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3. KAPITEL: DIE FALLE
ОглавлениеAuf seinen kräftigen Oberarmen prangen schwarzgeschwungene Drachen mit offenen Mündern und heraushängenden Zungen vor rotem Hintergrund. Sein gedrungener Körper mit dem runden Kopf und den kleinen strichförmigen Augen strahlt förmlich vor Energie. Beim Erteilen der Befehle schwingt sein kahlgeschorener Kopf mit dem langen Zopf am Hinterkopf wild hin und her. Kapitän Weng erteilt seiner Mannschaft den Befehl zum Auslaufen. Sofort macht sich eine rasante Aktivität bemerkbar. Niemand möchte unter den martialischen Blicken des Kapitäns unliebsam auffallen. Um keinen Preis. Dann lieber vor Erschöpfung tot ins Meer stürzen. Zugleich ist auf dem ein Dutzend anderer Schiffe die gleiche Hektik zu beobachten.
Weng ist Chef der berühmt-berüchtigten chinesischen Triade der Roten Bande, die ihren Ursprung in der Hafenstadt Shanghai hat. Kein Verbrechen ist ihnen fremd. Neben der Kontrolle des Opiumhandels und der illegalen Prostitution widmen sie sich vornehmlich der Piraterie. Aber auch vor Auftragsmorden und anderen Schandtaten schrecken sie nicht zurück. Wohlwissend, dass sie sich auf ihre Partner, die britische Handelsfirma Jardine, Matheson & Co. in Hongkong und die britische Geheimpolizei, verlassen können. Währenddessen arbeiten ihre Rivalen von der Grünen Bande mit den Franzosen im Rauschgift- und Geheimdienstgeschäft zum gegenseitigen Nutzen zusammen.
Doch für den aktuellen Auftrag hat Piratenkapitän Weng nicht nur auf die Engländer gesetzt. Natürlich sind diese rotbramsigen Rundköpfe wie immer bereit, ein schönes Sümmchen Silber zu zahlen. Doch dieses Mal ist der Auftrag wirklich außergewöhnlich und extrem heikel. Seine Flotte soll ein deutsches Kriegsschiff in eine Falle locken und um jeden Preis an einen Geheimbericht seines Kapitäns gelangen. Wie sie das anstellen, ist den Brits vollkommen egal. Deshalb bieten ihm die Engländer eine Summe an, die exorbitant ist. Obwohl er sich selbst als verliebt in Silber bezeichnen würde, hätte er diesen Auftrag normalerweise nie angenommen. Ein deutsches Kriegsschiff abfangen. Ein Himmelfahrtskommando.
Aber dann traf quasi zeitgleich mit dem Angebot der Rundaugen ein dringendes Hilfeersuchen von den lieben Vettern der Heng Wan Chu Kaufmannssippe aus Singapur ein. Der verdammte deutsche Kapitän dieses Kriegsschiffes soll die Tochter des Clanoberhaupts Heng gegen deren Willen geschwängert haben.
Wie niederträchtig! erregt sich Weng.
Ihm wurde glaubhaft versichert, dass der Clan alles, aber auch wirklich alles unternommen habe, um diesen schändlichen Verführer in Singapur zur Strecke zu bringen. Doch alle Tricks hätten versagt. Chang, der Schreiber der bedeutenden deutschen Handelsfirma Behn, Meyer & Co. hat versucht, den Deutschen in Chinatown in eine Falle zu locken. Resultat war, dass es zahlreiche Tote auf Seiten der Chinesen gegeben hatte. Der verfluchte Deutsche konnte entkommen. Selbst das letzte Mittel von Onkel Chu, den deutschen Kapitän zu verfluchen, hat wohl nicht richtig funktioniert.
Merkwürdig, denkt Weng, das klappt doch sonst immer.
Nur diese Kombination, dass eigentlich nicht ausschlagbare finanzielle Angebot der Briten und zugleich die Bitte des Familienclans zu helfen, hat den Ausschlag gegeben. Das wird nicht einfach. Darüber ist er sich im Klaren. Es wird viele Verluste in den eigenen Reihen geben. Die finanzielle Kompensation an die Familien muss er in seine Kalkulation einbeziehen. Aber viel wichtiger ist es, einen vernünftigen Plan zu haben. Ein direkter Angriff auf ein stählernes Kriegsschiff mit überlegener Feuerkraft kann eigentlich nur fatal enden.
Nein, ein besonderer Plan muss her. Es gilt, das deutsche Schiff in die vielen verwirrend kleinen Inseln mit ihren Untiefen vor der chinesischen Küste zu locken, kurz bevor es Hongkong erreicht. Dafür haben die Engländer ihre Unterstützung zugesagt.
Auf Kommando von Wengs Flaggschiff beginnen nun auch die anderen mehrmastigen Dschunken langsam ihre Segel zu setzen. Die Besegelung besteht aus Dschunkensegeln, die mit Bambus-Stangen durchgelattet sind. Diese durchgelatteten Segel sind von Deck aus leicht zu bedienen. Die kurzen Pfahlmaste sind üblicherweise nicht durch Wanten und Stage verspannt, so dass die Segel rundum geschwenkt werden können.
Die kastenförmigen Boote besitzen keinen Kiel. Ihre flachen Böden und die Seitenwände sind fast senkrecht hochgezogen. Dadurch scheinen sie über das Wasser zu fliegen und schneiden nicht hindurch. Der Rumpf ist aus weichem Holz gebaut, das sich leicht biegen lässt und trotzdem seine Form bewahrt. Die Dschunken zeichnen sich durch ihre hochgezogenen Enden aus, die ihnen eine fast bananenähnliche Form verleihen.
Sie sind robuste, sichere und schnelle Segelschiffe. Einige haben ein Fassungsvermögen von fünfhundert Registertonnen und sind für Hochseefahrten geeignet. An die dreihundert wildaussehende und entschlossene Chinesen können die Besatzung einer solch großen Dschunke bilden. Bis zu acht Geschütze warten auf ihren Gegner. Zufrieden blickt Piratenkapitän Weng auf seine Flotte, die sich langsam in Bewegung setzt, um das deutsche Kriegsschiff in die Falle zu locken. Es muss in einer der Untiefen auflaufen. Verluste wird es trotzdem geben, da ist er sich sicher. Doch das gehört nun einmal zum Piratendasein dazu. Die Beute lockt dafür umso stärker.
Kurze Zeit vorher. Gouverneurspalast Hongkong.
Das Government House befindet sich in der Upper Albert Road. Von dort blickt man auf den Victoria Peak, mit über fünfhundertfünfzig Metern die höchste Erhebung der britischen Kronkolonie Hongkong. Auch sonst entsprechen die Ausmaße denen einer wichtigen Residenz im Britischen Empire. Die Grundfläche des Anwesens umfasst imposante annähernd zweieinhalb Hektar oder etwas mehr als zwei Fußballfelder.
Der Bau des Hauptgebäudes begann im Oktober 1851, im achten Jahr nachdem Hongkong zur britischen Kolonie erklärt worden war. Nach vier Jahren intensiver Bautätigkeit konnte die Fertigstellung an Ihre Königliche Hoheit Königin Victoria in London gemeldet werden.
In den folgenden Jahren änderte sich der Stil der Residenz mehrfach. Jeder neue Hausherr ließ das Gebäude nach seinen eigenen Vorstellungen renovieren. Das Hauptgebäude besteht nun aus einer Mischung aus reichhaltigem kolonialem Renaissancestil mit britischen, meist gregorianischen, und asiatischen Stilrichtungen. Willkommen im Reich der obersten Kolonialherren, die glauben, einzigartig zu sein.
Vor zehn Jahren wurde ein Seitengebäude an der östlichen Seite für gesellschaftliche Aktivitäten errichtet. Das Obergeschoss beherbergt einen Ballsaal, in dem Bankette für hohe ausländische Würdenträger veranstaltet werden. Bis zu einhundertfünfzig Gäste finden dort Platz.
Aber auch für den Schutz des Gouverneurs und seiner Gäste ist gesorgt. Am Haupteingang an der Upper Albert Road befinden sich zwei Wachgebäude mit einem eisernen Tor. Hier stehen die Government House Guards Wache, um für Sicherheit zu sorgen. Es ist eine Ehre für die in Hongkong stationierten Einheiten der Königlichen Armee, Soldaten für den Wachdienst abzustellen.
In diesem Anwesen residiert seit November letzten Jahres Gouverneur Sir Richard Henderson. Henderson stammt aus Limerick in Irland und hat unter anderem schon Erfahrungen als Gouverneur von den Bahamas und Neufundland gesammelt. Nun also Hongkong. Auf diesen Posten ist Sir Richard besonders stolz. Ist das doch die Anerkennung, die er meint, verdient zu haben.
Mit einer Zigarre im Mund, der von einem buschigen, leicht herabhängenden Schnurrbart fast umrahmt ist, sitzt er in seinem bequemen Sessel in seinem Arbeitszimmer. Neben ihm mit einem Glas Scotch in der rechten Hand hat es sich Kapitän Andrew Rochester bequem gemacht.
„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, Kapitän Rochester, hat mich mein werter Kollege aus Singapur, Sir Charles Mitchell, informiert, dass es in dieser Angelegenheit um eine äußerst wichtige und geheime Mission im Rahmen der Sicherheit unseres Empires geht. Ich bin mir Ihrer absoluten Verschwiegenheit als Marineoffizier Ihrer Königlichen Hoheit vollkommen sicher, Kapitän Rochester?“
Dabei blickt Sir Henderson sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen direkt an. Seine blaugrünen Augen mustern den Kapitän gründlich und dulden keinen Widerspruch.
„Aber sicher doch, Sir Henderson. Bei meiner Ehre als Offizier, Sir!“, entfährt es Kapitän Rochester militärisch knapp.
„Gut, gut, Rochester. Noch wissen Sie nicht, was auf Sie zukommt. Aber gut, dass Sie so selbstsicher sind. Offiziere von Ihrem Schlag hat das Empire leider viel zu wenige“, setzt Sir Henderson nun schon fast schmeichelhaft hinzu.
„Auf mich können Ihre Exzellenz jederzeit setzen“, meint Kapitän Rochester noch hinzufügen zu müssen.
„Also dann los. Die Ausgangslage ist folgende: Das deutsche Kanonenboot Iltis hat Kurs auf Hongkong genommen, um den Zielhafen die deutsche Kolonie Tsingtau anzusteuern. Sein Kapitän hat in einem geheimen Auftrag für den Kaiser erkundet, ob sich die Insel Langkawi als deutscher Marinestützpunkt eignet.“
„Potzblitz!“, entfährt es Rochester und fährt aus seinem Sessel hoch. Um ein Haar wäre ihm das Glas Scotch aus der Hand gefallen. „Diese verdammten Deutschen.“
„Ganz meine Meinung, Kapitän. Aber unterbrechen Sie mich nicht.“
Wie ein zurechtgewiesener Schuljunge sackt Kapitän Rochester in seinen Sessel zurück.
„Leider ist es Sir Charles trotz Aufbietung aller Reserven nicht gelungen, an den Geheimbericht des deutschen Kapitäns in Singapur zu gelangen. Neben eigenen Kräften hat er auch einen dieser Chinesenclans für sich gewinnen können, weil sich der Deutsche wohl mit der Tochter des Clanchefs eingelassen hat. Jeder, der die Chinesen auch nur einigermaßen kennt, weiß, dass das mehr als nur verrückt ist. Das gleicht einem Todesurteil.
Aber wie auch immer, wir müssen unbedingt in Erfahrung bringen, ob diese verdammten Deutschen Langkawi tatsächlich als einen möglichen Stützpunkt betrachten, um rechtzeitig im Vorfeld tätig werden zu können.
Ihnen kommt eine Aufgabe von äußerst hoher Bedeutung zu, Kapitän Rochester. Hier nun der Plan: Wir gehen folgendermaßen vor …“
Während Sir Henderson das Vorhaben ausbreitet, wird Kapitän Rochester immer bleicher, will Widerspruch einlegen, wird aber energisch von Sir Henderson zurechtgewiesen, versinkt immer tiefer in seinen Sessel und stürzt das dritte Glas Scotch hinunter.
Als Kapitän Rochester etwas später den Gouverneurspalast verlässt, verschmäht er die bereitgestellte Kutsche und begibt sich stattdessen zu Fuß durch die noch immer anhaltende nächtliche tropische Hitze Hongkongs. Schon bald ist seine Uniform schweißdurchtränkt. Doch das bemerkt er nicht. Er ist zu aufgewühlt.
„Das darf doch nicht wahr sein“, entfährt es ihm kopfschüttelnd.
„Das darf doch nicht wahr sein“, murmelt er wiederholt gedankenverloren mit gedämpfter Stimme und zusammengepressten Lippen vor sich hin. Eine Kutsche mit hohem Tempo rast an ihm vorbei. Er schrickt hoch. Fast wäre er überfahren worden. Vielleicht sogar besser so, denkt er sich.
Eigentlich geht der Auftrag des Gouverneurs gegen seine Ehre. Als Kapitän der stolzen Royal Navy soll er nun gemeinsame Sache mit einem Piratenunhold machen.
„Pfui Teufel“, entfährt es Kapitän Rochester und spuckt in bester chinesischer Manier auf die Straße.
Aber auf der anderen Seite hat der Plan schon etwas, muss er nach einigem Überlegen zugeben. Wie sonst soll man von unserer Seite an den Geheimbericht kommen? Schließlich kann er, Rochester, ja schlecht mit seinem Schiff, dem Leichten Kreuzer Iphigenia, das deutsche Kriegsschiff auf hoher See angreifen. Das würde unweigerlich Krieg zwischen den beiden Nationen bedeuten. Das will natürlich niemand.
Nachdem er in der Tropennacht einige Zeit gelaufen ist, scheint ihm der Plan von Sir Henderson doch nicht so verkehrt. Aber gewöhnungsbedürftig ist das alles schon. Er soll bei dem Unterfangen nur den Boten spielen, während er dem blutrünstigen Piraten die Beute überlassen soll.
Hmm, wenn die liefern, heiligt der Zweck die Mittel, wie es so schön heißt, versucht sich Kapitän Rochester zu beruhigen.
Er soll also mit seinem Schiff Iphigenia dem deutschen Schiff Irene entgegendampfen und ihm signalisieren, dass Typhus in Hongkong ausgebrochen sei und zudem ein sehr heftiger Taifun heraufziehe. Deshalb sollen die Deutschen Hongkong großräumig umfahren, Kurs auf die chinesische Küste nehmen und dort den Taifun abwarten. Welch noble Geste von britischer Seite. Dadurch werden die Deutschen direkt in die Arme der Piratenflotte, die sich in der unübersichtlichen Küstengegend bestens auskennt, gelotst. Und dann, Peng, das war´s mit der deutschen Herrlichkeit. Und wir haben den Geheimbericht.
Na ja, ein teuflischer Plan. Wenn das klappt, ist zumindest das Ergebnis in Ordnung.
Mit seinen Füssen kickt Kapitän Rochester noch etwas Müll zur Seite. Was soll´s. Alles für das Empire. Mit diesen Gedanken legt er die letzte Strecke bis zum Hafen, wo das Beiboot schon auf ihn wartet, zurück.
Aus seinen zwei Schornsteinen steigt dunkler Rauch gen strahlend blauen Himmel. Der Leichte Kreuzer Iphigenia verdrängt dreitausendsechshundert Tonnen Wasser und arbeitet sich unaufhörlich durch die leicht rollenden Wellen des Südchinesischen Meeres. Die knapp dreihundert Mann Besatzung hält das Schiff routiniert auf Kurs. Die zwei 15,2 Zentimeter Geschütze sind nur mit der Wachmannschaft besetzt. Schließlich ist man nicht auf Feindfahrt. Der Auftrag lautet simpel: Dem deutschen Kanonenboot Iltis entgegenfahren, es vor der ausgebrochenen Typhusepidemie in Hongkong warnen und anraten, zunächst Kurs auf das chinesische Festland zu nehmen, denn es nähert sich obendrein ein verheerender Taifun.
Als Kapitän Rochester diesen Befehl seinen Offizieren mitteilt, macht sich ein gewisser Unmut breit. Der Tenor lautet, seit wann laufen wir extra für ein deutsches Kriegsschiff aus dem Hafen von Hongkong aus, um es weit draußen auf See vor diesen Gefahren zu warnen? Zumal die Offiziere von einem Typhusausbruch in Hongkong noch gar nichts mitbekommen haben. Aber dann siegt doch der militärische Gehorsam und der Befehl wird nicht hinterfragt, zumal auch ihr Kapitän unmissverständlich klar gemacht hat, dass er keine weiteren Erläuterungen zu dem Befehl zu geben gedenkt.
Also volle Kraft voraus und Ausschau nach den Deutschen halten.
Mittlerweile hat sich der Erste Offizier Hans Thomsen auf Iltis entschlossen, doch den Hafen von Hongkong anzusteuern. Da sich der Gesundheitszustand von Kapitän Wilhelm Kurz zwar nicht verschlechtert, aber auch nicht wesentlich gebessert hat, will er kein Risiko eingehen. Lieber will er den Käpt´n in Hongkong britischen Ärzten anvertrauen als die längere Fahrt nach Tsingtau zu wagen, wo die bestens ausgebildeten deutschen Ärzte bereit stehen. Abwägungssache. Schon will er den Befehl zur Kursänderung geben, als ihm gemeldet wird, dass sich am Horizont die Silhouette eines deutschen Dampfers abzeichnet.
Kurs halten, lautet sein Befehl. Die Begegnung will er erst noch abwarten. Vielleicht hat der Dampfer, der wahrscheinlich aus Tsingtau kommt, irgendwelche Neuigkeiten. Die Minuten verrinnen und die Entfernung zwischen den beiden Schiffen schrumpft ständig. Durch sein Prismenfernglas kann er das Schiff schließlich identifizieren.
Mit seinem einen Schornstein und zwei Masten gehört es zur Städte-Klasse der Reederei Norddeutscher Lloyd. Langsam nähern sich die beiden Schiffe, wobei klar wird, dass der Postdampfer seinen Kurs auf Iltis verändert. Dann endlich erkennt Hans Thomsen, dass es sich um den Reichspostdampfer Darmstadt handelt.
In der Tat kommt der einhunderteinunddreißig Meter lange Dampfer Darmstadt aus Tsingtau. Neben einigen Passagieren in der ersten und zweiten Klasse und ihrer Besatzung von einhundert Mann hat der Dampfer über eintausendzweihundert Seesoldaten an Bord. Sie gehören zur Austauschbesatzung des III. Seebataillons, das in Tsingtau stationiert ist. Der Dampfer Darmstadt verdrängt über fünftausend Bruttoregistertonnen und erreicht durch seine Maschinen mit dreitausendzweihundert Pferdestärken immerhin bis zu dreizehn Knoten. Vor neun Jahren lief er als kombiniertes Passagier- und Frachtschiff noch von einer Werft in Glasgow von Stapel. Heute undenkbar, dass ein deutsches Schiff auf einer englischen beziehungsweise schottischen Werft gebaut wird. Diese Zeiten sind endgültig vorbei, denkt sich Thomsen zufrieden und unterstreicht seine Gedanken mit einem kurzen Nicken.
Als Darmstadt sich auf Sichtweite genähert hat, werden Signalflaggen gesetzt. Plötzlich herrscht Aufregung auf der Brücke von Iltis. Es sind nicht die üblichen Signale, die ausgetauscht werden. Thomsen kneift die Augen enger zusammen, um noch klarer sehen zu können. Die Anspannung ist bei allen spürbar. Was mag Darmstadt nur zu signalisieren haben? Gibt es ein Problem an Bord? geht es durch die Köpfe der Matrosen auf dem Kanonenboot Iltis.
Jeder will das Signal, den Heiß, identifizieren. Farbig unterschiedlich gestaltete Flaggen werden in schnellem Tempo gesetzt. Verwirrend für den Laien, nicht jedoch für die Marinesoldaten von Iltis. Nachdem sie die Signale identifiziert haben, herrscht eine gewisse Verwirrung vor: „Achtung. Dringender Befehl. Kurs Manila. Treffen mit Kreuzergeschwader. Ende.“
„Potzblitz. Was soll denn das?“, ruft Hans Thomsen völlig verdutzt aus. Dabei blickt er in genauso verwirrte Gesichter um ihn herum.
„Manila? Das ist doch auf den Philippinen. Dort herrschen die Spanier. Was will unser Kreuzergeschwader denn dort?“
Die Frage bleibt unbeantwortet. Eine Antwort hat Thomsen auch nicht wirklich erwartet. Aber Befehl ist Befehl. Da gibt es keine Diskussion. Nur an Bord herrscht eine Ausnahmesituation. Noch immer liegt Kapitän Wilhelm Kurz schwerkrank auf der Krankenstation.
Was soll er, Thomsen, bloß machen? Aber einen Befehl kann er nicht ignorieren. Trotzdem. Wenn es eventuell um das Leben des Kapitäns geht?
Alles hängt vom Schiffsarzt Dr. Brandt ab. Thomsen befiehlt Dr. Brandt, den Käpt´n noch einmal eingehend zu untersuchen.
Mittlerweile hat der Postdampfer Darmstadt das Kanonenboot Iltis längst passiert und beginnt am Horizont zu verschwinden.
Dr. Brandt kehrt aus dem Inneren des Kriegsschiffes wieder zurück auf die Brücke. Dort wartet schon Hans Thomsen voller Ungeduld auf ihn.
„Und, Doktor? Wie sieht es aus? Bitte kurz fassen, keine fachmännischen Ergüsse, Doktor.“
„Also gut. Zum ersten Mal gibt es Grund zu einem verhaltenen Optimismus. Das Fieber ist gefallen. Auch der Puls des Herrn Kapitän hat sich stabilisiert. Kurzum: Der Patient scheint auf dem Weg der Besserung zu sein. Aber das bedeutet noch keine Entwarnung“, setzt Dr. Brandt mit ernster Stimme hinzu.
Trotzdem macht sich Erleichterung auf der Brücke breit, besonders aber bei Hans Thomsen.
„Dr. Brandt, das sind erfreuliche Nachrichten. Ich freue mich außerordentlich, dass unser Kapitän anscheinend auf dem Weg der Besserung ist. Das macht meine Entscheidung erfreulicherweise leichter.“
Nach diesen Worten wendet er sich an den Steuermann.
„Kurs ändern. Kurs Manila.“
„Ausguck, Schiff zu sehen?“, fragt Kapitän Rochester in immer kürzeren Abständen. Die Antwort ist immer dieselbe: „Keine Schiffe zu sehen, Captain.“
„Verdammt, das kann doch nicht sein. Steuermann, Kurs überprüfen.“
„Ay, ay, Captain. Kurs nach wie vor wie befohlen, Sir!“
„Wo bleiben die verdammten Deutschen nur?“, murmelt Kapitän Rochester auf der Brücke mit verschränkten Armen hinter dem Rücken hin und hergehend.
„Ausguck, Rauchfahne zu sehen?“
„Keine Rauchfahne zu sehen, Captain!“, kommt die nicht unerwartete Antwort.
„Kurs beibehalten!“
„Ay, ay, Captain. Kurs beibehalten!“
Die Offiziere auf der Brücke schauen sich mittlerweile fragend an. Wie lange will der Alte den Kurs noch beibehalten? Anscheinend haben es sich die Deutschen anders überlegt oder sind mit ihrem Schiff untergegangen oder sonst was. Ihnen ist das völlig egal.
Auch Kapitän Rochester bleiben die fragenden Blicke nicht verborgen. Alles war so schön eingefädelt mit diesen teuflischen chinesischen Piraten. Die hätten das dreckige Geschäft vollendet und wir Briten hätten uns mal wieder die Hände nicht schmutzig gemacht, aber erreicht, was wir wollen. Nur die verdammten Deutschen scheinen heute nicht mitzuspielen. Wo bleibt bloß das verflixte Kanonenboot Iltis? Kapitän Rochester ist klar, dass er den Kurs nicht mehr lange beibehalten kann. Wenn in den nächsten zehn Minuten nichts geschieht, muss er abdrehen. Dann ist die Operation gescheitert.
Wie er es hasst, diese Nachricht nach seiner Rückkehr nach Hongkong Gouverneur Sir Henderson zu überbringen. Eigentlich ist er für einen britischen Gouverneur ganz umgänglich, aber Fehlschläge lässt er nicht gelten.
Zehn Minuten lang herrscht Schweigen auf der Brücke. Dann ertönt noch einmal die Stimme von Kapitän Andrew Rochester: „Ausguck, Schiff in Sicht?“
„Kein Schiff in Sicht, Captain!“, kommt ohne zu zögern die Antwort.
Alle auf der Brücke blicken nun auf Kapitän Rochester.
Eine Minute des Schweigens.
„Steuermann, Kurs ändern. Kurs Hongkong!“
„Ay, ay, Captain. Kurs Hongkong!“
Schon beginnt der Leichte Kreuzer Iphigenia einen Steuerbordschwenk, um nach Hongkong zurückzukehren.
Derweil zermartert sich Kapitän Rochester sein Gehirn, was mit den verdammten Deutschen geschehen sein könnte. Der Kurs hat definitiv gestimmt. Das hat er mehrmals überprüfen lassen. Auch das Wetter war in dem gesamten Seeraum recht ruhig. Keine Sturm- oder gar Taifunwarnung. Nichts. Gar nichts.
Mmmh, eine Möglichkeit gäbe es da noch, malt sich Kapitän Rochester aus. Vor kurzem ist die Lage in Manila eskaliert. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten wegen Kuba den Spaniern den Krieg erklärt. Die Philippinen gehören zum spanischen Kolonialreich und das amerikanische Asiengeschwader hat Hongkong Richtung Manila verlassen, um mit den Dons aufzuräumen. Wenn die Yankees nicht selbst in Grund und Boden gebohrt worden sind. Was auch immer. Es könnte natürlich sein, dass auch die Deutschen ihre Schiffe nach Manila beordert haben, um dort, wie die anderen Großmächte auch, Flagge zu zeigen. Vielleicht hat ja Iltis irgendwie der Befehl ereilt, den Kurs Richtung Philippinen zu ändern. Möglich, denkt sich Kapitän Rochester. Wäre zumindest eine Erklärung für das Nichtauftauchen von Iltis.
Trotzdem nicht gut. Seine Gedanken kreisen jetzt darum, wie er Sir Henderson den Fehlschlag am besten überbringen kann.
Währenddessen gleitet der Leichte Kreuzer Iphigenia gleichmäßig durch die Wellen des Südchinesischen Meeres Richtung Hongkong.