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Aufbau des Ordnungssystems
ОглавлениеDie Mitglieder eines königlichen Rats können so etwas nicht hin-nehmen und befassen sich zu dieser Zeit mit der Reform der städtischen Ordnung. Der Rat beschneidet kurzerhand die Rechte des bisherigen Zivilleutnants und überträgt seine Macht auf einen neuen Posten: den Generalleutnant, der formal der Stadt, de facto aber dem König untersteht. Damit dehnt Ludwig XIV seinen Einfluss auf die Hauptstadt aus. Am 15. März 1667 ernennt er Nicolas de La Reynie zum lieutenant general depolice.
Der 41-jährige fromme Christ stammt aus einer Familie, die seit Generationen Juristen und königliche Beamte hervorbringt. Er war Richter in Bordeaux, ehe er nach Paris zog. La Reynie hat keine familiären Bindungen an den Adel der Hauptstadt. Er kann der Arbeit für seinen König nachgehen, ohne Rücksichten nehmen zu müssen.
Doch der Generalleutnant steht vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Das Edikt, mit dem sein Posten geschaffen wurde, zählt auf 22 Zeilen seine neuen Pflichten auf: Überwachung der Straßenreinigung, Feuerbekämpfung, Hochwasserschutz, Versorgung der Stadt, Inspektion der Metzger, Markthallen, Jahrmärkte, Hotels, Kneipen und Spielhöllen, Kontrolle der Gewichte und Maßeinheiten, Untersuchung illegaler Versammlungen und Ruhestörungen.
Als Richter urteilt er zudem in Fällen von unerlaubter Bettelei, Prostitution oder Streitigkeiten zwischen den Eltern eines Lehrlings und dessen Meister. La Reynie ist der erste moderne Polizeichef Europas. Und noch mehr: Er bewältigt die gleichen Aufgaben, für die in späteren Jahrhunderten ein Bürgermeister zuständig sein wird.
Der neue Polizeileutnant bezieht eine Amtsstube im Chatelet, der ehemaligen Burg, die als Gericht, Gefängnis und Folterkammer dient. Er stürzt sich mit Eifer in seine Arbeit. La Reynie besucht Gefangene, liest Romane, um zu entscheiden, ob sie als pornografisch oder verleumderisch verboten werden müssen. In Zeiten schlechter Ernten verhandelt er mit den Getreidehändlern, um Hungerunruhen zu vermeiden.
Streng ist der Polizeileutnant mit seinen Untergebenen. Vor allem dann, wenn sie ihren Vorurteilen folgen und nicht den Fakten: Auch der ärmste Pariser kann erwarten, dass La Reynie seinen Fall untersucht, ihn manchmal sogar persönlich anhört.
Als Erstes aber versucht der Leutnant, seine Ordnungstruppen neu zu organisieren. Die Pariser vergleichen ihre Stadt mit einem finsteren Wald: Jede Nacht werden gut ein Dutzend ertrunkene oder er-mordete Menschen in die städtische Leichenhalle im Chatelet eingeliefert.
La Reynie stockt die Nachtwache auf, von 120 Mann auf 400. Ihr Gehalt wird mehr als verdoppelt.
Dafür müssen sie jeden Tag von der Dämmerung bis zwei Uhr nachts auf Streife gehen, bewaffnet mit Pistole und einer schweren Laterne. Sie bewegen sich in Gruppen von vier oder fünf Polizisten und auf Befehl ihres Chefs stets auf neuen, unvorhersehbaren Routen. In späteren Jahren werden sie blaue Uniformen erhalten.
Ihre Dienstmoral lässt dennoch zu wünschen übrig: Schon bald wird La Reynie verbieten, den Männern an jenen Tagen ihren Sold auszuzahlen, an denen sie zur Streife eingeteilt sind - damit sie sich nicht schon vor Sonnenuntergang betrinken.
Mit dem Amt des Generalleutnants führt Ludwig XIV auch die Schlamm- und Laternensteuer ein. Denn als La Reynie ernannt wird, gilt Paris als schmutzigste Stadt der Welt. Der Dreck in den Straßen stinkt nach Schwefel, Fußgänger ruinieren sich Schuhe und Kleidung. „Das haftet wie Pariser Schlamm“, sagen die Hauptstädter.
La Reynie zwingt die Hausbesitzer, jeden Abend vor ihren Grundstücken zu kehren. Zweimal im Jahr müssen sie ein Prozent von dem abgeben, was ihr Gebäude an Miete abwirft. Von dem Geld bezahlt der Polizeileutnant Unternehmer, die täglich mit Karren durch die Straßen ziehen und dabei Glöckchen läuten. Sie schaufeln die Dreckhaufen in ihr Gefährt und nehmen die Fäkalien entgegen, die ihnen die Bewohner in Körben oder Eimern heraustragen.
Doch die Hauptstädter gewöhnen sich nur langsam an die Sauberkeit, und noch bis ins nächste Jahrhundert werden viele an der Tradition festhalten, den Nachttopf einfach aus dem Fenster zu kippen. Mancher kommt dabei zu Tode, weil er sich zu weit hinauslehnt und auf die Straße fällt oder sich mit wütenden Passanten duellieren muss.
Eine andere Neuheit dagegen begeistert die Pariser. La Reynie kauft rund 5000 Laternen, dazu jedes Jahr 200 000 Pfund Kerzen. Die Lichter werden alle 20 Meter auf Höhe des ersten Stocks zwischen den Häusern oder an den Wänden aufgehängt. Einmal im Jahr wählen die Anwohner einer Strecke von zehn Laternen einen Anzün-der. Dieser muss jeden Abend mit einem Korb voller Talgkerzen durch die Straße gehen und die Laternen bestücken. Er läutet eine kleine Glocke, damit die Hausbesitzer die Lichter rechtzeitig herunterlassen.
Beim Klingeln versammeln sich die Pariser an den Fenstern oder bleiben staunend stehen, um dieses Schauspiel jeden Abend von neuem zu bewundern: Wie die Laterne herabschwebt, leuchtend wieder hinaufgezogen wird und die Nacht erhellt. An der Hauswand flackert beruhigend der Schatten des eisernen Hahns, der als Zeichen der Wachsamkeit oben auf den Laternen sitzt.
ZEHN JAHRE nach dem Amtsantritt des Polizeileutnants wird La Reynie in einem Loblied gepriesen: „Paris ist dank seiner umsichtigen Sorge und seiner klugen Verordnungen heute die schönste und zivilisierteste Stadt der Welt.“
Vermutlich steigt er manchmal auf den Turm des Chatelets hinauf, eines der höchsten Gebäude von Paris, um seine Stadt zu betrachten, hinabzublicken in das Gewimmel seiner Schützlinge. Der Ausblick muss ihn dann noch immer erstaunen. Und auch besorgen: Die Stadt scheint fast zu bersten. Lebten zu Beginn des Jahrhunderts 200000 Menschen in Paris, nähert sich ihre Zahl nun bereits einer halben Million.
Die alten Grenzen gelten nicht mehr: 1670 hat König Ludwig befohlen, die mittelalterlichen Stadtmauern zu schleifen und die Wassergräben aufzufüllen - um Platz zu schaffen für neue Straßen. Von seinem Ausguck kann La Reynie vielleicht sehen, wie die Arbeiten im Norden bereits voranschreiten, wie anstelle der alten Befestigungen breite Wege angelegt, an ihren Rändern Bäume gepflanzt werden. An dem Namen für diese Straßen, Boulevard, erkennt man, dass sie den Platz eines militärischen Bollwerks einnehmen.
Hinter den geschleiften Stadtmauern wachsen die faubourgs, die Vorstädte. Viertel entstehen, wo einst Felder waren: Saint-Antoine im Osten, Saint-Denis im Norden, Saint-Michel im Süden.
Wenn La Reynie nach Südwesten schaut, blickt er auf die Dächer des jüngst fertig gestellten Invalidenheims. Bis zu 6000 ausgediente Soldaten verbringen hier ihren Lebensabend mit Handarbeiten und Gebeten. Eine bis dahin unbekannte soziale Einrichtung: Zwar gibt es seit dem Dreißigjährigen Krieg stehende Heere, deren Veteranen landeten bisher aber meist in Klöstern oder auf der Straße. Das neue Heim dient deshalb auch dazu, Paris von Bettlern zu befreien.
Kein Gebäude in Paris ist so großzügig angelegt, nicht einmal das Stadtschloss des Königs, der Louvre. Und selbst die Tuilerien, der größte Park der Stadt, können mit der Gesamtanlage des „Hotel des Invalides“ nicht konkurrieren. Einen solch verschwenderischen Umgang mit freier Fläche haben die Pariser noch nicht gesehen.
Direkt unterhalb des Chatelets fließt die Seine, die Lebensader der Stadt - und ihre Kloake. Die Bewohner der Ile de la Cite in der Mitte des Flusses lassen ihre Abwässer direkt in die Seine rinnen.
Der Schmutz des rechten Ufers sammelt sich in einem großen, halbkreisförmigen Abwassergraben, der sich stromaufwärts in der Nähe der Bastille in den Fluss ergießt, stromabwärts hinter den Tuilerien.
Auch die Bievre, ein kleines Flüsschen am östlichen Stadtrand, dient als Kloake. So schwimmen in der Seine die Asche und Seifen der Wäscherinnen, Blut und Schlachtabfälle der Metzger, der Urin, mit dem die Gerber die Tierhäute bearbeiten, die Farben, in welche die Färber ihre Stoffe tauchen.
Wasserverkäufer tragen Eimer von der Seine in die Straßen hinauf. La Reynie ordnet immer wieder an, dass sie ihr Nass aus der starken, nicht so verdreckten Strömung schöpfen sollen, doch die Wasserträger bevorzugen einen kleinen Seitenkanal, der günstiger gelegen ist - in den aber die Abwässer eines Krankenhauses fließen.
Wer sich ihr Wasser nicht leisten kann, geht zu einem der öffentlichen Brunnen. Ein Dutzend neue hat Ludwig bauen lassen, doch ihr Wasser ist nicht sauberer als das der Verkäufer. Es wird seit 1671 bei der Brücke von Notre-Dame aus dem Fluss gepumpt - ganz in der Nähe eines der betriebsamsten Hafenbecken der Stadt: An der Place de Greve, vor dem Rathaus, landen Flussschiffer Getreide an. Verbände aus bis zu 20 Kähnen werden die Seine hinaufgezogen oder gleiten sie hinab, dazwischen ankern Wassermühlen.
Im Sommer baden nackte Pariser im Fluss; und irgendwo überleben auch noch einige weiße Schwäne. Der Sonnenkönig hat sie aussetzen lassen, als Verzierung.
Durch die ihm anvertraute Stadt bewegt sich La Reynie wie jeder Mann von Stand mit der Kutsche. Einige greise Pariser können sich vielleicht noch an die ersten carrosses erinnern. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben die neuen Gefährte die Stadt erobert. Inzwischen pressen sich Tausende Kutschen durch enge Gassen, die für Fußgänger und Maultiere gebaut sind. Ludwig XIV gibt jedes Jahr mehr als 50 000 Livres aus, um die Straßen zu pflastern und zu verbreitern.
Zu den privaten Gefährten kommen die zahlreichen Mietkutschen. Ihre Chauffeure haben einen schlechten Ruf, sie betrügen die Kunden und quälen ihre Tiere. „Paris ist das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Männer und die Hölle der Pferde“, sagen die Hauptstädter. Und singen einen Gassenhauer über die neuen Gefahren des Straßenverkehrs: „Bei jedem Schritt/marschiert der Tod gleich mit.“
Zwischen den ratternden Kutschen treiben Bauern ihre Tiere zum Markt, schlängeln sich Träger mit Sänften vorbei, fahren zweirädrige Gefährte, die an japanische Rikschas erinnern. Über ihnen ra-gen eiserne Ladenschilder weit auf die Straße hinaus. Ihr Quietschen mischt sich mit den Glöckchen der Straßenkehrer. Stadt-schreier preisen die neuesten Weine an, frisch eingetroffen bei den Wirten der Nachbarschaft.
Menschen schieben sich durch die Straßen, Waschfrauen mit Leinenbündeln, jugendliche Schornsteinfeger auf dem Weg zur Arbeit oder zurück in ihren Schlafsaal, den sie mit einem ältlichen Aufseher teilen. Dienstmädchen, Soldaten, Lakaien in Uniform, herausgeputzt mit Knöpfen, Litzen und Bändern.
Die Männer tragen den dreiteiligen Anzug aus Kniebundhose, Weste und langem Überrock, die Frauen Rock, Mieder und Schürze. Sie unterscheiden sich nur in der Qualität: Die Kleider der Reichen sind häufig aus teuren Materialien wie Baumwolle und Seide, die der Armen meist aus ausgeblichener Wolle, oft erworben bei einer Alt-kleiderverkäuferin.
Manch Armer trägt zudem ein rot-gelbes Zeichen auf der rechten Schulter. Er erhält eine kleine Summe von der Stadt und hat sich dafür verpflichtet, ein christliches Leben zu führen und nicht zu betteln.
Nur etwa jeder Vierte auf den Straßen stammt aus Paris; die Stadt wächst, weil ständig Menschen in die Kapitale strömen. Vielleicht drücken sie die Abgaben, die Ludwig den Dörfern auferlegt - anders als die meisten anderen Franzosen müssen die Pariser weder die Grundsteuer noch die Salzsteuer zahlen. Vielleicht aber träumen die Neubürger auch nur von einem leichteren, besseren Leben.
Die Massen müssen La Reynie Sorgen bereiten. Jeder der Neuankömmlinge braucht Arbeit, es ist nur ein kleiner Schritt zu Bettelei, Diebstahl und Prostitution. Wer sich einen Verbrecher dingen will, muss nur zum Pont-Neuf gehen. Dort, am Reiterstandbild von Ludwigs Großvater, lungern sie herum, die „Hofleute vom bronze-nen Pferd“: Beutelschneider, Gauner, Zuhälter, Prostituierte.