Читать книгу Komödiantinnen - Walter Bloem - Страница 6
4.
ОглавлениеAls der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ...
»Das ist der Vater — Jucundas Alter ist das — Papa Buchner hoch! hoch!«
Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen ...
Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke.
»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt — sah dankbar zu ihrem Beschützer empor und — sah in das verlegenheitglühende Gesicht ihres Mieters ...
»Gnädige Frau —« stammelte Pilgram.
Gnädige Frau —?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ...
»Herr Pilgram — nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...«
»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter — gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern morgen —«
»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram — scheen war's ja grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt denn 's Kind?«
's Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ...
»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...
Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.
Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:
»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«
Und sieh — nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der Mädels flatterten ...
»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«
Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.
»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend.
»Aber Sie — Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und so was.«
»Erlauben Sie mal — Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen Stuhl.
»Gott — gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«
O Valentin Pilgram — wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell verbleichen würden ...
»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der Kanzleirat ...
Kinder —?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...
Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und heiß ...
»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf ...
Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten ...
Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.
»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«
»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama Buchner.
»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich — nu ich war eben ... neugierig war ich — auf meine Budennachbarin ...«
»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette an. »Na und — und was sagen Sie nu?«
»Gar nischt sag' ich —« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.«
»Hehe — da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte der Kanzleirat.
»Ach — das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...«
»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...«
»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.
»Ja — 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen und Bilderklexen und Verseschmieren — nee, davon hat man bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«
»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen —« meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram — Ihre Herren Eltern sollen leben.«
Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones satt:
»Erzählen Sie mir lieber von heut abend — erzählen Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«
»Aber Jucunda — so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir denken?«
»Na — nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«
»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C., wissen Sie? da muß man aushalten — und als wir kamen, hatte der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da — da kamen Sie — und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«
»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda —« kicherte der Kanzleirat.
»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder — es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen — und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram — die Idee, die war wohl von Ihnen?«
»Ehrlich gestanden, nein — so leid mir's tut — aber den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...«
»Schade — sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür —«
Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger.
»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«
Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern.
Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte ins Schlafzimmer.
Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.
»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«
»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«
Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.
»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«
»Ach, gnädiges Fräulein — ich bin ein schrecklich uninteressanter Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«
»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.
Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und so — wie soll ich mich nur ausdrücken?«
»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber — sowas zählt doch hoffentlich nicht?«
»Nein — Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«
»Und — sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts — nur vorwärts ... komme was wolle?!«
Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...«
»Schade —« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...«
»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und schrecklich ...«
»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an, abzufallen ...«
»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas geklammert.
»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«
»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...«
»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«
»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...«
Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.
Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.