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Inhaltsverzeichnis

Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...

Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los — — und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...

Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei — ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern ließ nach — nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...

Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen — vor allem aber Studenten, Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:

»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit — hättest Du was dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«

Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.

»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen, he?!«

Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen auch die Helden und Heldinnen aus der Probe — natürlich mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...

Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild — seine Züge waren nicht genau erkennbar — verschwammen im hüpfenden Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...

Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen — und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? — daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt — knapp noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...

Auf einmal — welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern — gewiß hatte sie unzählige — reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und — na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies — aber gewiß konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen Thumser — nämlich dichten!

Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu kaufen — aber wunderschöne Verse kann er machen! — Also los! ein Blatt aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!

»Ich bin ein junger Korpsstudent,

Die Schuhe Lack, der Rock patent —

Korrekt und schick an mir ist alles —«

lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.

»— im Portemonnaie nur haust der Dalles —«

So — immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist — was sie von mir zu erwarten hat — und was nicht ...

»Doch da das Schicksal über Nacht

Zu Budennachbarn uns gemacht —«

(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)

»— müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,

Und Rosen legen Dir zu Füßen —

Wie gerne würd' ich mich erdreisten —

Doch leider —«

Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:

»— kann ich mir's nicht leisten ...«

Nun ein zweites offenes Bekenntnis:

»Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,

Sah nicht einmal Dein Angesicht —

Nur —«

Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:

»— hab' ich morgens früh gesehn

Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn —

So winzig, duftig, elegant —«

Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar nicht zugetraut — aber freilich: auf dem Papier, und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen — — Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? — Aber weiter, weiter — einen Reim auf »elegant« — pah, Spielerei!

»— daß gleich mein Herz in Flammen stand —«

— nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:

»Da gab es Funken — Flammen — Brand!«

Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:

»Und seitdem träum' ich wahnbetört,

Von dem, was da hineingehört —«

Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!

»Willst Du mir's auf den Nacken setzen,

Mir wär's ein sklavisches Ergetzen —«

— ne, das ist ein falscher Ton — von der Sorte sind wir doch nicht! —

»Ach, dürft' ich's einmal — einmal küssen —

Wirst mir's schon noch — erlauben müssen —

O welche süße Phantasie —

Und ach — probiert hab ich's noch nie — —«

Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...

Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!

Ach, und es gefiel ihm so gut — daß er's ganz hastig und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum Nebenstübchen auf und sah —

Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen baumelten ...

Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit hartem Knall zugeklinkt — und flog nun die Stufen hinunter — die grüne Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die Luft, daß es nur so pfiff.

Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht abzustellen die Mittel finden würde ...

Und das war so gekommen:

Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:

»Und einer Freude Hochgefühl entbrennet, Und ein Gedanke schlägt in jeder Brust —«

Da war der reckenhafte candidatus iuris mit einem Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter — sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:

»Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,

Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,

Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,

Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«

Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.

»Sollt' ich ihn tö—öten? Konnt' ich's, da ich ihm

Ins Auge sah? I—h—n tö—ö—öten? Eher hätt' ich

Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«

Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.

Einen Augenblick verblüffte Stille — doch o weh — sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden — schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:

»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?

Ist Mitleid Sünde?«

»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund — ich muß lernen!!«

Einen Augenblick war drüben alles stumm — todesstarres Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen — keifte — ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:

»So? Lernen müssen Sie? Na — ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische Alt:

»Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du

Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit

Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«

Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:

»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«

»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger — die Jungfrau von Orleans!«

»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' — hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren gemietet — versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im Theater!!«

»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«

»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an Studenten nich!«

»Herr Pilgram — wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' — nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«

»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen — ich komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«

Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer Mensch! — Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab Sie nich das mindeste dagegen — lieber heut als morgen! Adieu, Herr Pilgram — ziehen Se glicklich!«

Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.

Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...

Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht wiederkommen ...

Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen »Moralischen«?

Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die »Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger — zur »Jungfrau von Orleans« ...

Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem Stockwerk der studiosus iuris et cameralium Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.

»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«

»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«

»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn — Morgen fier Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n zu schlagen ...«

»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und der Major!«

»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.

»Nu — e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt — heit morge finne mer se doch nit — hat er g'sagt!«

»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee heemgeritten?«

»Ja — ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«

»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes — sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen um so e Weibsbild!«

»Pscht — die Herre komme!«

Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel — der Major mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.

»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht — Sie würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.

»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major — lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«

»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht — Sie benehmen sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte — und das Weitere findet sich!«

Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte einmal ein Erlebnis haben — ein richtiggehendes Erlebnis!«

»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von Nassau-Dillingen wäre!«

»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie — und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert von Dillingen, studiosus iuris et cameralium

»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die Finger gesehen — aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen —«

»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«

»Oh — aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen mußte.

»Bitte, lieber Gorczynski — stürzen Sie sich nicht in Unkosten — ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert.

»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen — wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich a tempo nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich —«

»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!«

»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«

»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide — Pelzjäckchen, Barett, Muff — und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen — und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen eingesäumt ...

»Kreuzmillionen —!« entfuhr es dem Major. »Das ist —?!«

»Das ist — sie,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum erstenmal.

Verdammt — also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig aufpassen ...

Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren, Durchlaucht — von meiner Seite aus steht nichts im Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf — na sagen wir auf morgen abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein — wir werden sie auf morgen abend zum Souper einladen — sie mag noch eine Kollegin mitbringen — und dann entwickelt sich alles weitere glatt und prompt historisch!«

Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.

Auf jeden Fall — geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings — na, wie nannte man das noch — hm, hm! sein — sagen wir also: Herz entdeckt hätte — dann möglichst schnell diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ...

Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte — heut abend? Nein — da würde die Aktion vermutlich ihren Effekt verfehlen — würde untergehen in einem Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück — das wird das richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben:

»Mein sehr verehrtes etcaetera! Zwei aufrichtige und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft etcaetera etcaetera. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos vergnügter Gesellschaft etcaetera, so würde uns das eine ganz besondere etcaetera ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der Damen am Bühneneingange etcaetera. Mit der Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen Verehrer

v. Dillingen. v. Gorczynski.«

Na ja — das übliche Schema — das nie versagende ... pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...

Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein — für jede einen — damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat — nicht wahr?

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