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Der verhinderte Romeo (1967)

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Er las:

„HUTSCHENBACH – romantischer Dorfgasthof!

Der Heimatverein lädt Sie ein zur ländlichen Kirmes: Würstelessen mit Sauerkraut, Karussell und Schausteller, buntes Programm.

TANZ IN ALLEN SÄLEN – DISKO

Genießen Sie drei Tage deftiges Landleben!

Für Mark Deutscher Notenbank 150 inklusive werden Sie es nicht bereuen!!

MIT ALLEN EXTRAS!!!“

Rainer nahm den Rotstift zur Hand, der auf seinem städtischen Schreibtisch bereit lag, und strich die fette Offerte an, welche sich in der Mittwochausgabe der „Volkspresse“ breit gemacht hatte. Die Minenspitze verabschiedete sich mit leisem Knacks.

‚Das wär doch mal was!‘, dachte er sich. ‚Wuschlige Weiber, tolle Titten, deftige Dirndl, stampfend und sauheiß! Eine Blaskapelle von drei älteren Herrschaften. Und dem Tubisten reißt die Arschnaht, falls er sich bückt!‘

Mit seinen junggeselligen fünfunddreißig Jahren durfte er schon mal – noch oder erst recht – über bäuerliche Stränge schlagen. Na gut, heute bot sich auch nicht mehr das an, was früher mal die Lampen zum Wackeln gebracht hatte – beim Bauern-Bruegel beispielsweise. Da ging es noch her! Aber – wenn es denn wäre, wie die Zeitung es schwarz auf weiß verhieß? Ein Mordsgaudi vielleicht? So nah an der bayrischen Grenze. MIT ALLEN EXTRAS! Junge, Junge! Er könnte der depperten Dorfjugend schon was nachweisen!

Also flugs die zuständige Telefonnummer angerufen und ein Bauernbett mit lila Veilchen reserviert, von Freitagnachmittag bis Montagfrüh!

Das Dorf, na vielleicht achthundert Seelen, lag noch friedlich und freundlich im herbstlichen Nachmittagsschlummer, als er seine geschichtsträchtigen Schritte vor die kleine Bahnhofstür setzte. Verschlafen – sagte er sich überheblich – genauso verschlafen hatte er es sich vorgestellt. Hier müsste städtischer Pfeffer ran! Hier müsste ein Hauch von Weltgeist rübergebracht werden. Hier müsste frisches Blut rein! Sex! Er fühlte sich dazu berufen.

Sogleich warf er sich in die weltmännische Brust, schwenkte seinen eigens zu diesem Zweck im Kaufhaus erstandenen Wanderstock sowie den Wetter trotzenden Filzhut entschlossen in den reinen Dorfgerüchen. Dann stakte er breitbeinig davon. Tief motiviert durch die heitere Dorfluft schaute er belustigt auf die kleinen, aber schmucken Häuschen, die sich – mein Gott, wie konnte man darinnen nur sein Leben fristen! – in perliger Reihe hin an den sanften Berghang streckten. Für Autos, ächzte er, für Autos allerdings ein Jammertal! Auf der anderen Seite immerhin: Ein entzückendes Panorama, fast als wenn er in seinem städtischen Zwölfgeschosser nach Südsüdwest schaute! Dort allerdings mehr Häuser, mehr Straßenschluchten, hier verständlicherweise lediglich Bäume und Täler. Rainer – ach wie gern hätte er sich im Augenblicke seinen Freund Gotthilf rufen lassen – Rainer seufzte auf, rückte den falschen Gamsbart am Filzhut zurecht und klopfte auf seinen Rucksack, worinnen sicherheitshalber ein paar Lederhosen der möglichen Nutzung harrten. Er lamentierte: Kein Taxi hielt in der Gegend, kein Fiaker, keine noch so gewöhnliche Pferdekutsche, die den hohen Gast in das vornehmste, einzige Gasthaus am Platze gebracht hätte! So musste er den beschwerlichen Kilometer allein und per pedes bewältigen. Immerhin lächelte man ihm, wo immer Gelegenheit bestand, überall freundlich zu.

Von seinem Zimmer war er enttäuscht. Für das veranschlagte Geld hätte er sich entweder wenigstens eine marmorne Sitzwanne erhofft oder aber eine blecherne, kunstvoll verbeulte Wasserschüssel mit alt-bäuerlich gestyltem Zubehör einschließlich schöner großer Keramikkanne, um den Genuss des Nostalgischen in allen Nuancen erschnuppern zu können. Statt dessen überraschte man ihn mit Dusche und Innentoilette. Sogar der dürftige Weg über den von Hund und Huhn beherrschten Hof blieb ihm erspart! Nichts also mit romantischem Dorfgasthof, Stallduft und ländlichem Feeling. Andererseits fiel, sofern er den Kopf interessiert durch das wunderlich kleine Fensterchen steckte, sein Blick umfänglich auf den schon mit Girlanden und bemerkenswerten dörflichen Accessoires geschmückten Dorfplatz. Auf der gegenüberliegenden Seite glänzte das Rathaus mit Fähnchen und Blumengebinden.

Nun, an diesem ersten Abend standen keine kulturellen Höhepunkte ins Haus, wenn man dem drei Hauptpunkte umfassenden Festplan Glauben schenken durfte. Auf eine vorgezogene Disko war – in Rücksicht auf die Anwohner, mithin des ganzen Dorfes also, – verzichtet worden, um die nächstfolgende Nacht kräftiger und lautstärker durchfeiern zu können. Wer dann noch pünktlich zum Erntedankgottesdienst zu erscheinen vermochte, war möglicherweise selbst dem Pfarrer rätselhaft.

Rainer nutzte die Gelegenheit und die kurz vor dem Horizont stehende Sonne, um einige behagliche Schritte vor das Haus zu setzen und die beschränkten Bau- und Räumlichkeiten des kleinen Dorfes vollständig zu erfassen. Es waren nette Anwesen zu sehen. Insbesondere erregte seine Aufmerksamkeit eine Zeile neuerer Siedlungshäuschen, die sich längs des talförmigen Einschnitts an den Berg schmiegten. Bemerkenswert! Dies vordergründig wohl nicht der außerordentlich günstigen Lage, sondern wohl eher den außerordentlich hübschen Mädchenköpfen geschuldet, die ihm links und rechts voller Neugier aus den oberen Kemenaten entgegen lächelten. Er schwenkte seinen vernagelten Stock und warf sich wiederholt in die städtische Brust. Nach jedem Blick, den er erhaschen konnte, strich er sich geschmeichelt und mit Würde über den gepflegten Schnurrbart, der ihm unter diesen Bedingungen nun wahnsinnig passend erschien. Hernach schritt er zufrieden zurück auf sein Zimmer und gab sich verdienter Ruhe hin, nicht ohne die Festkleidung für den folgenden Morgen bereitzulegen. Indessen vermochte er lange nicht einzuschlafen, da ihn das Geräusch eines unweit dahinplätschernden Baches störte. Er vermisste den betulichen Nachtlärm seiner Großstadtstraße.

Als er am nächsten Tag erwachte, kitzelte ihm die Sonne bereits in der Nase. Draußen auf dem Platz, vernahm er, herrschte bereits buntes Treiben. Er warf sich eilig in seine dörflich aufgemotzten Klamotten und eilte zum Frühstück mit dem angekündigten gekochten Ei vom Bauernhof. Versprochen! Dann trat er sogleich vor das hohe Tor, um die – laut Prospekt – eigens für ihn geschaffene Szene zu genießen. Auf dem Platz montierte jemand tatsächlich ein Karussell – freilich ein Kinderkarussell, was anderes hätte wohl kaum Raum gefunden. Und selbstredend erstand plötzlich die „Würschtelbude“ vor seien Augen. Daneben machte sich der obligate Schießstand breit, natürlich mit Hinweis auf den heimischen Schützenverein. So sah Rainer zwar alle Ankündigungen formal zwar bestätigt; dennoch war er nicht wenig enttäuscht, schien all dies doch den so herbeigesehnten und herbeigeworbenen dörflichen Charakter eher zu verballhornen als dass es festlich oder gar pastoral wirkte. Die zu den Festlichkeiten insgesamt installierten Volksbelustigungen waren im Nu abgeschritten und man musste halt sehen, wie man sich den Nachmittag lang bis zum Abend nachhaltig vergnügen konnte.

Nachdem gegen drei die versprochene Blasmusik einsetzte, kam ein wenig mehr „Leben in die Bude“, wie der Wirt prophezeit hatte. „Zum Vormittog gehn de Leit’ halt in de Kirchn!“ Auch samstags? fragte sich Rainer.

Er ließ den Blick wandern und fühlte sich bald mehr vom Gedränge aufgesogen als ihm recht war. Indessen spürte er froher Stimmung allgemeine Herzlichkeit. Es schien, als kennten sich alle die Leute schon ewiglich; sie ließen sich von seiner Erscheinung durchaus nicht irritieren. Nur die Mädchen, die Mädchen kicherten über ihn, wieder und wieder. Und er strich sich effektvoll den frisch gestutzten Bart, keineswegs verlegen und sehr zufrieden mit sich selbst und seiner Statur. Er sonnte sich vielmehr in dieser unbeschreiblich wohltuenden Aufmerksamkeit. Wenn er in ihre erhitzten Gesichter schaute, glaubte er das eine oder andere schon gesehen zu haben. Vielleicht gestern? Am Fenster?

„Schießen S’ mir eine Papprosen?“, fragte eine Stimme hinter ihm.

Rainer wandte den Kopf und blickte in ein gerötetes, stupsnäsiges Gesicht. Zwanzig Jahre, schätze er, höchstens einundzwanzig. Recht hübsch für den Tag, unter dörflichen Verhältnissen. Man müsste das Dirndl gleich festnageln, ja! Wenn sich was Besseres fände, na gut … Was man hat, das hat man; und es soll ja auch nicht für mehr als eine Nacht herhalten.

„Selbstverständlich, verehrtes Fräulein!“, säuselte er folgerichtig in städtischer Überheblichkeit und striegelte sich das Bärtchen mit dem Zeigefinger. „Doch nur, wenn ich Sie höflichst zum Tanze bitten darf. Oder wie drückt man sich hier aus?“

„Zur Disko? Jo, bitten derfn S’ scho.“

Seltsamer Slang! Halb bayrisch, halb fränkisch. Nicht aus dem hiesigen Osten!

Rainer nahm ein Luftgewehr zur Hand und schoss ihr die Rose vom Stängel. Einschließlich der üblichen vergeblichen Versuche kostete ihn das Vergnügen zehn glatte Mark. Dezent verbeugte er sich, Filzhut samt Gamsbart leicht lüpfend. „Verehrung, mein Fräulein!“

„Ich dank’ auch recht schön!“

„Und wie – wenn ich fragen darf – ist Ihr werter, sicher ausnehmend holder Name, mein Fräulein?“

„Mein ausnehmend werter Nam’ ist Juliane, Bazi. A bissel blöd für die hiesige Gegend zwar. Und wie ruft man Ehna?“

„Rainer“, sagte er. „Rainer ruft man mir.“

Sie lachte lauthals und wollte sich trollen. Sogleich jedoch hielt er sie an der Bluse fest, zog sie entschlossen an sich, um tiefer in die ländlich-blitzenden und hoffentlich jungfräulichen Augen schauen zu können. „Und, mein Fräulein? Ihr Versprechen? Sehen wir uns wenigstens heute Abend?“

Sie blieb dicht vor ihm stehen, hauchte heißen Atem an seinen Hals und betrachtete ihn schelmisch. „Aber eh, wenn du der Sieglinde aach was abschießt, Rai-ner!“ Und sie lachte abermals auf.

„Sieglinde?“, säuselte er melodiös. „Wer ist Sieglinde? Deine Mutter, hübsches Kind?“

„Naa-naa“, erwiderte Juliane trocken und schob ein unscheinbares Wesen zwischen sich und ihn. „Des isse.“

Das blasse Geschöpf strahlte ihn mit blaugrünen Augen an. Sieglindes Blick senkte sich verzückt in die Tiefe seiner Pupillen. Sie sah auf zu ihm wie zu einem himmlischen Gesandten. Und betete ihn an. Einer aus der Stadt!

„Sieglinde …“, sagte Rainer mit schwacher Stimme.

Denn außer ihrem Blick hatte Sieglinde recht wenig zu bieten. Eigentlich gar nichts. Sie war bar jeden Reizes, wie man wohl sagt. Nichtssagendes, fast hässliches Gesicht, struppige Haare, eine picklige Stirn, markige Wangenknochen, abstehende Ohren … Allerdings ein Stupsnäschen wie Juliane; aber es gereichte ihr eher zum Nachteil.

„Ja“, fuhr er, verhalten flüsternd, fort. „Ja …“ Er nahm das Luftgewehr und schoss ihr einen hässlichen Plüschaffen. Es kostete ihn abermals zehn Mark. Inklusive Rabatt. Er hätte ihr nachfolgend lieber den Teufel geschossen! Oder eine Hexe, noch besser! Kaum hatte er das Stoffvieh aus der Hand gegeben, verschwanden die beiden Mädchen. Juliane und Sieglinde. Er musste an Jungsiegfried denken. Sieglinde und Juliane. Jungsiegfried. Nun ja, offensichtlich konnte er das eine nicht ohne das andere haben.

Er drehte – zum wievielten Male eigentlich – seine Runde: Schießbude – Würschtelbude (heimischer Fleischer) – Karussell – Bäckerstand (heimischer Bäcker) – Schießbude. Dann wagte er auch mal einen Abstecher in die kleine Kirche und sah sich auf dem Altar die ausgebreiteten Früchte an, Obst und Gemüse, vertrocknete Weizengarben und Blumen. Er fand das alles langweilig und fad.

„Wann S’ bis morgen Mittig warten, derfen S’ was abheben!“, hörte er es hinter sich.

Ah, Juliane, du schon wieder! Vielmehr: Gott sei es gelobt, wenigstens ein Lichtblick! Aber ach! Sieglinde stand offenbar immer dabei. Sie lächelte und schmachtete. Er hätt’ es freilich lieber von Juliane gesehen.

„Ist wohl so usus hier?“, sang Rainer mit sonorer Stimme.

„Waaß net“, antwortete Juliane lachend. „An Usus kenn’ wia hier gar nimmer.“ – Sieglinde bediente sich offenbar überhaupt keiner Sprache. Sie sah den fremden Maa aus dr Stadt nur seligen Lächelns an. – „Kommen S’ wohl aus der Stadt? Der Herr?“, fragte also Juliane schelmisch.

„Ja natürlich. Man hat inseriert. Goldene Dinge versprochen. Ein echtes, derbes Bauernspektakel! MIT ALLEN EXTRAS! Inklusive!“ Und er fasste nach ihrer Hüfte, um sie zu schwenken.

„Jo, passen S’ auf, dasses net scherbelt! Aach wenn’s man interessiert hat. – Net hier in der Kirchn!“

Und schon flatterten sie wieder davon. Rainer stolzierte beiden angemessenen Schrittes hinterdrein.

Inzwischen hatte die Blasmusik die sesshafte Bevölkerung tatsächlich zum Tanzen animiert. Auch Rainer ergriff fest Julianes Arm, zog sie hin zur bezeichneten Fläche aus rohgefertigten Bohlen. Sie lachte auf, ließ es sich gefallen und Sieglinde auf der Stelle stehen.

„Ich darf also hoffen, mein Fräulein, dass Sie mir heut Abend die Ehre erweisen?“ Er schwenkte sie gekonnt im Kreise und lockte bewusst die Aufmerksamkeit der Leute. „Dann“, ergänzte er, „hoffentlich mit zündenderen Rhythmen.“

„’s g’fallt Ehna also net, die Musi?“

„Oh doch, aber’s wird einem nicht so recht innig warm dabei.“

„S’ wolln mi wohl zum Kocha bringe?“

„So, liebste Juliane, so nun auch wieder nicht“, besänftigte er rechtschaffen und manieriert. Mit zartem Eifer versuchte er, seine Wange an ihr Haar zu schmiegen.

„Wenn’s nur net wittert! Do bleib i drhoam.“

„Das können Sie mir nicht antun!“

Er hielt inne, um Enttäuschung vorzugaukeln. Man hatte großspurig ein derbes bäuerliches Fest versprochen! Mit allem Drum und Dran! MIT ALLEN EXTRAS!! Inklusive. Und Juliane betrachtete er folglich als solches Extra, als solch eine Beute. Sie andererseits, nichts von all dem ahnend – oder doch? – , lachte spitzbübisch auf und entwand sich so geschickt seinen Armen, dass Rainer vor Überraschung nichts blieb, als die heran schwebende Sieglinde seufzend in den seinen aufzufangen. Zwischen ihnen entspann sich hierauf ein bedeutsames Schweigen. Während er gelegentlich betreten auf seine Schuhe hinab blickte und über ihre Schulter nach Julianes Haarschopf Ausschau hielt, schmiegte diese sich verdammt nah an einen ländlich-faden, ja ungehobelten Burschen. Sch… Mund und Augen Sieglindes indessen glänzten voll stummer Erwartung, erfüllt von romantischem Begehr und Marlitt’scher Tiefgründigkeit. Es missfiel ihm. Und als die Herren Bläser ihre Mundstücke absetzten, flatterte er sogleich davon, Sieglinde im unentwirrbaren Getümmel allein zurück lassend. Er besaß einschlägige Diskoerfahrungen, sie offenbar nicht. Sieglinde verlor ihn aus den Augen.

Sein Blick hingegen fand augenblicklich, was er suchte: Juliane! Sie erkannte sein Spiel und wich ihm aus. Oder auch nicht? Die Herzige jedenfalls präsentierte ihm ihr verlockendes Hinterteil und lief die Gasse hinauf, jene behaglichen Siedlungshäuser entlang, die er gestern schon bewundert hatte, ohne von dem schönen Mädchen zu wissen. Je mehr er seinen Schritt beschleunigte, um so schneller tippelte sie vor ihm her. Auf kurzer Strecke war Juliane nicht mehr einzuholen: Unmittelbar darauf nämlich trat sie durch ein Gartentor und entschwand in einem Doppelhäuschen. Rainer zückte sogleich Zettel und Bleistift, die er für solche Zwecke stets bei sich führte, um sich der Adresse zu versichern.

Wenige Augenblicke später erschien die Angebetete am oberen Kammerfenster und schaute hämisch auf ihn herab. „Sie haben’s eilig, junger Mann!“, sprach sie. „Wissen S’, die Sieglinde wär’ Ehna um Mehres dankbarer als i.“

„Mein Herz, oh holdes Mädchen, seufzt jedoch nur deinen Namen: Juliane!“ Sie kicherte geschmeichelt. „Das ist wohl Ihr stilles Kämmerlein?“, fragte er noch.

„Ja freili.“

„Ich muss es mir merken.“

„Ja, merken S’ halt auf!“, rief sie.

Sie beugte sich aus dem Fenster und schielte auffällig nach der großen Leiter, die einsam hinterm Schuppen lehnte.

,Aha!‘, dachte sich der Gockel und lüpfte den Hut samt Gamsbart. „Also, bis zum Abend. Versprochen ist versprochen!“, rief er voller Vorfreude.

Sie kreuzte die Arme vor ihrer phänomenalen Brust und lehnte beides zufrieden aufs Fensterbrett. „Jo“, antwortete sie hell. „Die Sigi wird sich aach freue. Wenn’s nur net wittert!“

Er schlenderte den Weg entlang; etwas weiter hinaus in die Natur. Sein Herz weitete sich in sinnlichem Frohlocken. Als er oben auf dem Hang ankam, bei den letzten Häusern, schaute er versonnen hinab auf das Dörfchen, hörte mit Lust den entfernten Trubel und sah die fröhlichen Menschen zwischen den Häusern wuseln. Echte Dorfmusikanten! Ländliche Romantik! Heute Abend würde er zeigen, wie gut er mit dem Milieu zurecht kam! MIT ALLEN EXTRAS!

Wenn’s nur nicht wittert! – Noch sah der Himmel überhaupt nicht danach aus. Aber schwül war’s, dass man die eingefrorenen Blitze spürte.

Dann senkte sich die Dämmerung herab und er ging zurück ins Dorf. Erste Fackeln und Lampions ergossen ihr bescheidenes Licht über den Marktplatz. Die messingnen Instrumente waren längst eingepackt und dröhnenden Boxen gewichen.

,Es passt nicht‘, dachte Rainer. ,Aber man ist’s halt gewöhnt und bumm-bumm-bumm muss sein!‘

Von allen Seiten lärmte die gar nicht mehr volkstümliche Musik über den Platz, ob vom Podest, aus Richtung Kirche oder im Gasthaus. Getanzt wurde drinnen wie draußen. Rainer musste lange suchen. Und er fand zunächst Sieglinde. Er lächelte unverbindlich und sie schmachtete zurück. Sie mochte sich denken: Wo du bist, will auch ich sein! Und sie fand sich stets in seiner Nähe, wie geschickt er sich auch davonzustehlen versuchte. Stets spürte er ihren erwartungsvollen Blick in seinem Nacken. Aber das hatte auch sein Gutes! Denn Juliane, vom Abendessen mit herzlicher Laune zurückgekehrt, suchte Sieglindes Nähe. Das kam ihm zupass. Und folglich tanzte er unauffällig wohl mehr mit ihr als mit jeder anderen. Zwei oder dreimal auch mit Sieglinde, selbstredend; er konnte es ja – mein Gott – nicht mit Juliane verderben! Dass sie ihm hinterrücks Nasen drehte, störte ihn keineswegs. Er wollte sich holen, was ihm gemäß Police zustand: MIT ALLEN EXTRAS! So kam es, dass er den Abend doch noch recht passabel fand, obgleich er sich unter bäuerlichem Flair etwas anderes vorgestellt hatte.

Plötzlich waren sie verschwunden, alle beide, Juliane und Sieglinde. Das gab’s doch nicht! So prüde konnte man hier – obwohl Dorf – doch gar nicht sein, dass man noch vor Mitternacht und vor einem einzelnen städtischen Weltmann die Segel strich! Noch dazu im Rahmen eines solch unbedarften Dorffestes, wo sich alles kannte, traf und besoff! Oder hatten die lieben Eltern ein erzieherisches Machtwort gesprochen? Welche Zustände! Die beiden Girls waren doch mindestens zwanzig, wie!

Sei’s drum! Er wusste ja notfalls, wo Juliane, die so Zauberhafte, wohnte. Rainer verließ also den schon etwas verhaltenen Trubel und schritt erwartungsvoll die bekannte Gasse hinan. Dorthin nämlich, wo er den Born seiner künftigen Freuden ahnte. Jedoch, der Weg war leider nur spärlich beleuchtet. Dennoch glaubte er, das Haus mit sicherer Erinnerung ausgespürt zu haben; letztlich fand er die Hausnummer sorgsam in seinem Kalender notiert. „Vierundzwanzig“, las er, nachdem er zur Sicherheit ein Streichholz angezündet hatte, um die Hausnummer am Torpfosten besser erkennen zu können.

„Vierundzwanzig“, murmelte er zufrieden vor sich hin und schaute nach links und schaute nach rechts, ob auch kein Störenfried sich bemerkbar mache. Vor ihm das Haus lag bereits in tiefstem Schlaf, das Nachbargebäude, zu dem hin sich Julianes Fenster öffnete, im Übrigen auch.

Und ihr Fenster – ach hurra! – war sperrangelweit geöffnet. Wenn dies keine Einladung verhieß!

Vorsichtig erkletterte Rainer das lästige Gartentor. Beinah noch hätte er sich die ländlich geschnittene Hose an der Heckenrose zerrissen. Er sprang hinab auf den Rasen und hörte sich um. Nichts als das Geräusch vom fernen Trara auf dem Dorfplatz! Infolge der blassen Straßenlaternen konnte man weiß Gott kaum etwas erkennen. Der Himmel zeigte sich umwölkt – man hatte es befürchtet – und von Ferne sah man ein munteres Wetterleuchten herüber blinken. Zuweilen rollte schon schwacher Donner heran. Wenn’s nur nicht wittert! MIT ALLEN EXTRAS! Ach, was sollte das! Nur mutig voran, Jugendfreund! Schnell die Leiter ausgehakt und ans Fenster gelehnt. Fensterln! Echt bayrisch fensterln! Selbstverständlich in den Extras inbegriffen, sagte er sich. Schwankend erklomm er Sprosse um Sprosse, prüfend, ob sie nicht morsch seien oder sonst welches Knarren nach sich zögen. Aufm Dorf musste man mit allem rechnen! Wenig später hatte er den Fensterrahmen erreicht. Langsam zog er sich empor, Nasenspitze um Nasenspitze, klopfenden Herzens. Er starrte in die vollkommene Dunkelheit des Gevierts.

„Juliane!“ Heiseres Röcheln. „Duuu!“

Er seufzte erkenntlich zum Zeichen äußerster Erregung, tief und theatralisch. Doch kein Wort liebevoller Erwiderung erreichte sein Ohr. Nicht einmal jenes markante Kichern.

Doch immerhin regte sich bald etwas. Schwach erkannte Rainer die Umrisse des Bettes, eines vorzüglichen Bettes. Unter dem Daunenberg wölbte sich ein menschlicher Hintern, Born seines üppigsten Verlangens an diesem Abend!

„Juliane!“, stöhnte er abermals, vergehend fast vor Aufregung. Und stieg ein. Das Fensterln war gelungen! Maßgerecht! Hinten in seiner Seele hakte er den Erfolg schon mal ab.

Die frauliche Gestalt bewegte sich abermals, gab aber noch immer keinen Satz von sich. Verwegen trat Rainer an die Bettstatt, löste flink den Gürtel seiner Anzugshose und ließ diese erwartungsvoll fallen.

„Juliane!“

Kaum erkennbar, streckten sich ihm zwei weißliche Arme entgegen.

„Oh Juliane!“, gluckste es zum wiederholten Male aus ihm heraus. „Du wirst es nicht bereuen!“

Entschlossen stieg er in die warme Wanne der Wonne und schmiegte sich an den unsichtbaren, aber immerhin tastbaren, fraulichen Körper. Er streichelte ihn und weibliche Hände umklammerten indessen seine drängende Hüfte.

„Herzallerliebstes!“, flüsterte er im Überschwang der Dringlichkeit.

Sie vergalt es ihm lediglich mit heißen Küssen, nicht mit wohl gezielten Worten. Er spürte ihr Verlangen, sich ihm bedenkenlos hinzugeben. Und er schloss sie bäurisch in die Arme, nahm sie, keuchend. Immer unvorsichtiger keuchend. Jetzt gab sie endlich Laut, umsichtige Äußerungen wie „Ah!“ und „Ja!“ und „Oh!“. Es war aber auch nicht zum Beruhigen!

Sie hätten es dennoch nicht tun sollen. Jedenfalls nicht ganz so lärmend. Man könnte meinen, bei offenen Fenstern … Und dem so nahen Nachbarhaus … Wo das dortige Kammerfenster ebenso außerordentlich ungehörig und weit offen stand …

Infolgedessen öffnete sich – eilig schlurfende Schritte kündeten das Unheil – die hiesige Kammertür und herein trat, vorläufig noch im Schatten werfenden Flurlicht eine weibliche Gestalt gehobeneren Alters und Umfangs. Sie knipste das Licht an und konnte nur ihre Mutter sein.

In harschem Entsetzen fuhr Gartenfreund Rainer aus der Lust in die Hölle.

„Oh verdammt!“

Hierauf warf er einen verschreckten Blick auf die Dame seines Herzens unter ihm. „Oh verdammt! Sieglinde!“

„Sie Dreckschwein, Sie!“, donnerte die Matrone. Sie ging hinaus und kam augenblicklich mit einem Besenstiel zurück. „Sie Dreckschwein, Sie!“

Doch das städtische Dreckschwein war – gedankenschnell – eben im Begriff, den Pfuhl der Sünde auf gekommenem Weg zu verlassen. Und als sie, „Verruchtes Weibsstück!“ schreiend, ihrer Tochter einen Funken Aufmerksamkeit widmete, war er längst am Fenster und tastete mit zitternden Knien den ersten Sprossen nach. Der Besenstiel flog als sirrendes Geschoss an ihm vorbei und blieb geradenwegs im benachbarten Kirschbaum hängen. Doch so sehr sich Rainer auch eilte, die Matrone erwies sich als schneller und kippte mit kräftigem Schwung die Leiter in den Rasen, so dass er wie weiland Dorfrichter Adam in die unvermeidlichen Rosen hinab stürzte. Es stach ihn mehrfach im Bein und er hatte sich zu allem Übel auch noch den Fuß verrenkt. Die Hose war hin. Bibbernd stand er nun unten, klagend um die abwesende Hose, und schaute erwartungsvoll hinauf in das erleuchtete Kammerfenster. Die Matrone füllte es gediegen aus.

„Meine Hose!“, rief er bescheiden und bedeckte seine Scham, von der in der Dunkelheit leider nichts zu erkennen war …

„Die kannst du dir morgen auf der Wach’ abholen!“, kreischte die Mutter ohne Rücksicht auf nachbarliche Neugier. Entschlossen zog sie das Fenster zu. Er durfte froh sein, nicht einen Eimer Unrat über seinem Haupt entleert zu sehen.

Hinter ihm begann es zu kichern. Dieses kam ihm sehr bekannt vor.

„Oh, der Mond is aufgange!“, sagte eine vertraute Stimme.

„Ach Juliane!“, seufzte Rainer verzweifelt. „Hab’ ich mich doch im Haus geirrt!“

„Naa, naa,“ beschwichtigte sie ihn. „Ich wollt’ nur der Sigi aach mal was Guts zukomme lass’.“

„Verfluchtes Weibsstück! Warum hast du mich betrogen? Warum hast du mich belogen?“

„Beloge?“, fragte sie.

„Ja, belogen, hinterfotzig. Ich hab’ gemeint, ob das dein stilles Kämmerlein ist?“

„Naa, du hast gefragt, ob’s ihr stilles Kämmerle is.“

„Ja, dich hab’ ich gemeint, ob es Ihr stilles Kämmerlein ist. ,Ihr‘ großgeschrieben damals, verdammt!“

„Ja mei, wie soll i denn wissen, wie du apostrophierst? ,Ihr‘ groß oder ,ihr‘ klaa?“

Zur Untermalung zuckte ein Blitz vom Himmel, bald gefolgt von höllischem Donner. Zwischen den Ästen rauschte der Regen herab.

„Du kannst mich doch nicht stehen lassen!“, flehte er. „Juliane! So ganz ohne Hosen! Wie soll ich denn ins Gasthaus kommen?“

„Ja, dös waaß i do net. Aber um fümfe wird der Schwof umi sei. Do is kaa Schwanz mehr af de Baa!“

„Aber Juliane!“

„’s reengt fei rei!“, sagte sie kurz und schloss mit hellem Lachen ihr Kammerfenster. Bald darauf erlosch das Licht.

Sieglindes Licht indessen erlosch nicht. Noch immer ging es hoch her „in derer Kemenat“. Und ehe er sich neue Schläge einhandelte, entfernte sich Rainer vorsichtshalber auf leisen Sohlen. Hinten übern Gartenzaun.

Der Rest ist schnell erzählt. Er schlich bis in die Nähe des Wirtshauses und verharrte im Gewitter bei strömendem Regen unter einem Baum. Tatsächlich, erst gegen halber sechs, als der neue Tag schon zu grauen begann, erlosch auch das letzte Licht im Dorf und er konnte mit gewisser Sicherheit unerkannt durch die Hintertür ins ausgelärmte Haus schlüpfen. Nur gut, dass alle Türen offen geblieben waren. Unbekümmert, wie die Leute vom Dorf nun mal sind! Er zog sich an – nun musste er notgedrungen, oder glücklicherweise?, in kurzen Lederhosen reisen. Den kläglichen Rest verstaute er in seine Reisetasche. Er machte drei Kreuze und verließ voller Missmut das Haus in Richtung Bahnhof, harrend wann immer ein Zug kommen möchte. Bezahlt hatte er ja, im Voraus – leider. FÜR ALLE EXTRAS.

Rainer hütete das Bett und meldete sich vierzehn Tage krank. Er war wahrhaftig stark verschnupft. Inklusive.

Die Keusche

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