Читать книгу Zweifeln, nicht verzweifeln! - Volker Ladenthin - Страница 8

Оглавление

2. Als ob

Von Geburt an sterben wir. Mit jedem Tag, den wir länger leben, wird die verbleibende Lebenszeit kürzer. Das ist trivial. Aber die Folgen dieser Trivialität sind gar nicht trivial. Sie sind bedeutsam. Uns bleibt im Leben, wie geschickt wir uns auch anstellen mögen, immer nur eine begrenzte Zeit. Man kann sie statistisch errechnen: Bis zur Industriellen Revolution lag die durchschnittliche Lebenserwartung für die meisten Menschen bei ungefähr 30 Jahren – es sei denn, sie gehörten zu den 2–5 % Oberschicht, die alleweil „Gebratenes und Gesottenes“ im Vorrat hatten, Gemüse satt und Obst aus aller Herren Länder, Diener fürs Grobe und einen zuverlässigen Hausmedicus.

Aber obwohl es ein kurzes Leben war, hat der römische Philosoph und kaiserliche Hauslehrer Seneca (ca. 4 v. Chr – 65 n. Chr.) einen modern anmutenden Gedanken parat:

„Zum größten Teil beklagen sich die Menschen heftig über die Missgunst der Natur, weil wir nur für ein kurzes Leben geboren werden und weil so rasch, so ungestüm die uns gewährte Zeitspanne entflieht, dergestalt, dass mit Ausnahme von ganz wenigen für alle anderen inmitten der Vorbereitung auf das Leben das Leben endet. Wir haben aber nicht wenig Zeit, wir haben nur viel vergeudet. Hinreichend lang ist das Leben und großzügig bemessen, um Gewaltiges zu vollbringen, würde man es im Ganzen nur richtig investieren. So ist’s: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern haben es dazu gemacht, und es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie.“

Wie wird die Zeit vertan! Allerdings: 30 Jahre sind nun nicht gerade viel Zeit. Es blieb zum Beispiel sehr wenig reine Lernzeit. Zu wenig für Kindergarten, Schule mit gründlichem Unterricht. Am besten, man lebte und lernte zugleich. Mit 15 Jahren war es dann so weit: Man musste daran denken, eine Familie zu gründen, einen Beruf auszuüben, eine hübsche Wohnstatt einzurichten, durch die Felder und die Wälder zu ziehen, durch die Städte und in die alten und neuen Welten zu reisen und zuzusehen, wie die eigenen Kinder eine Familie gründen. Die meisten Kinder waren „in der guten alten Zeit“ mit 15 Jahren elternlos und auf ältere Geschwister oder Verwandte angewiesen oder auf fremde Menschen.

„Dies Leben kommt mir vor als eine Rennebahn“ (Andreas Gryphius, 1616–1664)

Mit der Erfindung der Maschinen, die von harter Muskelarbeit entlasteten; mit der Einsicht in Hygiene und in die Grundsätze der Ernährung; mit der Sozialgesetzgebung und dem Ausbau der ärztlichen Versorgung verlängerte sich die Lebenserwartung auf inzwischen ungefähr 80 Jahre – bei uns in Europa, wie man, die Freude stark dämpfend, ergänzen muss. Woanders ist es anders.

Doch wie lang sie auch währt : Unsere Lebenszeit ist immer begrenzt. Man muss sein Leben geschickt einteilen – zumal die Psychologen bestätigt haben, was man schon immer wusste. So schrieb der tschechische Bildungsplaner Jan Amos Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert: „Drum können die Kinder auch leichter als alle andern unterrichtet werden, da sie von üblen Gewohnheiten noch nicht besessen sind.“

Kinder lernen manches besser und leichter als Erwachsene. Es gibt Lebensphasen, in denen das Lernen bestimmter Inhalte besonders leichtfällt. Maria Montessori (1870–1952), die italienische Ärztin und Pädagogin, spricht von „sensiblen Phasen“: Wir sind zeitweise besonders sensibilisiert und aufnahmefähig für bestimmte Inhalte. In einigen Lebensaltern hören wir gern Spukgeschichten und Märchen, in anderen lesen wir lieber Liebes- und Abenteuergeschichten, oder wir besorgen uns gleich Sachbücher. Wenn wir lernen wollen, eine Sprache so zu sprechen wie die Einheimischen, tun wir gut daran, die Sprache möglichst früh im Leben zu lernen. Fremdländische Akzente kann man kaum vermeiden, wenn man eine Sprache zu spät im Leben lernt: Rudi Carrell (1934–2006), der beliebte Entertainer, hat seinen holländischen Akzent nie verlernt, obwohl er die größten Erfolge seines Entertainerlebens in Deutschland feierte.

Der Umstand, dass wir sterben, also endlich sind, hat demnach erhebliche Folgen für unsere Lebensplanung. Wenn wir einen Achttausender besteigen wollten, ist es nicht ratsam, allzu lange damit zu warten: Mit 85 Jahren wird man es kaum noch schaffen. Wer den Weltrekord im 100-Meter-Lauf brechen will, sollte dies vor dem 30. Lebensjahr versuchen. Offensichtlich setzt uns die Natur zuweilen absolute Grenzen, die bisher noch niemand überschritten hat.

Wir sehen: Unser Handeln ist durch unsere Endlichkeit bestimmt. Und zwar absolut bestimmt. Models und Leistungssportler erfahren dies ebenso wie Schauspieler, Frauen, die einen Kinderwunsch haben, Taucher, Dachdecker, Balletttänzer, Piloten oder Schichtarbeiter. Manches kann man ab einem bestimmten Lebensalter nur noch schlechter machen als vorher und manches gar nicht mehr. Man kann nicht zu jedem Zeitpunkt des Lebens alles machen. Wir tun also klug daran, unser Leben zu planen und die Zeit zu nutzen, die wir zum Leben haben. Der schnelle Tag ist schnell dahin. Unser Leben ist absolut begrenzt.

Wir leben ewig

Aber auch das Gegenteil stimmt: Unser Leben ist absolut unbegrenzt. Wir können es nämlich gedanklich verlängern. Wir können in Gedanken unseren Tod überschreiten oder überwinden. Wir überschreiten sogar mit Taten unseren Tod! Es gibt einen alten Weintrinker-Witz, der das sehr schön deutlich macht:

Ein Weinkenner wird gefragt: „Kann man eigentlich alle Weine der Welt probieren?“

Antwort: „Nein, aber man kann es versuchen.“

Der Hintersinn der Antwort ist recht eindeutig und lüstern: Der Weinkenner sucht einen guten Grund zum ausgiebigen Zechen. Aber die Antwort macht einen gleichwohl nachdenklich: Obwohl unser Leben begrenzt ist und wir uns damit abfinden müssen, könnten wir so leben, als ob es unbegrenzt wäre – als ob wir ewig lebten: „… man kann es versuchen …“ Dieser Witz empfiehlt es geradezu: Versuche doch mal so zu leben, als ob du ewig leben würdest! Versuche doch mal, nicht den Tod als Begrenzung zu sehen und angesichts des Todes zu leben, sondern so zu leben, als ob es den Tod nicht gäbe. Eines ist gewiss: Du würdest anders leben!

Der Gedanke, dass wir ewig leben – zuerst nichts als ein Gedankenspiel – hat Konsequenzen für unser schlichtes alltägliches Leben, ja sogar für den angenehmeren Teil des Lebens. Zwar können wir weder aus der Sterblichkeit noch aus der Unsterblichkeit direkt ableiten, wie wir leben und was wir tun sollen. Gleichwohl ändert sich unser Leben, je nachdem, ob wir unsere Tagesplanung auf die Endgültigkeit des Todes oder das „Als-ob“ des ewigen Lebens beziehen. (Behalten wir dieses Denkmodell einmal in Erinnerung!) Sicher ist: Wir wagen mehr, wir probieren mehr aus, wenn wir uns vorstellen, wir würden ewig leben.

Ethik des Alterns

In vielen Dingen des Alltags verhalten wir uns übrigens tatsächlich so, als ob wir nach unserem Tod weiterlebten: Eisenbahningenieure planen und bauen Bahnlinien, die auch dann noch in Schuss sein müssen, wenn ihre Planer längst in Rente stehen oder beerdigt wurden. Der Menschen müde Scharen haben Burgen, Schlösser und Kirchen gebaut, deren Fertigstellung die Planer nicht mehr erlebt haben. Ein berühmtes Beispiel ist der Kölner Dom, der im 13. Jahrhundert geplant und erst 1880 eingeweiht wurde. Tüftler konstruieren Geräte, die auch nach dem Tod ihrer Konstrukteure funktionieren … die Uhr, die Dampfmaschine, der Dieselmotor. Und beim Kernkraftwerk wissen ihre Bauherren, dass die Abfälle der Gegenwart noch in Jahrhunderten glühen und strahlen … Sie haben weit, weit über ihr eigenes biologisches Leben hinaus geplant (hoffentlich!).

Aber nicht nur im öffentlichen Leben handelt man so, als ob man ewig leben würde. Auch im Privatleben handeln wir so: Manche bauen ein Haus, das vermutlich noch steht, wenn sie längst gestorben sind. Wir setzen ein Testament auf, das die Dinge regelt für eine Zeit, in der wir gar nicht mehr „auf der Welt“ sind. Warum regeln wir sie dann?

Wenn wir Kinder zu versorgen haben, dann statten wir sie durch eine gute Schulbildung für eine Zeit aus, die wir gar nicht mehr erleben werden, die uns eigentlich gleichgültig sein könnte. Wenn wir für unseren Ehepartner eine „Vorsorgevollmacht“ unterschreiben, dann müssen wir ankreuzen: „Die Vollmacht gilt über den Tod hinaus: Ja/ Nein“. Warum wollen wir etwas über unseren Tod hinaus regeln? Das ist doch irrational! Warum fühlen wir uns für etwas verantwortlich, das wir gar nicht mehr erleben werden?

Prinzip Unendlichkeit

Spätestens bei diesem Verantwortungsgefühl verlassen wir den Raum der Endlichkeit. Wir fühlen eine Verantwortung für eine Zeit nach uns. Wir denken: „Irgendwie sind wir doch noch dabei!“ Woher sonst das Gefühl?

Wie lang diese Zeit währt, für die wir uns noch verantwortlich fühlen, mag sich unterscheiden: Bei den Bauherren der Großen Chinesischen Mauer war es eine sehr lange Zeit. Aber jede Sorge um unser Eigentum, jede Sorge um das eigene Kind überschreitet den Zeitraum unserer Endlichkeit. Wir bilden unsere Kinder aus für eine Zeit nach unserem eigenen Leben. Und wenn wir unsere Enkel kennenlernen sollten – was heute leichter möglich ist als früher –, dann sorgen wir uns sogar darum, ob unsere Kinder mit ihren Kindern gut umgehen, und schenken ihnen Geld für eine gute Kleinkindbetreuung.

Wir leben also gar nicht nur nach dem, was ich „Prinzip Endlichkeit“ nennen möchte – nach der Auffassung also, dass uns nur eine begrenzte Zeit zum Leben bleibt. Und man wird nicht fehlgehen in der Vermutung, dass Menschen nie und nirgends nur nach dem „Prinzip Endlichkeit“ gelebt haben und auch nie leben werden. Wer Pyramiden baut, denkt über seinen Tod hinaus. Wer auch immer vor 25000 Jahren in der Nähe von Willendorf eine Frauenstatue aus Stein gemeißelt hatte, wollte, dass sie auch nach dem eigenen Tod mögliche Betrachter erfreut.

Was die großen Konfessionen sagen

Genau diese Erfahrung nehmen nun viele Weltreligionen auf. Sie machen auf diesen Umstand unserer Natur und unseres Denkens aufmerksam: Niemand denkt nur an heute und bis exakt an sein Lebensende. Wirklich niemand.

Alle Weltreligionen versuchen, jene alltäglichen Erfahrungen aufzunehmen, zu ordnen und zu gestalten, die sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen: Jede einzelne Konfession versucht herauszufinden, welche Gedanken man dem Leben angesichts des Todes widmen muss. Sie macht dies systematisch und als Institution, so dass nicht jede Generation wieder bei „0“ mit dem Sammeln und Ordnen beginnen muss. Sie überlegt, welche Fragen man sinnvollerweise stellt. Sie versucht zu bestimmen, was zu regeln ist und was nicht. Wie man die Gedanken in eine vernünftige Reihenfolge bringt. Wie man über das Leben angesichts des Todes nachdenken muss.

Jetzt

Und die Konfessionen stellen die wichtigste Frage: Wie soll man jetzt leben, wenn man weiß, dass man eine Verantwortung für das Leben nach seinem eigenen Tod hat? Der chinesische Philosoph Konfuzius (551–479) soll es in folgende Worte gefasst haben: „Pflege im Volk die Achtung vor dem Tod und das Andenken an die Vergangenheit, dann wird sittliches Empfinden im Volk geweckt und vertieft.“ Offensichtlich entspringt aus dem Wissen um die eigene Endlichkeit ein Gefühl für die Sittlichkeit, die Empfindung, nach sittlichen Regeln zu suchen.

Hier ist die grundlegende Frage aller Weltreligionen angetippt: Wie muss man jetzt leben, damit man Verantwortung für das Leben angesichts des Wissens um den Tod übernehmen kann?

Der preußische Minister Wilhelm von Humboldt (1767–1835) hat diese Frage sogar als wesentlichen Gedanken der Bildungstheorie angesehen: Lerne so, dass du dein Leben nicht nur in den Grenzen von Geburt und Tod richtig leben kannst (das sowieso), sondern lerne so, dass du zufrieden dein eigenes Leben aus der Perspektive betrachten kannst, als ob du ewig lebtest:

„Die letzte Aufgabe unsres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Dies allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zur Beurteilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis.“

Das Paradies

Diese „Sorge um das ewige Leben“ mag manchmal bedeuten, dass wir uns vorstellen, wie wir nach dem Tod existieren. Darüber haben viele Konfessionen wunderschöne Geschichten erzählt – jene über das Paradies nämlich. Das Paradies ist die Vorstellung vom richtigen, guten und schönen, vom erfüllten und sinnvollen Leben. Wir alle haben eine solche Vorstellung. Wir alle wissen oder ahnen, wie wir gerne leben würden. Kein Mensch ohne Paradiesvorstellung. „Wenn ich mir was wünschen dürfte …“, singt Marlene Dietrich (1901–1992) in ihrem berühmten Schlager. Deshalb kann uns die Werbung mit größter Aussicht auf Erfolg einen Paradiesurlaub versprechen, Paradiescreme, ein Gartenparadies und paradiesische Zustände.

Aber man kommt nur ins Paradies (kann also nach dem Tod glücklich leben), wenn man zuvor sittlich gehandelt hat. Wer auf ewig schön leben will, d.h. ein gutes Gewissen haben will, muss jetzt moralisch gut handeln. Weil jeder paradiesisch leben möchte, also glücklich, gut und zufrieden, strahlt die Bedeutung dieser Vorstellung unmittelbar aufs Handeln zurück.

Das Paradies ist das religiöse Bild für das „Prinzip Unendlichkeit“. Die Vorstellung vom Paradies stellt die Frage, wie wir vor unserem Tod so leben, dass wir unser Handeln aus der Perspektive der Ewigkeit als „richtig gelebt“ beurteilen. Das nämlich wäre die Konsequenz aus einer religiösen Betrachtung des Lebens. Und zumindest für alle Bauherren, Städteplaner, Bahningenieure, Erfinder, Versicherungsnehmer von Lebensversicherungen und Eltern würde ich behaupten: Diese Berufsgruppen handeln angesichts des „Prinzips Unendlichkeit“. Sie zweifeln an der Endgültigkeit des Todes und denken über den eigenen Tod hinaus.

Im Vertrauen: Die meisten Menschen leben so, dass sie über ihren Tod hinaus denken …, sie planen das Leben nach dem Tod; sie handeln im Leben so, dass das Leben nach ihrem Tod gut oder sogar besser weitergeht. Sie planen, um es ganz schlicht zu sagen, ihr jetziges Leben angesichts ihres ewigen Lebens.

Genau dies aber ist ein Thema vieler Weltreligionen: Man sollte handeln, als ob das Paradies wartet.

Aber das Paradies wartet nur in einem besonderen Fall: Wenn man sich im Leben richtig verhält.

Tun und Lassen

Das gedankliche Überschreiten unserer Endlichkeit hat Folgen für unser Handeln in unserer Endlichkeit. Genau dies wäre eine Denkfigur, unter der viele Konfessionen Platz fänden. Im Koran heißt es in der berühmten Sure 36:

„Siehe, Wir machen die Toten lebendig und Wir schreiben auf, was sie zuvor taten, und ihre Spuren und alle Dinge haben Wir aufgezählt in einem deutlichen Vorbild.“

Wenn wir also nach unserem Tod ins Paradies kommen wollenoder, anders gesagt, wenn wir zu Lebenszeiten unter dem Anspruch leben wollen, unser Handeln auch nach unserem Tod nicht bereuen zu müssen, dann würden wir nur Gutes tun und alles Schlechte lassen.

Das Paradies ist nicht Lohn oder Ersatz für das irdische Leben, sondern es ist die Mahnung, jetzt schon so zu leben, wie wir einst meinen werden, dass wir hätten leben sollen.

Das Paradies kann nicht Lohn sein, denn dann wäre Religion nichts als Krämergesinnung. Ein Tauschgeschäft.

Das Paradies kann nicht Ersatz fürs Leben sein, denn wir stellen die Frage ja mitten im Leben, in einem Leben, das wir jetzt bewältigen müssen.

Aber als Vorstellung hat das Paradies eine gewaltige regulative Bedeutung. Es sagt: Lebe so, dass du, wenn du am Ende deines Lebens zurückblickst, sagen könntest, du hast verantwortungsvoll gelebt. Bewerte also dein ganzes Leben nicht nur allein, während du noch lebst. (Denn so viel ist sicher: Am Tag vor dem Platzen der Aktienblase sah dein Leben ganz anders aus als am Tag danach. Am Tag vor der Geburt deiner Tochter sah dein Alltag anders aus als am Tag danach. Am Tag vor der Krebsdiagnose sah dein Leben anders aus als am Tag danach. Welchen Tag wolltest du als Stichtag nehmen, um dein Leben zu bewerten? Das Leben ist eine Rennbahn, und nach jeder Kurve sieht alles ganz anders aus.) Aus der Perspektive des Lebens allein kann man das Leben nicht beurteilen. Nimm daher deinen Tod als Position hinzu, aus der du dich befragst. Und dann befrage dich aus dieser Perspektive, wie du jetzt lebst. Stelle dir immer vor, du würdest dein Leben aus der Zeit nach deinem Tod prüfen.

Es scheint für uns Menschen natürlich zu sein, über den eigenen Tod hinaus zu denken. Und da alle Konfessionen genau dies thematisieren, gelangt man zu dem naheliegenden Schluss, dass religiöses Denken natürlich ist. Und weiter: In diesem Sinne ist jede Religion immer eine Naturreligion …, sie verbalisiert das, was alle Menschen von Geburt an (also: von Natur aus) im Denken bewegt: die Frage nämlich, wie es nach unserem Tod weitergeht, mit der Welt, und (daher) jetzt mit uns – immerhin sind wir Teil dieser Welt – und welche Konsequenzen wir daraus ziehen, dass wir kraft Vernunft über den eigenen Tod hinaus denken können.

Wenn wir berücksichtigen, dass alle Menschen sich auch für jene Mitmenschen verantwortlich fühlen, deren Leben sie selbst gar nicht mehr miterleben – und wenn wir hinzunehmen, dass alle Konfessionen sich genau mit dieser Aufgabe beschäftigen –, dann kann man formulieren, dass in diesem Sinn alle Menschen religiös sind.

Alle Menschen sind religiös

Eine solche Formulierung ist keine Vereinnahmung jener Menschen, die bewusst atheistisch sein wollen. Religiosität ist ja keineswegs identisch mit dem Glauben an einen Gott. Vielmehr ist Religion das Durchdenken und Durchleben des Verhältnisses zu unserer Endlichkeit. Erklärte Atheisten mögen die Sorge um die Welt nach ihrem Tod vielleicht nicht als „religiös“ bezeichnen, aber sie haben diese Sorge trotzdem. Wenn nun der Ausdruck „Religion“ stört, verstört oder vor den Kopf stößt, so kann man vielleicht auf das Wort verzichten (oder den Beginn des Kapitels „7. Warum wir immer schon in einer Konfession leben. Eine erkenntnistheoretische Überlegung – unten S. 106 – empfehlen).

Wie auch immer: Mit der eigenen Endlichkeit müssen sich auch Atheisten auseinandersetzen. Auch sie transzendieren gedanklich immer den eigenen Tod.

Der Natur des Menschen entspringt die gedankliche Notwendigkeit, sich mit den Eigenheiten dieser Natur zu beschäftigen: z. B. mit der Eigenheit seiner Endlichkeit. Wir sterben nicht nur, wie alle Lebewesen; wir wissen, dass wir sterben. Und diesem Wissen muss man sich stellen. Religion heißt zuallererst, sich diesem Wissen zu stellen. Und in diesem Sinne sind alle Menschen religiös. (Und deshalb muss religiöse Unterweisung zur Bildung gehören. Andernfalls würden wir der nachwachsenden Generation die Möglichkeit nehmen, zu lernen, sich zu einem unausweichlichen Lebensproblem rational zu verhalten.)

Es ist doch beruhigend, dass sich alle Menschen zumindest in einer Frage einig sind: Wie verhalte ich mich jetzt angesichts des Wissens, dass ich sterben werde? Der Tod stellt alle Menschen vor die Frage, wie sie mit diesem Wissen handeln, sei es nun, dass sie mit dem eigenen Tod auch die Verantwortung für alles andere enden lassen, sei es, dass der Tod eben keine Grenze ist, nach der die Verantwortung aufhört. Wenn wir unsere Kinder auf das „wirkliche Leben“ vorbereiten wollen, dann müssen wir sie mit dieser Frage vertraut machen. Sonst suchen sie Antworten bei Schlagern und anderen Lebensberatern, die ihnen die Wirklichkeit vorenthalten.

Zweifeln, nicht verzweifeln!

Подняться наверх