Читать книгу Die leise Sprache der Toten - Otto Prokop - Walter Brendel - Страница 4
Einleitung
ОглавлениеDas Metier der Rechtsmedizin ist breit gefächert und in seiner Verbindung von Wissenschaft und Kriminalität nicht nur im populären Sinne spannend. Diese Spannung in einer Sammlung nach individuellen Maßstäben herauszufiltern und literarisch darzustellen, erweist sich als reizvolles Unterfangen. Über die literarische Auswahl der unglaublichsten Fälle sollte man jedoch das Alltägliche nicht aus dem Blick verlieren: Die intensive Beschäftigung mit den nicht immer appetitlichen Spuren von Gewalttaten und Unglücksfällen aller Art, die Auseinandersetzung mit den Irrungen und Wirrungen menschlichen Denkens und Handelns. Zwar lässt sich vieles messen, berechnen und an wissenschaftlichen Erfahrungen abgleichen, die Fallbeispiele machen jedoch deutlich, wie schmal zuweilen der Grat der Entscheidungsfindung ist. Das gilt insbesondere für die Begutachtung von Todesursachen. Der Kriminalist und der Staatsanwalt haben es leichter. Sie stellen die Fragen. Der Rechtsmediziner muss antworten, muss erklären. Für ihn gilt nicht die strafprozessuale Unschuldsvermutung oder der Zweifelssatz. Er muss fundiert Stellung beziehen: Trauernder Hinterbliebener oder Täter eines geschickt inszenierten Kapitalverbrechens? Fehler, Nachlässigkeiten oder leichtfertige, nicht hinterfragte Hypothesen entscheiden über Schicksale. Deshalb ist die Arbeit der Rechtsmedizin von hoher Verantwortung für Mensch und Gesellschaft geprägt. Ist sich die Gesellschaft dieser Bedeutung bewusst? Auch die „Anwälte der Toten“ wollen ausgebildet und sachlich wie personell hinreichend ausgestattet sein. Tote haben keine Lobby. Drittmittel lassen sich bei oder mit ihnen schwerlich einwerben. Bei allem Verständnis für das Diktat leerer Kassen, der Rechtsstaat definiert sich nicht zuletzt auch nach den Anstrengungen, die er zur Aufklärung und Ahndung schwerer Straftaten unternimmt.
Das Institut für gerichtliche Medizin der Charité befindet sich in einem gelben dreistöckigen Backsteingebäude und liegt in Berlin-Mitte. Es ist ein Zentrum für die Grundlagenforschung und angewandte Forschung der forensischen Medizin. Vor hundert Jahren wurde es als Berliner Leichenschauhaus eröffnet. An der Wand hängen zu Demonstrationszwecken menschliche Oberschenkelknochen, der Länge nach halbiert und schneeweiß. Darunter steht eine leere Bahre mit beflecktem Laken. Im angrenzenden kleinen Nebenraum, der lichtdurchflutet ist, liegt ein nackter toter junger Mann mit einer großen Flügelkanüle in der linken Leistenbeuge auf dem Seziertisch bereit.
Otto Prokop sitzt hinter einem großen Schreibtisch und tippt. Die Zimmerjalousien sind halb heruntergelassen, aus dem Radio erklingt Musik. Im halbdunklen geräumigen Arbeitszimmer herrscht merkwürdige Unordnung, Stapel von Büchern und Papieren bedecken den Boden, die hohen Wandregale sind zur Hälfte leer. Seitlich steht eine große Leiter. Der Tisch ist übersät mit Papieren, geöffneter Post, Stiften und Zeitungen. Neben einer grünen Glasschale liegen ein paar schöne exotische Muscheln und eine schwere Pistole. Zur Linken des Tisches steht ein wuchtiger alter Stahltresor. Er ist hell gestrichen und trägt auf dem Riegel die Aufschrift Uran. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen mehrere eher kleine Ölgemälde, ebenso an der Wand über der Sitzecke, Blumen- und Landschaftmotive, alle gemalt von Prokops Mutter, Elfriede Bachmayr – die im hundertsten Lebensjahr gestorben ist – war Malerin und bekam das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Flankiert werden sie von zwei Urkunden, einer sehr großen, mit blutrotem Siegel und einer kleinen in japanischer Schrift.
Professor Prokop trägt einen frisch gestärkten weißen Kittel, weißes Hemd mit Fliege, schwarze Hose und schwarze Schuhe. Sein Schädel ist in einem weißen Haarkranz umrahmt. Das Gesicht, so gut wie faltenlos, wird von einer Brille mit großen Gläsern beherrscht.
Neben seinem Lehrstuhl in Berlin war er ja auch noch die kommissarische Vertretung der verwaisten Lehrstühle für gerichtliche Medizin in Halle und Leipzig, in Leipzig musste er noch zusätzlich das Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalstatistik übernehmen, und bis 1963 auch noch die Leitung des Blutspendedienstes Berlin.
Eine Gehaltsbescheinigung existiert von damals, aus der seine Jahresverdienste an der Uni Leipzig hervorgehen. 1.000 Mark 1959, ebenso 1960, und 1962 waren es nur 666 Mark. Diejenigen, die ihre Lehrstühle verlassen haben, verdienten im Westen drüben weit besser und sind auch heute, im Alter, mit hohen Pensionen gesegnet.
Otto Prokop, der österreichisch-deutsche Gerichtsmediziner und forensischer Serologe, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin der Berliner Charité leistete einen wichtigen und international beachteten Einfluss auf die forensische Medizin und die Forschungspolitik in der DDR und war in ganz Deutschland anerkannt. Seine Lehrbücher und Monografien wurden zu Standardwerken wie sein Atlas zur Gerichtsmedizin. Prokop gehört zu den herausragenden Gerichtsmedizinern des 20. Jahrhunderts. Er soll in diesem Buch gebührend gewürdigt werden.