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Die Gedanken des Königs
ОглавлениеLudwig will aus Paris eine Stadt des Wissens zu machen. Hier erscheint das „Journal des Scavans“ (Journal der Gelehrten“), die erste wissenschaftliche Zeitschrift der Welt. In der ersten Ausgabe des wöchentlich erscheinenden Magazins beschreiben die Autoren unter anderem die Geburt eines Monsters in Oxford (tatsächlich siamesische Zwillinge) sowie neuartige Teleskope und eine neue Ausgabe eines Werkes von Descartes.
Ludwig ist seit Generationen der erste französische Monarch, der keinen Hofastrologen beschäftigt. Stattdessen hat er im Süden der Stadt ein Observatorium bauen lassen, mit dem Längengrad von Paris als Symmetrieachse. Es ist seit einigen Jahren fertig und hat ein ausgezeichnetes Fernrohr. Im botanischen Garten wachsen 4000 Pflanzen, Dozenten geben Chemiekurse für die Pariser Bürger.
Denn die Bewohner scheinen die Begeisterung des Königs für die Wissenschaft zu teilen - wenn auch hauptsächlich für eine Spielart, die sie mit La Reynies Ordnungshütern in Konflikt bringen könnte: Es gebe in Paris so viele Alchemisten wie Köche, schreibt ein italienischer Besucher.
Einige von ihnen mag tatsächlich Wissensdurst treiben - die meisten aber sind Betrüger. Sie nehmen ihren Kunden Geld ab, mit dem Versprechen, schon bald wertlose Materialien in Gold verwandeln zu können. Oder sie nutzen ihre Experimente als Tarnung für Falschmünzerei.
Einige mögen sogar noch finstereren Geschäften nachgehen und neue Gifte entwickeln. Die Menschen erzählen sich Geschichten von imprägnierten Hemden und tödlichen Handschuhen, von geruch- und geschmacklosen Pülverchen. Auch Adelige schätzen Gift. Daspoudre de succession, das Erbschaftspulver, kann viele Probleme lösen. Doch wer tatsächlich einen Rivalen oder eine lästige Ehefrau loswerden möchte, kommt auch ohne neue Erfindungen aus: Quecksilberchlorid und Arsen gibt es in jeder Apotheke.
Und schließlich kann man sich auch an die zahlreichen Wahrsagerinnen wenden. Mehrere Hundert bieten in Paris ihre Dienste an, lesen aus der Hand oder aus einem Glas Wasser. Sie verkaufen Heilmittel gegen Hühneraugen oder Zahnschmerzen, brauen Tränke aus getrockneten Maulwürfen und pressen Öl aus Fröschen, für einen weißen Teint.
Die meisten Kunden, arme wie reiche, suchen Rat in Liebesdingen. Eine Frau, die unter ihrem Ehemann leidet, soll sein Hemd am Bild der heiligen Ursula reiben, damit er sie besser behandelt. Sie kann die Liebe auch fördern, indem sie der Weissagerin benutzte Leinentücher oder etwas Menstruationsblut bringt.
Doch viele Frauen wollen ihre Ehe gar nicht retten: Sie fragen vielmehr hoffnungsvoll, ob in ihrer Hand nicht etwas auf das baldige Ableben ihres Gatten hindeute. Man muss keine Hellseherin sein, um da die richtige Antwort zu wissen - und zu ahnen, dass die Kundin für etwas Hilfe beim Töten bezahlen würde. Neben harmlosem Mummenschanz betreiben einige Wahrsagerinnen deshalb auch das Geschäft mit dem Tod.
Für den Täter sind Giftmorde selten mit dem Risiko verbunden, erwischt zu werden. Zwar werden Verstorbene gelegentlich von Ärzten obduziert. Doch deren Diagnose ist unsicher. Die Absolventen der Pariser Universität lassen sich ihre Künste zwar teuer bezahlen, tatsächlich aber wissen sie kaum mehr als die Bader und die Apotheker, denen sich die Ärmeren anvertrauen.
Die Pariser Ärzte verschreiben Medizin aus Nattern, geben giftigen Wein als Brechmittel und lassen mit Begeisterung zur Ader. Die Kunst, die Venen mit einer kleinen Lanzette zu öffnen, wird unter Ludwig zu einem Markenzeichen der Medizin in der Hauptstadt.
Selbst der König muss darunter leiden: Nur knapp hat er als Neunjähriger einen mehrmaligen Aderlass überlebt, den die Doktoren während seiner Blatternerkrankung empfahlen. Und jetzt ist der Monarch seinem Leibarzt ausgeliefert, einmal im Monat muss er Abführmittel nehmen. Sie sollen gegen die giftigen „Dämpfe“ helfen, über die Ludwig klagt.
Der Tod ist allgegenwärtig. Familien legen ihre Verstorbenen vor die Haustür, wo Passanten das Kreuz über sie schlagen. Malaria wütet jeden Herbst in der Stadt, im Flusswasser schwimmen Typhusbakterien. Die ärmsten Toten werden in Massengräbern auf dem Friedhof beigesetzt, und vor allem im Sommer zieht Leichengeruch durch die Straßen, wenn die Totengräber die Gruben wieder einmal nur mit einer dünnen Erdschicht bedeckt haben.
Gelegentlich aber wird der alltägliche Tod zu einem Skandal, der die ganze Stadt beschäftigt. 1676 wird auf der Place de Greve Madame de Brinvilliers hingerichtet - die Tochter von La Reynies Vorgänger. Dessen Bauchschmerzen waren doch nicht auf die Gicht zurückzuführen, sondern auf Quecksilberchlorid: Die Marquise de Brinvilliers hat ihren Vater und ihre Brüder umgebracht.
Ihre Taten sind ans Licht gekommen, als Gerichtsvollzieher den Besitz ihres verstorbenen, hoch verschuldeten Liebhabers und Komplizen durchsuchten: Dabei stießen sie auf eine Schatulle mit Gift sowie leidenschaftliche Briefe der Marquise und einen Schuldschein, der zum Todeszeitpunkt ihres Vaters ausgestellt war. Nach vierjähriger Flucht wird Madame de Brinvilliers gefasst, verurteilt, geköpft und verbrannt.
Die Adeligen sind entsetzt: Offensichtlich schützen weder Geschlecht noch Rang davor, ein Verbrecher zu werden. Und die Gefährlichkeit des Erbschaftspulvers scheint gestiegen zu sein. Brinvilliers Morde fallen ja in die neue Zeit der Wissenschaft, da der König Akademien zur Forschung gründet, wo ständig Neues entdeckt wird und kluge Männer auch ohne Bibel erklären können, wie die Dinge zusammenhängen. Ist es nicht denkbar, dass diese neue Naturwissenschaft auch neue Gifte erschaffen kann, die keine Spuren hinterlassen oder vielleicht gar die Symptome normaler Krankheiten vortäuschen?
Über Jahre wird die Pariser Gesellschaft nicht mehr zur Ruhe kommen. Bei jedem plötzlichen Tod denkt sie ans Toxikum, selbst über bereits vor Jahren Verstorbene spekuliert sie. Offensichtlich kommen Giftmorde viel häufiger vor, als man bisher angenommen hat. Und kaum jemand glaubt, dass Madame de Brinvilliers eine Einzel-täterin war. Möglicherweise sind noch Komplizen auf freiem Fuß, unerkannt, bereit, wieder zuzuschlagen - und nach außen genauso ehrbar wie die Marquise.