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Fakten und Fragen

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Als der Produzent Harvey Weinstein im Herbst 2017 von mehreren Schauspielerinnen sexueller Übergriffe angeklagt wurde, zeigte sich in den folgenden Wortmeldungen aus Hollywood ein Muster, das wir so ähnlich auch von den Missbrauchsfällen am Canisius-Kolleg und an der Odenwaldschule kennen: Obwohl scheinbar jeder wusste, dass es diesen Missbrauch gab, waren doch alle überrascht, als er öffentlich wurde. Das heißt, beinahe alle, die etwas wussten oder ahnten, haben es hingenommen anstatt Stellung zu beziehen. Während die, die zwar nichts Genaues wussten – aber es gekonnt hätten, wenn sie nur gewollt hätten – einfach stillschweigend davon ausgegangen sind, dass es so schlimm dann sicher doch nicht sein könne. Und wieder andere haben die Vorkommnisse geradeheraus bagatellisiert oder Witze darüber gemacht. Es waren ja nur absurde Gerüchte – oder etwa nicht?

Eben diese Mischung aus Gerüchten, Verdrängung und Witzen kennen vermutlich nicht wenige katholische Gläubige in Bezug auf eine Opfergruppe, die es bisher noch kaum je geschafft hat, als solche ernst genommen zu werden: Ordensfrauen. Auch über die „sexuellen Erfahrungen“ von „Nonnen“ macht man lieber Witze. Mancher glaubt, es wäre alles doch eher harmlos, das heißt, auf wenige einvernehmliche sexuelle Handlungen beschränkt, zu der auch die eine oder andere Ordensfrau sich einmal hinreißen lässt – was für eine unterhaltsame Vorstellung, nicht? Auch Ordensfrauen sind ja nur Menschen. Andere, die diese Vorstellung weniger lustig finden mögen, gehen vielleicht davon aus, dass es da außer Gerüchten gar nichts gibt. Wie auch immer Einzelne damit umgehen: Es ist traurig. Denn wir sind über die Stufe bloßer Gerüchte längst hinaus. Die Faktenlage über den von Ordensfrauen erlittenen sexuellen Missbrauch ist schlicht und einfach bedrückend. In der Kirche vernimmt man dazu bislang allerdings nur dröhnendes Schweigen. – Dieses Schweigen kann ein Artikel allein freilich nicht beenden. Aber er kann zumindest die gesammelten, längst allen zugänglichen Fakten einmal mehr ins Licht der Öffentlichkeit stellen.

Die Nonnen von Sant’Ambrogio – Geschichte eines Missbrauchssystems

Vor einigen Jahren hat der Kirchenhistoriker Hubert Wolf mit seinem Buch „Die Nonnen von Sant’Ambrogio“ einen Bestseller gelandet. Die von ihm analysierten Quellen werfen Licht auf eine Geschichte, die der Feder von Dan Brown entsprungen sein könnte. Bedauerlich ist, dass sie von der kirchlichen Öffentlichkeit auch so behandelt zu werden scheint. Denn man kann und darf dieses Buch gerade nicht wie reine Fiktion zur Seite schieben, schließlich zitiert Wolf über Seiten hinweg eins zu eins historische Quellen. Er erzählt die Geschehnisse in einem römischen Frauenkloster im 19. Jahrhundert vor allem als die einer falschen Heiligen, der hochrangige Kleriker – darunter brisanterweise ein sehr prominenter Verfechter des Unfehlbarkeitsdogmas – auf den Leim gehen. Dabei ist diese Geschichte zugleich, wenn nicht vor allem, die Geschichte eines Missbrauchssystems. Über viele Seiten hinweg zitiert Wolf Aussagen, in denen Betroffene en detail schildern, wie die „Mutter Äbtissin“ kraft ihrer Machtposition und ihrer „Aura der Heiligkeit“ die ihr anvertrauten Schwestern nicht nur systematisch sexuell missbraucht, sondern diesen Missbrauch auch noch zum Gnadenerweis deklariert hat, ohne dass jemand es gewagt hätte, sich ihr zu verweigern oder gar sich ihr in den Weg zu stellen. Was Wolf hier zu Tage gefördert hat, ist ein Paradebeispiel eines Missbrauchssystems: Eine Person, die über andere praktisch absolut verfügen kann, nutzt ihre Machtfülle aus, um sich an den von ihr Abhängigen sexuell zu vergehen, und lässt die wenigen Personen, die eigentlich eine Kontrollfunktion wahrnehmen könnten, auch noch bei diesem Missbrauch assistieren.

Umso mehr erstaunt es, dass die missbrauchten Frauen im Buch kaum als Opfer in den Blick kommen. Denn auch wenn Wolf das Geschehen ausdrücklich als sexuellen Missbrauch bezeichnet, scheint sich manchem der Einwand aufzudrängen, den der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung wie folgt formuliert: „Ob die Ausdrücke ‚sexueller Missbrauch’ und ‚lesbische Sexualität’ dem Fühlen und Denken von Ordensschwestern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einfachsten ländlichen Verhältnissen aufwuchsen, gerecht werden, steht dahin.“ Nun ist es tatsächlich möglich, dass die Opfer sich selbst nicht unbedingt als Opfer gesehen haben, waren sie doch fest davon überzeugt, Gnadenerweise zu erhalten – ähnlich vielleicht wie eine junge Schauspielerin ein Treffen mit einem einflussreichen Produzenten als Gnadenerweis erleben kann. Zudem dürften bei Novizinnen im 19. Jahrhundert tatsächlich weder das Bewusstsein für ihr Recht auf persönliche und sexuelle Selbstbestimmung noch die zur Benennung des erlebten Unrechts nötigen Begriffe vorhanden gewesen sein. „Sexuellen Missbrauch“, „übergriffiges Verhalten“ oder „Grenzverletzungen“ hat es im 19. Jahrhundert als Begriffe wohl kaum gegeben. Dabei sind solche Begriffe gerade für Opfer von zentraler Bedeutung, nicht nur um das Erlebte auszudrücken, sondern zu allererst um es selbst zu begreifen. Die Nonnen von Sant’ Ambrogio hatten also kaum eine Chance, begreifen zu können, welches Unrecht ihnen angetan wurde. Aber aus diesem mangelnden Bewusstsein der Opfer zu schlussfolgern, dass das, was diese Frauen erlebt haben, kein Missbrauch gewesen wäre, hieße Machtmissbrauch für unbedenklich zu erklären, solange nur eben den Missbrauchten das Bewusstsein für das ihnen angetane Unrecht fehlt. Es hieße, den Tätern in die Hand zu spielen, zu deren Strategie es gehört, ihren Opfern einzureden, der Missbrauch wäre keiner, sondern etwas ganz Normales, wenn nicht gar eben ein besonderer Gnadenerweis. Ein allzu großes Verständnis für eine Zeit oder eine andere Kultur, in der Missbrauch vermeintlich normal erscheint, verbietet sich spätestens dann, wenn es sich um einen Missbrauch handelt, der unserer Zeit und Kultur näher ist, als wir es uns wünschen können.

Denn auch wer geneigt sein mag, den Missbrauch der Nonnen von Sant’ Ambrogio als Vergangenheit abzutun – als etwas, das es früher gegeben haben mag, das uns heute vielleicht noch erschrecken kann, dessen Existenz es natürlich auch irgendwie anzuerkennen und das es vielleicht aufzuarbeiten gilt, das aber sonst keinen Handlungsdruck mehr nach sich zieht, weil die Täterinnen, die Täter und Opfer von damals nicht mehr unter uns sind – kann nicht wirklich davon ausgehen, dass solche Übergriffe Vergangenheit sind. Jeder, der es sehen will, weiß, dass es auch in unseren Ordensgemeinschaften heute noch Täter, Täterinnen und Opfer von sexuellem Missbrauch gibt.

Die Berichte von M.

Wer eine Zeit lang auf dem afrikanischen Kontinent gelebt hat oder wer in den vergangenen zwanzig Jahren in Rom Theologie studiert oder unterrichtet hat, kennt vermutlich einschlägige anzügliche Witze über afrikanische Klöster, Priester und Ordensschwestern, über ihren Kinderreichtum und ihre Verhütungsprobleme. Dass diese Witze augenzwinkernd beiseitegeschoben werden, macht es nicht besser. Im Gegenteil: Angesichts der längst bekannten Fakten erscheint es völlig unverständlich, dass das Leid der betroffenen Frauen, die sich ja in den Dienst der Kirche gestellt haben, niemanden in der Kirche ernsthaft zu interessieren scheint. Und es ist schlichtweg unbegreiflich und empörend, dass dieses Problem immer noch als ein nicht allzu ernst zu nehmendes und allenfalls rein afrikanisches wahrgenommen wird.

Es ist ja nicht so, dass die Fälle den zuständigen kirchlichen Verantwortlichen, insbesondere der Ordenskongregation in Rom, nicht bewusst wären. Es scheint nur einfach nichts dagegen unternommen zu werden. Dieser Umstand wird besonders deutlich, wenn man sich die Diskrepanz vor Augen führt, die zwischen den Ausmaßen der bekannt gewordenen Vorfälle und der offiziellen kirchlichen Reaktion auf diese Fälle besteht. Neben M. von dem Missionaries of Our Lady of Africa und der Benediktinerin E. war es vor allem O’D. von den Medical Missionaries of Mary, die in den 1990er-Jahren auf das Problem aufmerksam machte. Die amerikanische Ordensfrau und Entwicklungshelferin arbeitete jahrelang in verschiedenen afrikanischen Ländern und wurde in dieser Zeit immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen Ordensfrauen von Priestern missbraucht worden waren. Die schiere Anzahl und Schwere der Fälle veranlassten sie schließlich dazu, eine umfassende Dokumentation darüber nach Rom zu schicken. Im Jahr 1995 ging ihr Bericht, zusammen mit denen anderer, an den damaligen Vorsitzenden der Religiosenkongregation, Eduardo Martínez Somalo.

In diesen Berichten ist von weitverbreitetem Missbrauch (widespread abuses) von Ordensfrauen durch Priester die Rede. Priester fürchteten, sich bei Prostituierten und anderen sexuell aktiven Frauen mit AIDS anzustecken, und würden daher Schwestern als „sichere“ Sexualpartnerinnen betrachten. Es soll vorgekommen sein, dass „eine Oberin von Priestern aufgefordert wurde, ihnen Schwestern für sexuelle Gefälligkeiten zur Verfügung zu stellen. Als die Oberin das ablehnte, erklärten die Priester, dass sie ansonsten gezwungen wären, ins Dorf zu gehen, um dort Frauen zu finden, und dass sie so AIDS bekommen könnten“. Priester würden den sexuellen Kontakt unter anderem im Austausch für Empfehlungsschreiben erzwingen, auf die die Schwestern angewiesen wären. In einem Fall wären 29 Ordensfrauen ein und derselben Gemeinschaft in Malawi von Diözesanpriestern schwanger geworden. Als die Oberin sich beim Bischof darüber beschwerte, sei sie vom Diözesanbischof abgesetzt worden.

In vielen Fällen, in denen Schwestern schwanger geworden wären, hätten Priester milde Ermahnungen erhalten, während die schwangeren Frauen ihre Gemeinschaften verlassen mussten, was sie nicht selten in extreme existenzielle Notlagen brachte. Für ihre Familien eine Schande, von ihren Gemeinschaften verstoßen, sahen sich manche – dann alleinstehende Mütter – gezwungen, als Zweit- oder Drittfrauen in eine Ehe einzuwilligen oder aber sich zu prostituieren, um ihr eigenes Überleben und das ihres Kindes zu sichern, wobei sie sich zusätzlich der Gefahr aussetzten, sich mit AIDS zu infizieren. Am meisten schockieren Fälle, in denen es zum Tod der Opfer oder zu erzwungenen Abtreibungen gekommen sein soll. So berichtet O’D. unter anderem über einen Fall, in dem ein Priester eine junge Ordensfrau, die von ihm schwanger geworden war, zur Abtreibung in ein Krankenhaus gebracht hatte. Die Frau wäre während des Eingriffs verstorben. Derselbe Priester, der sie missbraucht und zur Abtreibung gezwungen hatte, habe anschließend die Requiem-Messe für sie gehalten.

Wie fiel die offizielle Reaktion auf diese Berichte aus? Zunächst blieben beide – die Berichte ebenso wie eventuelle Reaktionen der Ordenskongregation – geheim. Erst als die Berichte 2001 an die Öffentlichkeit kamen und unter anderem vom National Catholic Reporter und der New York Times aufgegriffen wurden, gab der damalige vatikanische Pressesprecher, Joaquín Navarro-Valls, eine Erklärung ab, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Ja, diese Fälle wären in Rom bekannt. Allerdings wäre das Problem auf einen kleinen geographischen Raum beschränkt. Man würde daran arbeiten, die Ausbildung dort zu verbessern und einzelne Fälle zu lösen. Auch dürfe der heldenhafte Glaube der großen Mehrheit von Ordensleuten nicht vergessen werden. Viel mehr als die Herausgabe dieses Statements scheint seither nicht geschehen zu sein.

Auch wenn die gängigen Gerüchte und Witze über afrikanische Klöster zeigen, dass diese Kommunikationsstrategie, nämlich die Rede von einem „kleinen geographischen Raum“, aufgegangen zu sein scheint, spricht tatsächlich nicht viel dafür, dass Navarro-Valls mit der Behauptung der lokalen Beschränktheit des Phänomens Recht gehabt haben könnte. Denn erstens liefert er in seinem Statement keinerlei Evidenz für diese Behauptung, und zweitens werden in den Berichten immerhin Vorfälle in dreiundzwanzig Ländern genannt, darunter auch Italien, Irland, die Philippinnen, Indien, Brasilien und die Vereinigten Staaten.

Eine amerikanische Studie mit erschreckendem Befund

Navarro-Valls hätte zudem eine Studie kennen können, die einige Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten durchgeführt worden war. Ausgangspunkt der Studie war der klinische Alltag: US-amerikanische Psychologen, die mit den Traumata sexuell missbrauchter Ordensfrauen vertraut waren, fassten Mitte der 1990er-Jahre den Entschluss, sich systematisch mit der Thematik auseinanderzusetzen. Weil die Literatur zu solchen Fällen ausgesprochen mager – um nicht zu sagen non-existent – war, brachten sie selbst eine Untersuchung zu diesem Thema auf den Weg. Sie befragten 578 Ordensfrauen aus drei verschiedenen Instituten in den USA. Im Ergebnis erwies sich sexueller Missbrauch als erschreckend normal. Von den befragten Frauen gaben 39,9 Prozent an, sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. 29,3 Prozent sagten, sie wären während ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft sexuell missbraucht worden. In 39 Prozent aller berichteten Fälle kam es auch zu genitalem Kontakt.

Die häufigste Form des Missbrauchs war sexuelle Ausbeutung. Sie ist dadurch definiert, dass ein in einer professionellen Beziehung bestehendes Machtungleichgewicht vom überlegenen Part, der eigentlich zur professionellen Distanz verpflichtet wäre, dazu ausgenutzt wird, sich der ihm anvertrauten Person sexuell zu nähern. Aufgrund des bestehenden Machtungleichgewichts und der Rolle des professionellen Parts kann es in solchen Beziehungen keine einvernehmlichen sexuellen Kontakte geben. Die Forscher dazu: „Sexuelle Ausbeutung lässt sich am besten im Sinne einer Verletzung der Berufsethik definieren. Sie liegt vor, wenn eine Person in einer professionellen Verantwortungsposition die Abhängigkeit und Verwundbarkeit einer ihr anvertrauten Person ausnutzt. [...] Es ist immer die Aufgabe des Verantwortlichen, sexuelles Verhalten in diesen Beziehungen zu vermeiden, weil: (a) es eine Verletzung der Professionalität darstellt; (b) es sich um einen Missbrauch von Autorität und Macht handelt; (c) Verwundbarkeit und Abhängigkeit einer schwächeren Person ausgenutzt werden; und (d) eine sinnvolle Zustimmung unmöglich ist, da die Zustimmung zu sexuellen Handlungen nur in einer Atmosphäre der Gegenseitigkeit und Gleichheit erfolgen kann.“ Das bedeutet auch: „Ausbeutung geschieht unabhängig davon, ob der unterlegene Part glaubt, freiwillig eine sexuelle Beziehung mit dem Professionellen einzugehen oder nicht.“

Zwei Umstände ließen die Opfer tatsächlich in vielen Fällen glauben, sie hätten in die Handlungen eingestimmt: Dass der Priester durch die Taten sein eigenes Zölibatsversprechen brach, erzeugte für die Schwestern eine Illusion von Augenhöhe zwischen ihnen und dem jeweiligen Täter. Zum anderen bauten die Täter oder Täterinnen in vielen Fällen den Eindruck einer besonderen, womöglich gottgefälligen Liebesbeziehung auf. Viele Opfer realisieren erst spät, dass sie ausgenutzt und missbraucht wurden, etwa wenn die vermeintlich liebende Person ihr freundliches Gesicht ablegte, ein „Nein“ des Opfers nicht akzeptierte oder über dessen Nöte und Ängste gleichgültig oder gewaltsam hinwegging und das Machtungleichgewicht dadurch wieder im vollen Umfang spürbar wurde. Ein Schlüsselerlebnis schien für viele die Erkenntnis zu sein, dass derselbe Täter oder dieselbe Täterin auch sexuellen Umgang mit anderen Schwestern pflegte.

Wie schon angedeutet, gab es auch Täterinnen: Um die 13 Prozent der Befragten gaben an, sexuelle Ausbeutung oder Belästigung durch eine Mitschwester erlebt zu haben. In den weitaus meisten Fällen waren die Täter aber männlich und Kleriker. Meistens waren sie die Beichtväter und geistlichen Begleiter ihrer Opfer. Die Opfer nennen als Folgen der Missbrauchserfahrungen unter anderem Schuld- und Schamgefühle, eine gestörte Gottesbeziehung, Depressionen bis hin zu Suizidgedanken.

Über die Studie wurde in zwei amerikanischen Fachzeitschriften berichtet: Im Sommer 1998 erschien eine Zusammenfassung der Ergebnisse in der Review for Religious, im Dezember desselben Jahres in der Review of Religious Research. Was waren die Folgen? Was ist seither geschehen? Ein Zeitungsbericht zitiert einen der Forscher mit den Worten, die Forschergruppe hätte damals zusagen müssen, keine Pressemitteilung über die Studie herauszugeben, weil die Leadership Conference of Women Religious (LCWR) besorgt gewesen wäre, die Daten könnten sensationalistisch ausgeschlachtet werden. Der Forschungsleiter hätte den Eindruck gehabt, man wolle seine schmutzige Wäsche lieber nicht in der Öffentlichkeit waschen. Offizielle Reaktionen auf die Studie scheint es in den vergangenen zwanzig Jahren weder von der LCWR noch von einzelnen Instituten gegeben zu haben.

Fälle aus der jüngsten Vergangenheit

Leider hat es auch in der jüngsten Vergangenheit Fälle gegeben. So berichtete The Korea Times erst vor kurzem von einem Fall aus dem Jahr 2011, der im Februar 2018 öffentlich bekannt geworden war. Die koreanische Ordensfrau K. war während eines Einsatzes im Sudan von H. M., einem koreanischen Diözesanpriester, belästigt worden. Während beide im Sudan waren, „musste sie die ganze Nacht aufbleiben, weil sie befürchtete, dass H.M. ihr Zimmer einbrechen und sie vergewaltigen würde. Dieser hämmerte stundenlang bis in die Morgendämmerung auf ihre Türe ein. Eines Tages brach er das Schloss auf, kam in ihr Zimmer und sagte: ‚Ich kann meinen Körper nicht kontrollieren, also solltest du mir helfen.’ K. sagte, dass sie es kaum schaffte, aus dem Raum zu entkommen.“ Obwohl die Ordensfrau sich hilfesuchend an zwei andere Priester wandte, die dort waren, unternahmen diese nichts. Mittlerweile ist H.M. suspendiert worden.

Es gibt aber auch prominente jüngere Fälle aus Europa, wie jenen des Gründers der Johannesgemeinschaft, Marie-Dominique Philippe. Er entwickelte eine Spiritualität der geistlichen Liebe, die er (und vermutlich auch andere Patres derselben Gemeinschaft) dazu nutzte, sich jungen Schwestern und anderen jungen Frauen sexuell zu nähern. Bekannt geworden ist auch der Fall von G. C., dem Gründer der Gemeinschaft der Seligpreisungen, der über Jahre hinweg junge Ordensfrauen in sogenannten „mystischen Vereinigungen“ zum Geschlechtsverkehr zwang. Eine Zeugin dieser Vorfälle erinnert sich wie folgt: „Eines Tages begann er mir zu erklären, dass er die ‚mystische Vereinigung’ praktizierte, eine Vereinigung des Gebets, aber auch eine sexuelle Vereinigung, die ihm zufolge von der heiligen Klara mit dem heiligen Franziskus von Assisi oder von Papst Johannes Paul II. mit Schwester Faustina Kowalska vollzogen worden wäre. Er behauptete, dass das nur wahre Mystiker verstehen könnten. Lassen Sie es mich anders formulieren: Er hat die Schwestern verführt und mit ihnen geschlafen, indem er sie davon überzeugt hat, dass es der Wille des Himmels war. Ich war am Boden zerstört, als ich das erfuhr, und ich brauchte Tage, um es zu begreifen. Ich beschloss damals, es dem Leiter zu sagen, aber er glaubte mir nicht. Also habe ich in seiner Gegenwart E. am Telefon angerufen. Ich schaltete auf Lautsprecher und sprach mit E. über eine junge, psychisch fragile Schwester, mit der er regelmäßig schlief. Ich fragte ihn, was wäre, wenn sie schwanger würde. In dem Glauben, dass er mit mir allein war, antwortete E.: ‚Sie wird in die Vereinigten Staaten fliehen, das Kind auf die Welt bringen, und dann werden wir so tun, als hätte sie es adoptiert.’ Ich war sehr besorgt um diese Schwester. E. hatte in der gleichen Nacht mit ihr geschlafen, in der sie ihre Gelübde ablegte.“

Neben diesen öffentlich bekannt gewordenen Fällen gibt es eine schwer kalkulierbare Zahl (bislang) nicht öffentlich gewordener Fälle. Von letzteren können beispielsweise die Mitglieder von AVREF [Aide aux Victimes de mouvements Religieux en Europe et Familles] erzählen. Dem Verein mit Sitz in Paris, der sich um Opfer von geistlichem Missbrauch in katholischen Gemeinschaften kümmert, liegen Opferberichte vor, die darauf schließen lassen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Das Muster ist immer dasselbe: Oft sehr junge Ordensfrauen werden von Priestern missbraucht, die ihre Rolle als Gründer, Beichtväter oder geistliche Begleiter ausnutzen, um die Frauen zu – bisweilen spirituell überhöhten und vermeintlich einvernehmlichen, bisweilen aber auch gewaltsam erzwungenen – sexuellen Handlungen zu nötigen. AVREF kümmert sich vor allem um die Fälle, über die wohl kaum jemals in irgendeiner Zeitung berichtet werden wird. Die meisten Opfer sind von ihren Erlebnissen so verletzt, verwirrt und nicht selten traumatisiert, dass sie schlicht nicht in der Lage sind, an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn sie es überhaupt fertig bringen, sich jemandem anzuvertrauen. Auch das geschieht oft nur zaghaft und erst viele Jahre nach den Missbrauchserfahrungen.

Das Resümee des hier gesammelten Befundes kann nur aus zwei sehr deutlich und drängend formulierten Fragen bestehen: Wie kommt es, dass Ordensfrauen in einer so erschreckend hohen Zahl Opfer von sexuellem Missbrauch werden konnten (und vermutlich immer noch werden)? Und: Wie kommt es, dass niemand in der Kirche sich diese Frage ernsthaft zu stellen scheint?

Dass kirchliche Einrichtungen sich zwar einerseits der Schwere interner Vorfälle offensichtlich bewusst sind, aber andererseits kaum andere Maßnahmen ergreifen als diese möglichst von der Öffentlichkeit fernzuhalten, ist ein Phänomen, mit dem wir schon in den Kindesmissbrauchsfällen traurige Bekanntschaft gemacht haben. Allerdings hat die Kirche sich im Umgang mit Kindesmissbrauch erstmals gezwungen gesehen, sich trotz dieser internen Tendenz öffentlich mit den Taten und der eigenen institutionellen Verantwortung auseinanderzusetzen. Warum sollte eine solche Auseinandersetzung hier nicht auch möglich sein, wo wir Grund zur Annahme haben, dass es in mindestens dreiundzwanzig afrikanischen, asiatischen, europäischen und amerikanischen Ländern zu sexuellem Missbrauch an Ordensfrauen gekommen ist, dass dieser Missbrauch teils Todesfälle, erzwungene Abtreibungen, schwere psychische Erkrankungen und jahrzehntelanges Leid Betroffener nach sich gezogen hat, dass er womöglich um die dreißig Prozent aller Ordensfrauen betrifft und nach wie vor stattfindet?

Die eigentliche Frage ist aber nicht die nach den Ursachen des Schweigens, sondern die nach den Ursachen des Missbrauchs (wiewohl beide vermutlich eng zusammenhängen): Wie ist es möglich, dass Ordensfrauen in einer so erschreckend hohen Zahl Opfer von sexuellem Missbrauch werden konnten? Welchen Anteil haben Machtverhältnisse zwischen Oberinnen und Schwestern, zwischen Priestern und Schwestern? Welchen Anteil hat eine vielleicht spezifische Dynamik der geistlichen Begleitung zwischen zölibatär lebenden Menschen? Wie offen kann über solche Fälle in den Gemeinschaften gesprochen werden? Finden Opfer in ihren Gemeinschaften eine Atmosphäre vor, in der sie reden können, eine Atmosphäre, in der die Reputation der Gemeinschaft im Zweifelsfall nicht über dem Wohlergehen des einzelnen Mitglieds steht? Wie soll mit Tätern umgegangen werden – auch und gerade dann, wenn es sich vielleicht um angesehene Kleriker und renommierte geistliche Begleiter handelt?

Nicht zuletzt gilt es, die Frage nach der Stellung von Ordensfrauen im kirchlichen Machtgefüge zu stellen. Ist die Ignoranz gegenüber den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen vielleicht nicht nur eine Reaktion auf den Missbrauch, sondern ebenso eine Ursache für diesen Missbrauch? In der diesjährigen Märzausgabe des Osservatore Romano haben sich mehrere Ordensfrauen zu Wort gemeldet, deren Aussagen eine solche These zumindest stützen würden. Die Ordensfrauen berichten von Ausbeutungserfahrungen. Viele Schwestern würden ohne Arbeitsvertrag und ohne vernünftige Bezahlung als Haushälterinnen oder pastorale Mitarbeiterinnen arbeiten. Schwestern würden Priestern und Bischöfen gewissermaßen zur Verfügung gestellt werden, um für sie zu putzen, die Wäsche zu waschen, ihnen das Essen zu servieren – aber sie würden bisweilen nicht einmal eingeladen, mit dem jeweiligen Würdenträger am selben Tisch zu essen. Eine Schwester wird mit den Worten zitiert: „Die Schwestern werden als Freiwillige betrachtet, über die nach Belieben verfügt werden kann. Das führt zu echtem Machtmissbrauch.“ Dass die Frauen, die in diesem Artikel zitiert werden, sich dazu entschieden haben, anonym zu bleiben, zeugt von einem Klima der Angst in der Kirche, das es von Seiten der Verantwortlichen zu überwinden gilt, indem sie diesen Frauen entgegenkommen. Es ist allerdings ein bemerkenswerter und hoffnungsvoller Schritt, dass sie sich überhaupt zu Wort gemeldet haben.

Überhaupt gibt es Anlass zur Zuversicht, dass wir uns in einem geschichtlichen Moment befinden, der günstig ist, um endlich über dieses Thema zu sprechen. Wir erleben eine anhaltende Debatte, in der Frauen weltweit über sexuellen Missbrauch sprechen und Gehör finden. Die Zeit der Aussprache hat aber im Grunde schon vor Jahrzehnten begonnen, nämlich in dem Moment, in dem M.O’D., M. und E. erstmals mit Nachdruck auf den sexuellen Missbrauch von Ordensfrauen aufmerksam gemacht haben. Und auch wenn die bekannt gewordenen Fälle lange totgeschwiegen wurden, ist seither nicht nichts passiert: Langsam und nachhaltig hat sich bei bestimmten Menschen in der Kirche ein Bewusstsein dafür etabliert, dass es solche Fälle gibt und dass es notwendig ist, darüber zu sprechen. Als ich im vergangenen Herbst einen Vortrag über geistlichen Missbrauch hielt, bei dem unter anderem geistliche Begleiter und Leiterinnen von Exerzitienhäusern aus verschiedenen deutschen Diözesen anwesend waren, war ich überrascht, wie deutlich sich einige der Anwesenden spontan in Bezug auf dieses Thema – das ja mit dem Vortragsthema nicht unmittelbar in Zusammenhang stand – zu Wort meldeten. Sie versicherten, sexueller Missbrauch wäre ein großes Thema für Ordensfrauen. In der geistlichen Begleitung und in Exerzitien würde das immer wieder angesprochen.

Wenn Opfer erst einmal eine Stimme gefunden haben, um in einem geschützten Rahmen über das ihnen angetane Leid zu sprechen, haben sie damit schon den ersten Schritt zur Aufarbeitung getan. Die kirchliche Gemeinschaft und die Ordensgemeinschaften sollten ihnen nun entgegenkommen. Wir wissen mittlerweile ja nicht nur, dass die prädominante Sorge um das institutionelle Ansehen, das damit verbundene Schweigen und das Beharren auf „internen Lösungen“ nicht dazu führen, dass Missbrauch wirksam bekämpft werden kann. Wir wissen auch, dass Opfer sexuellen Missbrauchs auch nach Jahrzehnten noch unter den Taten leiden und Hilfe brauchen – und zwar nicht nur Hilfe in Form von Therapien: Opfer brauchen mindestens ebenso existenziell die offizielle Anerkennung des von ihnen erlittenen Unrechts. Sie haben außerdem ein Recht auf die Verantwortungsübernahme durch die in vielen Fällen mitschuldig gewordenen Institutionen und auf die Verfolgung der Täter. Wir wissen aber mittlerweile auch, dass die prädominante Sorge um das institutionelle Ansehen, das damit verbundene Schweigen und das Beharren auf „internen Lösungen“ nicht dazu führen, dass Missbrauch wirksam bekämpft werden kann.

Auf den erschreckenden, in diesem Buch zusammengetragenen Befund scheint es mir nur eine angemessene Reaktion von kirchlicher Seite zu geben: Die Bedingungen des Missbrauchs zu untersuchen, die Täter zu konfrontieren und zur Rechenschaft zu ziehen und wirksame Maßnahmen zur Vermeidung künftiger Fälle zu ergreifen. Zuallererst aber gilt es den Opfern die Angst vor dem Sprechen zu nehmen und ihnen Gehör zu schenken. Es ist die Aufgabe der kirchlichen Verantwortlichen, der Religiosenkongregation, der Ordensoberen, der Ortsordinarien, der Bischofsvikare für das geweihte Leben und der Ordensreferentinnen der einzelnen Diözesen, den Opfern von offizieller Seite das zuzurufen was „Schwester C. sich im Osservatore nur unter Pseudonym zu sagen traut: „Ihr habt das Recht zu reden!“

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