie schien ihn überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Noch immer träumten ihre Augen, tief im Reich der Halme. Heiß stieg eine Welle von Versuchung in ihm hoch; sie war kaum zu dämpfen. Er wollte sie nicht dämpfen. Die Welt taumelte vor seinem Antlitz und er schloss für Augenblicke die Augenlider. Als er sie öffnete, saß sie noch immer unbeweglich und schaute ihn nicht an. Seine Hand suchte Halt an der benachbarten Birke. An der rissigen Borke. Und seine Lippen bebten. Sie aber betrachtete ihn plötzlich wehmütig, verwundert, mit aufgerissenen Augen.

„Annelie!“

Hastig fasste er sie an den Schultern, als müsse er sie in die Wirklichkeit zurückschütteln. Doch um das Gleichgewicht wiederzufinden, blieb ihren Körpern nichts, als trunken ins Gras zurückzusinken. Seine Augen hingen über den ihren und suchten. Dann senkten sich seine Lippen und drückten ihren Mund. Zaghaft schob sie ihre Hände auf seinen Rücken, als wollte sie ihn nicht wieder von sich lassen. Der erste Augenblick süßen Erschauerns schien eine Ewigkeit anzudauern, ohnmächtig jeden Gedankens, versunken allein in einem unbeschreiblich betäubenden Gefühl, in dem die Welt ringsumher versank … Dann zwei fragende Blicke mit feuchtem Schimmer, ein abermals zögernder Mund und die endlose Umarmung. Versenken in Raum und Zeit. Seine Hände gruben sich tief in den dichten Schopf ihrer weichen, ihrer dichten braunschwarzen Haare. Immer fester umklammerten sie das zitternde Haupt.

Das Summen, der leichte Druck im Ohr verloren sich langsam. Annelie hielt ihre Hände leicht gegen seine Brust gelehnt; sie schaute versunken in seine graublaue Iris, still verharrend. Spielst du mit mir? Doch er bewegte sich kaum, gefesselt von den aufgebrochenen Gefühlen, erschrocken von der Veränderung um ihn her, das Wäldchen vergessend, das Gespräch, die düsteren Gedanken. Er wälzte sich vorsichtig zur Seite und blieb so nahe mit seinen Gedanken und seinem Körper, wie es irgend möglich war. Diese Überraschung überkam sie beide gleichermaßen unwiderstehlich, glückhaft, verwirrend. Wozu jetzt noch Erklärungen? Die Dinge erklärten sich selbst. Waren diese Küsse schon viel gewesen oder wenig? Verschwindendes oder die weite Welt? Wohin wendeten sich ihre Herzen, auch wenn das Glück der Stunde, dieser Minuten, unsterblich schien? Was kam nach diesem Schweigen? Sieg? Hoffnung? Oder versank alles bald in tiefer Vergessenheit?

Zwischen ihren Häuptern flimmerte die Spannung dieses Sommernachmittags. Wohin war all der Kontrast entschwunden? Endlich hob sie leicht den Kopf und setzte zum Sprechen an. Zögernd, den weiten Blick hinaus auf die Stoppelfelder gerichtet, die die Ferne goldgelb schillernd verließen. Ein Blick wie ein Abschied, wie gesättigte Verzweiflung. Annelies Lippen bewegten sich leicht.

„Ich habe noch keinen gefunden, der dieses Schicksal mit mir teilen wollte.“ Er sah sie an, lächelte, dann strich er ihr über das leicht zerzauste Haar. Seine Brust hob sich erleichtert aus der Starre. „Ich … Ich habe einen Ruf zu verlieren“, sagte sie, etwas ironisch.

„Ah!“, kam es über seine Lippen. Er schmunzelte fort, da er spürte, wie es auch sie überkam. Doch ihre Lunge flog, er spürt es, und ihre Brust bebte unter ihrem Atem. Dann sein Flüstern: „Ist es so schlimm, ihn an mich zu verlieren?“

Sie lachte nicht etwa; sie beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn erneut auf den Mund. Dann sog sie die linde Luft ein und schloss die Augen, sekundenlang, erleichtert. Sie genoss diesen Augenblick innerer Unruhe. Als er endlich ihren Kopf zwischen seine flachen Hände nahm, sah sie ihn mit neuer Klarheit an. Er zog den Mund an seine Lippen.

„Ist dir das genug?“

Sie umarmte ihn heftig. „Ich …“

Er legte ihr die Finger auf die Lippen. „Worte sagen so viel, so wenig. Wenn du es nicht spürst, ist alles umsonst. Wir werden noch genug Zeit haben, uns zu erforschen.“

„Ich liebe dich wie mein Leben!“, flüsterte sie verhalten. „Ich muss es einfach sagen, auch wenn du mich nicht hörst.“

„Ich höre dich, Annelie. Um mich her nur Jubel und Unbefangenheit!“

„Aber Reinhard, ich meinte … Du hast … Du bist vielleicht …“

„Nein, nein, ich sah dich das erste Mal und ohne daran zu denken. Es gibt niemanden, der mir ins Gewissen reden dürfte. Und wenn du das meinst: Ja, ich kenne dich! Kann man sich in einer Stunde tiefer kennen lernen?“

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den Ansatz seiner Haare. „Noch vermag ich es nicht so recht zu glauben. Noch immer schlägt mir das Herz, so stürmisch, so verzagt, in ängstlichem Takt.“

Sie küsste seine Stirn, als müsste sie ihre Empfindungen für immer dahinter versiegeln. Dann sprang er auf und zog sie mit einem Ruck empor. „Ach ja!“ Kräftig umspannte er sie mit den Armen und wirbelte sie im Kreise umher, dass sie den Boden unter den Füßen verlor.

Am Horizont verfärbte sich langsam die Sonne. Nur noch eine Handbreit trennte ihre Scheibe vom Erdkreis. Sie liefen eng umschlungen heimwärts, dem angestrahlten Osten entgegen, die Sonne im Rücken. Meilen hinweg hatte sie das gegenseitige Bestaunen geführt; es dämmerte langsam, als sie sich dem Dorfe näherten. Doch sie genossen die Zeit und schlenderten dahin. Wer konnte sie jetzt noch behelligen, wer fürchten lassen! Sie suchten, die kostbare Zeit zu nutzen.

Annelie schmiegte sich still an seine Schulter und er grub immer wieder seine Nase in ihr duftendes, nach Wiese duftendes Haar. Er musste sie küssen, wieder und wieder. Sein heißer Atem umstrich ihr erhitztes Gesicht. Der Knopf am Ansatz ihrer Bluse hatte sich gelöst; seine Hand jedoch war es nicht gewesen; sie hatte keine Absicht spüren lassen. Fiebriges Erschrecken befiel sie, als er es bemerkte, und ihre Augen ruhten ängstlich unter ihren Brauen. Noch war der vergangene Abend nicht aus ihren Gedanken verweht. Wie immer sie Reinhard vertraute: Wie würde er sich verhalten? Diese plötzliche Ängstlichkeit ließ sie verzweifeln. Zerstörte sich alles, was sie erträumt hatte? Entschied nun der Alltag zwischen Glück und Verzweiflung? Ahnte Reinhard denn nicht, dass er sie möglicherweise hinabstieß in Tiefen, die ihm nicht vorstellbar waren? Oder besaß er Willensstärke genug, einem solch verführerischen Ansinnen zu trotzen, es vielleicht gar nicht herbeizusehnen?

Heiß fühlte sie seinen Blick auf dieser Blöße brennen, dort, wo sich der Ansatz ihres Busens zeigte. Verschämt vermied sie, ihm ins Gesicht zu sehen. Aber sie tat es dennoch, tat es eine Ewigkeit lang. Er schien verwirrt, für einen Augenblick verlegen. Als sie ihre Augen senkte, griff er bereits nach ihrem Kragen und knöpfte ihn zu.

„Damit es dir nicht zu frisch wird!“, sagte er und wies auf die untergehende Sonne.

Sie flog ihm um den Hals, sekundenlang, minutenlang, so schien es, mit spürbarem Beben. Er sollte die Tränen nicht sehen.

„Aber Annelie“, flüsterte er. „Annelie, du hättest noch vier Tage Zeit, um mich zu prüfen, zu …“

„Brauche ich sie denn?“

„Noch vier erbärmliche Tage haben wir Zeit!“, wiederholte er traurig.

„Ach Reinhard! Muss ich dich stattdessen nun trösten? Sie sind nicht erbärmlich. Sie sind das Leben, unser Leben!“

Langsam schlenderten sie auf das Dorf zu. Die Konturen der Dächer zeichneten sich bereits hinter dem nächsten Feldrain ab. Er hielt ihren Kopf in seinen Händen und musterte jeden Winkel ihres Angesichts. „Ja, wer sollte sie uns auch stehlen!“, sagte er. „Wer sollte sie stehlen. Ich will jeden Tag bei dir sein, Annelie. Alle sollen es sehen, alle!“

Sie seufzte tief auf. „Ach, Reinhard, welch schönes Geschenk! Niemand wird mehr an mir verzweifeln dürfen. Die Welt ist tatsächlich klein, wenn man sie mit glücklichen Augen sieht! Überall Schönheit, Erhabenheit, Herrlichkeit.“

„Siehst du!“, meinte er lächelnd. „Man muss sich seines Anteils nur vergewissern.“

„Wenn du wegfährst – so traurig dies auch ist – werde ich ein ganz anderer Mensch sein. Glaub mir, der Gedanke an dich ist erhabener als jede Traurigkeit.“

„Was sollte ich sehnlicher wünschen als die Gewissheit, dass du mich niemals vermissen wirst.“

Die Sonne tauchte so schnell hinter den Horizont hinab, als wolle sie sich nach getaner Arbeit davonstehlen. Von Osten her schlich der Dämmer flach über das Land. Dort glänzte inzwischen der Mond in immer hellerem Schimmer. Noch zog sich der Weg scheinbar endlos zwischen den Feldern dahin. Ein angenehmer, erfrischender Wind begleitete sie in diesen Abend, in diese Nacht.

„Ich habe mächtigen Hunger.“

„Gehen wir auf mein Zimmer. Ich habe genug im Kühlschrank. Es reicht für uns beide“, sagte sie, glücklich, weitere Stunden Gemeinsamkeit gewonnen zu haben.

Von fern her tönte leise Tanzmusik. Sie wiegte leicht den Kopf im Rhythmus, nahm seine Arme und ließ sich führen – ein paar Drehungen nur auf dem holprigen Feldweg. Sie schien wie im Elfenreigen über die Erde zu schweben, so leicht wie ein Hauch. Verschwimmend. Die Töne verschmolzen zu sanft auf- und abschwellenden Melodien, die in ihren Gefühlen herantanzten. Mozart, Schubert vielleicht … Wirbelnder Lebensmut, Beethoven …

„Und was beginnen wir jetzt?“, fragte sie innehaltend.

„Als ob wir uns langweilen könnten!“, antwortete er vorwurfsvoll.

Der Weg beschrieb plötzlich eine Wendung und zog sich in weitem Bogen um ein Erlenwäldchen herum, wenigen Findlingen und kurzbeschürzten Hügeln weichend.

„Ich möchte noch nicht heim ins Dorf, Reinhard.“ Sie schmiegte sich an ihn, schien seinen Hunger vollkommen zu ignorieren.

Und? Wollte er denn? Er hatte dies lediglich so dahingeplappert. Wohl wahr, er verspürte leichten Hunger. Welcher Hunger aber quälte ihn mehr? Konnte es für diesen Abend überhaupt ein Ende geben? Noch war der Weg so weit bis Mitternacht! Fest drückte er ihre Schultern.

Dort, wo sich der Weg gabelte, Hügel und Steine, ein Stück Heide freiließ und den Feldern keinen Raum zugestand, dort fanden sie ein geeignetes Plätzchen, um sich ein letztes Mal niederzulassen. Durch die einzelnen, mächtigen Bäume, die dunkel gegen den Himmel starrten, strich auf- und abschwellendes Wispern. Sonst störte kein Laut die sonntägliche Abendstille. Sie plauderten lange und ausgiebig, auf dem Bauche liegend, auf dem Rücken, die Knie umspannt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie sprachen über ihren vergangenen Lebensweg, über das ferne Zuhause und vor allem über ihre gemeinsame Zukunft. Immer wieder aber blieben die Gedanken an diesen ersten Stunden hängen, dem schönsten aller Tage. Sie hatten die Erde wiedergefunden.

Die Nacht war unversehens hereingebrochen. Nun geleitete sie das bezaubernde Licht des Mondes. Als sie – allen Hunger vergessend – spät vor Mitternacht im Dorfe eintrafen, war es ruhig um sie her, unbegreiflich still. Im Hause brannte noch Licht.

„Sie werden sich Sorgen machen.“

„Siehst du!“, flüsterte er.

„Ich werde dich vorstellen, um jedem Geschwätz vorzubeugen!“ Sie sagte es mit Bestimmtheit, aber er fühlte: Irgendwie war es doch auch eine Frage.

„Natürlich“, beteuerte er. „Es wird das Beste sein.“

Sie liefen schnellen Schrittes durch den Vorgarten der Haustür zu. Ihre Finger zitterten, sie konnte den Schlüssel nicht finden. Dann endlich hatte sie ihn aus dem Brustbeutelchen herausgeklaubt. Vernehmlich zog sie, um sicher gehört zu werden, die Tür hinter sich zu..

„Ja“, sagte jemand, als sie zögerlich an der Tür klopfte. „Ja? Herein.“

Annelie öffnete die Tür. Der Bauer stand vor ihr, musterte sie schweigend, musterte den jungen Mann.

„Entschuldigen Sie“, flüsterte Annelie, „entschuldigen Sie, dass ich erst so spät zurückgekommen bin, ohne etwas zu sagen. Das hier ist Reinhard, ein Freund …“ Sie zögerte einen Augenblick. „… Mein Freund“, ergänzte sie dann tapfer.

Der ältliche Mann musterte ihn, als müsse er sich erinnern, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber er nickte nur.

„Er wird mal kurz mit nach oben kommen. Wir möchten noch was essen.“ Wieder nickte der Alte. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht“, erwiderte der Alte und schloss vorsichtig die Tür.

Annelie zog Reinhard die Stufen empor und am Ende des Ganges öffnete sie ihr Kämmerchen. Gemütlich eingerichtet, sagte er sich, genauso hatte Reinhard es sich vorgestellt. Sie hieß ihn sich setzen und bereitete aus dem Wenigen, das noch bis morgen reichen musste, ein köstliches Nachtmahl. Sie saßen und klönten noch, bis die Uhr zwei schlug. Dann kam die erste Stunde des Abschieds und sie geleitete ihn zur Gartentür.

„Wir werden uns morgen sehen“, sagte sie entschieden und musste plötzlich kichern. „Nein heute schon! Erschweren wir uns nicht den Abschied! Umso schöner wird unser Wiedersehen sein!“

„Auch wenn es regnet?“

„Verdammt noch mal: Und wenn es schneien sollte!“ Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Jeden Tag!“, sagte sie; schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und lief leichtfüßig zur Haustür zurück.

„Gute Nacht, Liebes.“

„Gute Nacht!“

Zögernd blieb er am Tor stehen, bis sie vollständig im Hause verschwand und der Schlüssel im Schloss knirschte. Er konnte nicht mehr sehen, wie sie sekundenlang die heiße Stirn an den eichenen Pfosten lehnte.

Sie trafen sich jeden Nachmittag und verbrachten die restlichen Stunden der Abende in ausgedehnten Spaziergängen. Am Mittwoch jedoch regnete es. Der Platz unterm Regenschirm hielt nicht lange vor, beide wurden sie ordentlich nass. Obgleich sie nun schon überall zusammen gesehen worden waren – am Dienstag sogar von jenem Burschen, der zum Anlass ihres Kennenlernens geworden war („da hättest du doch was sagen können, Kumpel! Hätt’ meine Finger von der gelassen. Nischt für ungut!“) – obzwar man also fast überall ihre Liaison zur Kenntnis nahm, da trauten sie sich nicht so recht wieder in Annelies Kammer. Sie mochte fürchten, dass die Bäuerin missgünstig reagierte. Schließlich hatte die das Sagen im Haus.

Aber die Wirtin musterte Reinhard nur von oben herab und sagte dann, etwas enttäuscht: „Na ja. Denn is wohl endlich Ruhe, wat!“ Spornstreichs kehrte sie mit schlurfenden Schritten zurück in die Küche, als habe sich damit die Angelegenheit endlich erledigt. Annelie konnte sicher sein, dass die mütterliche alte Frau nunmehr ein waches Auge auf ihre Unantastbarkeit warf.

Die Stunden dieses letzten Abends, bei leiser Musik und einem bescheidenen Diner, würden sie beide wohl nie vergessen! Seltsamerweise trübte keinerlei Traurigkeit über den bevorstehenden Abschied das innige Beisammensein. So sehr waren sie sich sicher, dass diese Trennung nur eine scheinbare Trennung sein konnte. Eines nicht zu fernen Tages würde Reinhard wiederkehren – spätestens im Oktober. Oder sie besuchte ihn zu Hause … Oder noch besser: In Freiberg. Wozu also sollten Tränen fließen? Man wollte glücklich sein, überschäumend, froh und freudig! Festhalten, diesen Augenblick der Glückseligkeit, nur festhalten! Die Ernte dieser Tage reichte hin bis in die Unendlichkeit!

„Denke immer an mich, wenn dich Missmut überkommen sollte!“, sagte er.

Am zeitigen Nachmittag des nächsten Tages stand er, alle Formalitäten im Büro des Messtrupps schon längst erledigt und den Bericht über sein Praktikum in der Tasche, eine gute halbe Stunde zu früh vor ihrem Tor. Sie wollten sich nicht vor aller Welt verabschieden, sie wollten die letzten gemeinsamen Augenblicke für sich allein sein. In einer Stunde würde er mit dem Mannschaftswagen und allen Kumpel, die über die Heimfahrt den Ort für vier Tage verließen, in die nächste Stadt fahren, um dort den nächsten Zug zu nehmen. Sie hatte eben die Schulstunden vorzeitig beendet und rannte, da sie ihn den mergligen Weg zu ihrem Gehöft entgegeneilen sah, stehenden Fußes in seine Arme. Dankbar versenkte sie ihren Blick in seine Augen, da er die Zeit gefunden hatte, eine halbe Stunde, vielleicht etwas mehr, mit einem kurzen Spaziergang bei ihr zu sein.

Sie hakte sich unter und wenig später schlugen noch einmal die Wipfel des nächstgelegenen Wäldchens über ihnen zusammen. Das Rauschen umschmeichelte ihre Einsamkeit.

Als sie in das Dorf zurückkehrten, wartete man bereits auf ihn. Sie blieb in geringer Entfernung stehen und winkte herüber.

„Na“, sagte der Felddienstleiter. „Da wirst du dir wohl deine verdiente Prämie eigenhändig bei uns abholen, wat?“ Die Mannschaft griente.

Dann folgte er ihm zum Auto.

Drüben lief ein kleiner Junge heulend auf Annelie zu. „Der Steffen hat mich gehaut!“

„Warum denn?“, fragte sie.

„Weiß ich nicht. Kann mich nicht leiden.“

„So, so. Wenn er dir wehtut, dann musst du dich wehren!“

Sie schlug die Hand vor den Mund und schaute erschrocken auf das Bübchen hinab, das nicht fassen konnte, was Frau Lehrerin da von sich gab.

Kurz darauf zog der Mannschaftswagen an, bog in eine Kurve ein, in der sie ihm eben noch einmal zuwinken konnte, dann verschwand das grau-rote Gefährt die Dorfstraße entlang.

„Du!“, flüsterten ihre kirschroten Lippen vor sich hin.

Sie sahen es alle. Nur der alte Vermesser, den dies wohl am wenigsten berühren mochte, sagte, keinesfalls erstaunt:

„Sieh mal an, die Keusche!“

Die Keusche

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