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Die Todesnachricht

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Der stumme Schwarze wurde um die Mittagszeit des achten Mai von Soldaten des Sinan Pascha gestellt.

Sinan Pascha war eigentlich Grieche. Er wurde mitgenommen, als man Knaben für die Janitscharen aushob. Dann tat er sich hervor, wurde Agha und gewann bei den Kämpfen um Stambul Mehmed Chans Gunst. Als Grieche war er ja dort zu Hause, er kannte die Sprache und die Wege, machte sich also sehr nützlich. Damals gab ihm Mehmed Chan seine Tochter zur Frau, das heißt - wie soll ich sagen - nicht seine Tochter, sondern die Tochter der Frau, die ihm vorher seinen Sohn Bajezid geboren hatte. Der Sultan hatte sie einem einflussreichen Mann abgetreten, und von dem bekam sie diese Tochter, die also eine Schwester des Schehsade Bajezid war, ohne dass des Sultans Blut in ihr floss.

Durch diese Heirat ging es mit Sinan Agha so rasch bergauf, dass er bald Pascha wurde. Nachdem er nacheinander mehreren Verwaltungsgebieten vorgestanden hatte, erhielt er schließlich die Statthalterschaft von Anatolien. Er nahm den Brief und las:

„An meinen hochrühmlichen Herrn und Gebieter. Heute, am 4. Rebi'-ül-ewwel des Jahres 886, verschied in Allah der hochedle Sultan Mehmed Chan Ghasi. Sein Tod wurde dem Heer geheim gehalten, das auf der Hunkjar Tschairi lagert. Ich erwarte die Befehle meines hochrühmlichen Herrn."

Warum diese Eile, und warum hat der Brief keine Unterschrift?

Wäre die Nachricht für Bajezid bestimmt, für meinen Schwager, dann brauchte man sie nicht geheim zu halten. Sie ist einem anderen zugedacht. Aber wem? Fragte sich Sinan Pascha.

Seit Langem wurde davon geredet, dass Mehmed Chan noch nicht wisse, wem er das Reich vererben solle, und deshalb seine beiden Söhne in weit entfernte Provinzen geschickt habe. Die Würdenträger nämlich und die Mullas hielten zu Bajezid, die Krieger aber sahen in Dschem den künftigen Herrscher. Daher hatte Mehmed Chan gezögert.

Der Pascha riss die Augen auf. Wie kann man es wagen? Hier war schnelles Handeln erforderlich.

Ihn lockt die Aussicht, Schwager des Sultans zu werden. Sinan Pascha befahl, sofort den Stummen aus der Welt zu schaffen und einen Boten mit zwanzig Mann auf den Weg nach Amasya zu senden; den Schehsade Bajezid aufzusuchen und den Brief zu übergeben.

Der Bote dachte, wie kann ein Rechtgläubiger sich gegen das heilige Gesetz auflehnen? Und Bajesid Chan hatte das Gesetz auf seiner Seite, er war im Recht. Sollte er sich in die große Politik einmischen?

Am zwölften Mai um die Mittagszeit erreichte der Brief Amasya. Kurz danach in den Straßen von Amasya, wimmelte es von Menschen. Jeder wollte Bajezid sehen, wenn er in schwarzen Kleidern durch die Stadt ging, wie es die Sitte verlangte.

Bayezit wurde am 3.12.1447 als Sohn von Fatih Sultan Mehmed und dessen Haremsfrau Gülbahar in Demotika geboren.

Der Sohn des Sultans war barfuß. Das war sonst nicht üblich, aber er tat es, um zu zeigen, wie tief und demütig er trauerte. Er trug ein schmuckloses schwarzes Gewand, das bis auf den Boden reichte und mit einem Strick zusammengehalten wurde. Schwarz war auch sein Turban.

Bajezid Pascha ähnelte seinem Vater überhaupt nicht. Er war zwar ebenfalls klein, aber nicht dick, sondern klapperdürr wie ein Asket. Deshalb beherrschte er wahrscheinlich auch von allen männlichen Fertigkeiten nur das Bogenschießen - dazu braucht man nicht viel Kraft und keinen sonderlichen Mut, denn man ist weitab vom Feind. Er sah in dem feierlichen Zug ziemlich albern mit seinen bloßen Füßen aus.

Offensichtlich war er noch nie barfuß gegangen, denn er lief wie auf Dornen. Seine Füße waren genauso dünn wie seine Waden, sie hatten spitze Fersen und schmale Sohlen wie bei einer Frau. Ähnlich wirkten auch die Arme. Er hielt sie über dem Gürtel verschränkt wie ein Derwisch. Auch das bleiche, seltsam versonnene Antlitz hätte eher zu einem Derwisch oder einem Mulla gepasst. Man sagte, das sei ein Zeichen von großem Verstand, die Klugheit habe ihm die Kraft genommen. Bajezid hielt nur wenige Diener und noch weniger Pferde. Unter den Kriegern galt er seit langem als Geizhals. Seine ganze Hofhaltung wirkte ärmlich.

Der Schehsade Bajezid bereitete sich bis zum Abend auf den Zug nach Stambul vor. Er rüstete seine Truppe aus wie für eine Schlacht – man sah jetzt, dass sie gar nicht so klein war. Mehmed Chan dürfte kaum gewusst haben, wie viele Soldaten sein Sohn, der angebliche Knauser und Frömmler, hatte. Und seine Krieger wirkten durchaus nicht verhungert.

Von Skutari aus wirkte Stambul friedlich, nur zwei oder drei Stadtteile waren niedergebrannt. Die Krieger des Schehsade Bajezid verteilten sich am Ufer. Jeder versuchte herauszufinden, was drüben in Stambul für ein Empfang vorbereitet wurde. Bajezid befahl zwei seiner Aghas, überzusetzen und im Serail zu melden, dass der neue Sultan vor seiner Hauptstadt stehe.

Noch bevor die Aghas wieder auftauchten, wurde es drüben am Ufer lebhaft. Menschen liefen an den Kai - Janitscharen. Die Vornehmen der Stadt, die Janitscharen und viel Volk bestiegen alles, was im Hafen lag - Boote. Schiffe und Flöße. Im nächsten Augenblick bedeckte eine solche Menge Fahrzeuge die Meerenge, dass man kaum noch das Wasser sah. Allen voran nahten mehrere Wesire. Da befahl auch Bajezid seinen Leuten, zu Wasser zu gehen.

Stambul hatte Bajezid bereits zum Padischah erkoren.

Nach der Begrüßung stieg Bajezid Chan, gestützt von Is'hak Pascha (dem Nachfolger des zehn Tage zuvor umgebrachten Großwesirs Mehmed Pasdia) unter dem wachsenden Jubelgeschrei der Bevölkerung in ein goldbeschlagenes Boot um.

Als erstes ordnete Bajesid das Begräbnis seines Vaters an. Man hörte, dass Mehmed Chans Leichnam in den vergangenen drei Wochen schon fast verwest sei - der Mai ist warm in Stambul. Er wurde in eine Bleikiste gelegt, die man verlötete und von außen vergoldete, und damit war die Sache erledigt.

Den Sarg deckten kostbare Teppiche. Die Wesire trugen ihn, zusammen mit Bajezid, der sich wieder in sein schwarzes Gewand gehüllt hatte und barfuß ging. Neben seinen reich mit Seide und Metallstickerei geschmückten Würdenträgern sah er aus wie ein anatolischer Bettler. Auf das Volk aber wirkte er dadurch fast wie ein Heiliger, es berührte vor ihm mit der Stirn den Erdboden, und küsste ihm die Fersen. Manche schleppten sogar ihre Kranken aus den Häusern, damit sie geheilt würden.

Natürlich geschah kein Wunder. Bajezid Chan spielte sich ja nur als Heiliger auf, jeder wusste, dass er keiner war Aber die Mullas drängten sich um ihn und verließen ihn nicht einen Augenblick. Mehmed Chan war, wie man sich erinnert, stets von Spahis und Janitscharenaghas umgeben, er schien stets auf einem Kriegszug zu sein. Bajesid Chan und sein Gefolge hingegen glichen vom ersten Tag an einer Religionsschule - nur Geistliche und Schreiber und allerlei Derwischgesindel scharten sich um ihn.

Genaugenommen war Mehmed Chans Beisetzung nicht sehr prunkvoll. Offensichtlich hatte Bajezid es eilig. Kaum war der Sarg auf dem Friedhof, da schütteten einige Seraildiener ein Dutzend Körbe Kleingeld vor das Volk hin, und Bajezid zog sich in das Topkapy zurück, wohl um sich dort weiter der Trauer um den Verstorbenen zu widmen.

Noch vor dem Abend erfuhr man, dass sie nicht lange dauern sollte, obwohl die Sitte drei Trauertage vorschrieb. Bajezid befahl, ihn schon am nächsten Morgen feierlich zum Sultan auszurufen. Er hatte es eilig, wie gesagt, denn die ersten Gerüchte über Dschem trafen bereits in Stambul ein.

Sie waren sehr unbestimmt, niemand wusste, ob auch nur ein Körnchen Wahrheit in ihnen stak. Es hieß, Dschem weigere sich, dem Gesetz zum Trotz, das Haupt vor dem Thron seines Bruders zu beugen. Diese Nachricht hatte Bajezid Chan in Aufregung versetzt, deshalb überstürzte er seine Thronbesteigung.

Tags darauf führte der Mufti eine andere Menschenmenge an. Er rief Bajezid zu unserem gesetzmäßigen Herrscher aus. Diesmal war der Sultan nicht schwarz gekleidet: man hatte ihn so herausstaffiert, dass er in all dem weißen Zeug, mit seinem klugen Gesicht, den schmalen Brauen und dem schwarzen Bart fast schön wirkte.

Er ließ abermals einige Körbe voll Geld vor uns ausstreuen, und alles war erledigt.

In der Hauptstadt glaubte man noch nicht, dass Dschem es auf einen Zusammenstoß mit den Truppen seines Bruders ankommen lassen würde. Doch Bajezid war auf der Hut.

Wie erhielte nun Dschem die Todesnachricht? Seine Hofhaltung war schon sonderbar. Dschem erwartete von niemandem andere Fähigkeiten, bei ihm wurden sämtliche Posten von Dichtern oder Sängern bekleidet. Das klingt unwahrscheinlich, ist aber die reine Wahrheit. Als Mehmed Chan seinen jüngeren Sohn zum Statthalter von Karaman ernannte, zählte Dschem eben erst zwanzig Jahre. Im türkischen Reich war ein Mann mit zwanzig Jahren Vater, Krieger oder Staatsmann - mit einem Wort, er war erwachsen.

Für Dschem galt das nicht unbedingt. Er sah jünger aus als seine Altersgenossen. Bei abendlichen Gelagen, bei denen er andere mühelos im Trinken übertraf, erklärte er gern lachend, dass er immer jung bleiben und uns alle überleben werde, weil sein Blut nicht rein türkisch sei. In der Tat, Dschem war ein halber Serbe, von seiner Mutter her.

Seinem Vater, dem großen Eroberer, ähnelte er nur sehr entfernt. Er hatte die gleiche Adlernase und die gleiche volle, vorgewölbte Unterlippe, sonst aber sah er ganz anders aus.

Dschem war groß, breite Schultern, schmale Hüften und sehnige Muskeln sowie gewandten Bewegungen. Fremd wirkte auch sein Antlitz. Seine Haut war sehr hell, weizenfarben, wie wir sagen. Im Gegensatz zu dem krausen, roten Bart des verstorbenen Sultans spross auf Dschems Wangen glattes goldblondes Haar, dazu sein langes seidigen Haar, seiner nicht eben hohen, doch breiten, ein wenig kantigen weißen Stirn und seiner in feinem Schwung fast geschlossenen Brauen, die etwas dunkler schimmerten als das Haupthaar. Seine Augen – so Zeitgenossen - waren wie das Glitzern der Morgensonne in einem schnell fließenden Gewässer.

Die Männer an Dschems Hof, waren keine Krieger, obwohl das siegreiche Heer in Dschem sein Idol sah. Sie waren Sänger. Zu dieser Zeit in Karaman war Dschem bereits Gatte und Vater. Er hatte eine von seines Vaters Sklavinnen glücklich gemacht. Sie lebte mit Dschems Mutter, der serbischen Fürstin, in einem Landhaus bei Konya und erzog dort sein zweites Kind. Seinen ersten Sohn hielt Mehmed Chan in Stambul zurück.

Dschems Residenz lag in der alten Stadt, im Serail des erst vor kurzem vom Eroberer unterworfenen Fürsten von Karaman. Die alten Würdenträger dienten, soweit sie nicht umgebracht worden waren, jetzt Dschem.

Zum engsten Kreis Dchems gehörten jedoch keine Karamaner. Sie hielten als Militärs und Verwaltungsbeamte die Ordnung aufrecht und zwangen das Land zur Botmäßigkeit. Der eigentliche Hof aber lebte ausschließlich von der Dichtkunst und der Schönheit.

Aus dem ganzen Orient kamen Sänger und Dichter nach Konya, um von Dschem gehört zu werden und sich sein höchstes Wohlwollen oder Lob zu verdienen. Einige behielt Dschem bei sich. Da Mehmed Chan seine Söhne nicht mit reichen Zuwendungen verwöhnte, setzte Dschem seine Poeten offiziell als Schreiber, Aufseher oder Ratgeber ein. Es waren nicht mehr als zwanzig, lauter junge Männer, meist Dichter. Die Sänger hielten sich nur selten länger auf, sie blieben immer mal eine Woche in Konya und zogen dann wieder weiter.

Die Tage begannen spät, die Sonne stand gewöhnlich hoch am Himmel, wenn alle aus den Zimmern kamen und nacheinander in den schattigen Hof des Serails traten. In der Regel war Dschem bereits dort, er schlief „schnell", wie er sich ausdrückte - eine Fähigkeit, um die ihn viele beneidet habe. Er ritt am frühen Morgen eine Stunde oder länger vor die Stadt und kehrte dann zurück, um seinen Hofstaat zu wecken.

Der Tag hatte begonnen wie üblich. Als die „Künstler“ den Hof betraten, fanden sie dort Dschem, noch erhitzt von seinem morgendlichen Ritt.

Alle hatten sich vor dem Springbrunnen niedergelassen und begannen ihr Gespräch, da lief ein Wächter herbei und kündigte einen Boten an. Der Bote, ein einfacher Spahi, zu Tode erschöpft, staubbedeckt und schweißnass, fragte, durch so viel Anwesende irritiert, wer Dschem Sultan ist. Dschem hob den Kopf.

Der Spahi kniete schwerfällig nieder. Schmutzig, entkräftet, lag er auf dem Steinpflaster und sah den Schehsade von unten herauf an, als höbe er das Gesicht zur Sonne.

Der Bote verkündete, dass Mehmed Chan, der Ruhmreiche, nicht mehr unter den Lebenden weilt und Dschem die Sultanswürde angetragen wird. Er verkündete weiter, dass die Spahis, die erste Säule des Staates, zu Dschem stehen.

Dschem unterbrach ihn mit dem Hinweis, dass der Thron der Osmanen einen Nachfolger hat und verwies auf Bajezid.

Der Bote ließ sich nicht beirren. Er verwies auf die Unfähigkeit von Dschems Bruder und den Volkswillen. Er sagte gleichzeitig, dass nur die Mullas Bajezid wollten, weil sie dann die wahren Herrscher des Reiches wären.

Jetzt veränderte sich Dschem. Die Totenblässe wich von seinen Wangen, und er musterte den staubigen Spahi forschend, als wollte er ergründen, was sich hinter dessen erregten Worten verbarg: Verrat, eine Verschwörung, oder Treue.

Tief bestürzt verließ einer nach dem anderen den Hof. Dschem brauchte jetzt keine Dichter, sondern Soldaten.

Erst gegen Mittag rief Dschem alle wieder zu sich. Im Hof standen die Beys von Karaman und die Aghas aus Dschems Streitmacht, festlich gekleidet, in voller Kriegsausrüstung und mit allen Ehrenzeichen. Ihre Mienen entsprachen jedoch nicht diesem prunkvollen Aufzug, sie waren ernst, fast verdrossen. Nur Dschem schien frohen Mutes, er strahlte in neuem Glanz und wirkte schöner als je zuvor, als hätte ihn schon das Vorgefühl der Macht verändert.

Er befahl, zum Kampf zu rüsten und dass alle sich bewaffnen sollten. Er sprach davon, dass er keinen Bruderkrieg wünsche und er keinen Anspruch auf Rumellen, dass Gebiet was Bajezid bereits unter sich hatte, erheben würde. Dschems Stimme wurde lauter, als er davon sprach, dass er in Anatolien das Werk seines Vaters fortsetzen werde und die neue Hauptstadt Brussa sei.

Die alten Krieger sahen in Dschems Kampf von Anfang an das ungenügend durchdachte Unternehmen eines unerfahrenen Jünglings. Wohl schätzten sie den hervorragenden Ringer und begabten Dichter, aber jetzt ging es um mehr als um Ringkämpfe und Verse.

Mit dem Ruf "Auf nach Brussa!" schloss Dschem seine Ansprache. Seine Augen strahlten, seine Wangen glühten vor Begeisterung. Er bemerkte gar nicht, wie seine Rede auf die versammelten Würdenträger wirkte.

Ein Prinz als Geisel

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