Читать книгу Kriminalfälle aus der DDR - 2. Band - Walter Brendel - Страница 4
Einführung
ОглавлениеDie DDR investiert viel in die Aufklärung von Verbrechen, auch die, die es eigentlich gar nicht geben darf. Bei einen Angriff auf dem Staat kennt die Führung keine Gnade, und was, wenn auch der Klassenfein noch darin verwickelt ist? Viele Fragen bleiben bis heute offen. Als die DDR schon fast an ihrem Ende war, wurde die Todesstrafe abgeschafft. Ihre Aufarbeitung in der Bundesrepublik wird bis heute kontrovers beurteilt. Die Geschichte der DDR spaltet noch immer die Gesellschaft in Ostdeutschland. Das letzte Zeugnis, das der Mensch hinterlässt, ist ein Eintrag in den Friedhofsakten. Wird der Verstorbene verbrannt, macht das Einäscherungsbuch Angaben zur Person, zum Sterbetag und zum Ort der Beisetzung. Jeder Eintrag erhält eine fortlaufende Nummer; diese wird auch auf dem Stein eingraviert, den man vor der Einäscherung in den Sarg legt und dann mit der Urne beisetzt. Für jeden Verbrennungsofen wird zudem ein eigenes Verzeichnis geführt, das sogenannte Ofenbuch. Anonyme Beisetzungen gebe es nicht, versichert Günter Schmidt von der Verwaltung des Leipziger Südfriedhofs. Das gilt auch für Gemeinschaftsgräber ohne individuelle Grabsteine, die erst in der DDR und jetzt in ganz Deutschland Verbreitung gefunden haben.
Blick ins Innere des ehemaligen Gefängnisses in der Südvorstadt von Leipzig, der zentralen Hinrichtungsstätte der DDR. Vor 25 Jahren, am 26. Juni 1981, wurde mit der Erschießung des Stasi-Offiziers Werner Teske zum letzten Mal ein offizielles Todesurteil in der DDR vollstreckt
Die Akten des Südfriedhofs sind allerdings nicht vollständig. Für den 14. Dezember 1979 heisst es im Einäscherungsbuch unter der Nummer 360 595 nur „Anatomie“. Der Leichnam stammte also angeblich aus dem anatomischen Institut der Universität. Der Vermerk ist unleserlich an den Seitenrand gekritzelt, auch die Nummerierung stimmt nicht. Auf die 599 folgt die 595. Solche Unregelmässigkeiten finden sich in dem penibel geführten Buch sonst nirgends. Als Grabstelle ist das Feld J 30 angegeben, doch dort ruht keine Urne mit der angegebenen Nummer. Der fingierte Eintrag diente der Irreführung. Bei dem anonymen Toten handelt es sich um den Stasi-Offizier Gert Trebeljahr, der am 10. Dezember 1979 wegen Spionage hingerichtet worden war.
Obwohl die Todesstrafe bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1987 die vom Strafgesetzbuch vorgesehene Höchststrafe war, umgab der kommunistische Staat die Ausführung mit einem Geheimnis. Die Todeskandidaten wurden am Tag der Exekution in die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR verlegt: die separat gelegene ehemalige Hausmeisterwohnung des Leipziger Stadtgefängnisses. Hier erfuhr das Opfer, dass es jetzt sterben werde. Der Verurteilte wurde in einen fensterlosen Raum mit einem Abfluss im Boden geführt. Bis 1968 fand die Hinrichtung mit der Guillotine statt. Später trat der Scharfrichter nach sowjetischem Vorbild von hinten an den Delinquenten heran und tötete ihn mit einem Genickschuss. Im Gefängnis wussten nur wenige, dass dessen stellvertretender Direktor als Henker amtierte.
Zeugen waren außer einem Staatsanwalt, dem Leiter der Haftanstalt und einem Arzt der Volkspolizei nicht zugegen. Auch der Totenschein wurde gefälscht. Bis heute kann man nur spekulieren, was die SED zu dieser Heimlichtuerei veranlasste. Vielleicht war es das sowjetische Erbteil der DDR, jene Mischung aus Paranoia und Konspiration, die das Regime Lenins und seiner Nachfolger von Anbeginn begleitete. Nach der Exekution wurden die sterblichen Überreste nicht den Angehörigen übergeben, sondern an einem unbekannten Ort verscharrt. „Jeder Mensch hat das Recht auf sein Grab, das ist so etwas wie ein Grundrecht“, sagt Günter Schmidt.
Nach dem Zusammenbruch der DDR untersuchten Staatsanwälte die anonymen Einäscherungen auf dem Südfriedhof. Mit Hilfe von Gerichtsurteilen und Zeugenaussagen fanden sie die Namen heraus. Da die Herkunft mehrerer Leichen nicht geklärt worden sei, will Tobias Hollitzer vom Leipziger Bürgerkomitee nicht ausschließen, dass es noch unbekannte Hinrichtungsopfer gibt. Konkrete Anhaltspunkte hierfür existieren nicht. Doch der ehemalige Dissident, der die Geschichte der Todesstrafe in seiner Heimatstadt untersuchte, hat bei der Aufarbeitung der Vergangenheit manch Unvorstellbares gesehen. Die DDR vollstreckte die Todesstrafe 160 Mal, überwiegend aus politischen Motiven oder wegen sogenannter Staatsverbrechen. Ab Mitte der siebziger Jahre wurde sie nur noch selten vollzogen. Vier der fünf letzten Opfer waren Geheimdienstleute, denen man Spionage vorwarf.
Der erste Mann im Staat – erst Ulbricht und dann Honecker – konnte jederzeit das Strafmaß verändern.
Auch Sabine Kampf kann die Erinnerung an die DDR nicht abschütteln. Sie war verheiratet mit dem Stasi-Hauptmann Werner Teske, der im Juni 1981 als Letzter in Leipzig hingerichtet wurde. Während im Kinofilm „Das Leben der Anderen“ ein Stasi-Hauptmann eine Überwachungsoperation unbemerkt austrickst, sah die Realität im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) anders aus. Es herrschte ein Misstrauen, das auch kleine Abweichungen von der Norm hart bestrafte.
Aus Frustration über seinen unbefriedigenden Job im Auslandgeheimdienst wandelte sich der ehrgeizige junge Ökonom Teske zum renitenten Kader. Er wollte Wissenschafter sein, nicht Spion. Hinzu kamen familiäre Probleme und Alkohol. Er schimpfte über die SED, vernachlässigte seine Arbeit und unterschlug 20 000 D-Mark, die für Agenten in der Bundesrepublik bestimmt waren. Er gehörte zu den Ermittlern, welche die Flucht eines Stasi-Offiziers in den Westen untersuchten. Auch Teske erwog überzulaufen, doch wollte er seine Frau nicht verlassen. Also blieb er, obwohl er sich dank einem Spezialausweis jederzeit hätte absetzen können.
Einen ersten „strengen Verweis“ erhielt Teske, weil er einen Dienstwagen für eine private Fahrt benutzt hatte. Allmählich kamen die anderen Unregelmäßigkeiten ans Licht. Bei der Durchsuchung der Wohnung fand man in der Waschküche Geheimpapiere, darunter Angaben zu 18 Agenten in Westdeutschland. Teske hatte das Material gesammelt, um es bei einer Flucht mitzunehmen. Damit stand das Urteil fest. Der Chef der Stasi, Erich Mielke, kannte in diesen Fällen keine Gnade: „Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse. Genossen, hinrichten, wenn notwendig auch ohne Urteil.“ Im Jahr nach Teskes Tod machte Mielke in einer internen Besprechung noch einmal deutlich, wie mit Verrätern in den eigenen Reihen zu verfahren sei.
Sabine Teske war unpolitisch, genoss die privilegierte Stasi-Existenz mit Westwaren und besuchte Konzerte der oppositionellen Liedermacher Wolf Biermann und Bettina Wegner. Bei offiziellen Feiern der Stasi fiel ihr auf, wie die Männer einheimische „Club“-Zigaretten statt „Marlboro“ rauchten und die Frauen ihren Schmuck aus dem Westen versteckten. Die alltägliche Heuchelei des Arbeiterstaates, nur auf gehobenem Niveau. Sabine Teske kam ebenfalls in Haft. Im Gefängnis blieb sie ohne Anklage und ohne Auskunft über das Schicksal ihres Mannes. Eines Tages brachte man sie so überraschend, wie die Verhaftung erfolgt war, in eine konspirative Wohnung. Ein Stasi-Mann sagte ihr, soeben sei ihr Mann wegen Spionage hingerichtet worden. Dann ließ man sie frei. Im Vollstreckungsprotokoll heißt es, die Exekution sei am 26. Juni 1981 um 10 Uhr 10 „ordnungsgemäß vollzogen“ worden.
Daraufhin begann die Stasi eine Vertuschung. Sabine Teske musste ihren Mädchennamen Kampf annehmen und von Berlin nach Schwerin umziehen. Sie wurde gezwungen, den Kontakt zu Freunden abzubrechen. Ihren Verwandten durfte sie nur die offizielle Version der Todesursache mitteilen: Selbstmord in Haft. Die Stasi durchsuchte ihre Wohnung und wählte eine Arbeitsstelle für sie aus. Die Überwachung war total. Das MfS fuhr sie zur psychotherapeutischen Behandlung nach Berlin, einer ihrer Aufpasser sagte, sie müsse über das Erlebte reden.
Sabine Kampf wehrte sich auf ihre Weise. Sie pöbelte Polizisten an und verhielt sich auffällig, bis die auf Konspiration bedachte Stasi den Umzug nach Halle gestattete. Sie erzählt ihre Geschichte im ungerührten Tonfall, in dem Berliner über die Wechselfälle des Lebens reden. Doch manchmal ringt sie um Fassung.
Die DDR ist vor 30 Jahren untergegangen, Vergangenheit ist sie noch nicht. Der Konflikt um die Deutung der Geschichte hält bis heute an. Ein Vorposten in diesem Kampf befindet sich am Berliner Mehring-Platz, im Gebäude des früheren Zentralorgans „Neues Deutschland“, wo früher eine Marx-Büste und ein Volkspolizist den Eingang und den Sozialismus bewachten. Hier befinden sich die Büros der Selbsthilfeorganisationen, mit denen die ostdeutsche Nomenklatura das ihr in der Bundesrepublik angetane Unrecht anprangert. Die GRH, die Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung, kümmert sich um die vor Gericht gestellten Staatsfunktionäre. Hilfe erhielt auch der Militärstaatsanwalt, der die Anklage gegen Teske und Trebeljahr vertreten hatte und deshalb 1998 zu vier Jahren Haft wegen Rechtsbeugung verurteilt wurde.
Nach dem Tod des Militärjuristen schrieb der GRH-Vorsitzende Hans Bauer, der Verstorbene habe „an vorderster Front gegen Feinde und Verräter unseres Staates“ gestanden und sei deshalb von der westdeutschen Klassenjustiz verfolgt worden. Bauer, einst stellvertretender Generalstaatsanwalt seines Staates, will die Todesurteile nicht als Unrecht bezeichnen. „Die DDR hat Recht gesprochen. Das ist für mich bindend und nicht das, was ein BRD-Gericht dazu findet“, sagt er freundlich, aber ohne den Anflug eines Zweifels. Die GRH hat 1500 Mitglieder und bildet ein Netzwerk, in dem sich zahlreiche hohe Stasi-Offiziere organisieren. Inzwischen propagiert die Gesellschaft ihr Geschichtsbild auch öffentlich. Bekannt wurde sie durch Aktionen gegen die Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, wo auch das Ehepaar Teske einsaß, ohne voneinander zu wissen.
Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Darin unterscheidet sich der kommunistische Generalstaatsanwalt nicht von Hans Filbinger, dem nationalsozialistischen Militärrichter. Die deutsche Justiz kennt Kontinuitäten über Systemgrenzen hinweg. Nach dem Ende der Diktatur kam die Aufarbeitung der Regierungskriminalität schleppend in Gang. Bundesregierung und Bundesländer überließen die Aufgabe zunächst Berlin, nur zögerlich stellten sie Personal für eine Sonderstaatsanwaltschaft bereit. Es dauerte, bis der Bundesgerichtshof Leitlinien für die Aburteilung eines untergegangenen Staates formuliert hatte. Er suchte einen Mittelweg zwischen Bürgerrechtlern und Betroffenen, die der DDR-Justiz jede Rechtmäßigkeit absprechen, und den Altkadern, die über die Siegerjustiz klagen.
Der Bundesgerichtshof entschied, sämtliche Formen von Regierungskriminalität nach DDR-Recht abzuurteilen. Es sollte kein „Feind-Strafrecht“ zur Anwendung kommen. Vor allem das Verbot der rückwirkenden Bestrafung sollte unangetastet bleiben. Anderseits machte man einen naturrechtlichen Vorbehalt: Wo schwerstes Unrecht vorlag, hätten die ostdeutschen Juristen dies erkennen müssen. Gemäß seiner Politik des pragmatischen Mittelwegs hielt der Bundesgerichtshof auch die Anwendung der Todesstrafe in der DDR prinzipiell für legal. Er urteilte aber, dass sie gegen Teske und Trebeljahr nicht hätte verhängt werden dürfen, weil diese die Spionage nie ausgeführt hätten.
Wegen der Todesurteile wurde nur eine Handvoll Richter und Staatsanwälte belangt. „Viele Leute haben dies als ungenügend empfunden“, erklärt Christoph Schaefgen, der die Berliner Sonderstaatsanwaltschaft leitete. Aber er gibt zu bedenken, dass die meisten Verantwortlichen tot oder aus Altersgründen verhandlungsunfähig waren. Immerhin setzte man mit dem Strafrecht das in den Nürnberger Prozessen zunächst für das Völkerrecht entwickelte Prinzip durch, dass kein Staat die Machthaber und ihre Helfershelfer vor nachträglicher Verfolgung schützen kann. Funktionäre wie Honecker und Krenz wurden ebenso zur Rechenschaft gezogen wie Mauerschützen oder Richter. Diese Leistung regulärer Gerichte steht in einer Reihe mit den Sondertribunalen zu den Kriegsverbrechen in Jugoslawien und Rwanda. Gewürdigt wird dies in Deutschland kaum, weil das in der Wiedervereinigung Erreichte weniger beachtet wird als das Unzulängliche und Unvollendete.
Sabine Kampf wollte den Tod ihres Mannes lange nicht wahrhaben. Bis in die neunziger Jahre gab sie sich der Hoffnung hin, ihr Mann werde eines Tages auftauchen. In den Wirren der Wende wandte sie sich an das Ostberliner Militärgericht, wurde dort aber abgewimmelt. Erst als Schaefgens Team Kontakt zu ihr aufnahm und den verantwortlichen Militärstaatsanwalt wegen Rechtsbeugung anklagte, begann sie das Unabänderliche zu akzeptieren. Bei der Stasi hatte sie sich verpflichten müssen, über ihr Schicksal zu schweigen. „In dem Prozess wegen der Todesurteile brach alles aus mir heraus.“ Ein später Akt der Befreiung, mit den Mitteln der Justiz.
Unsere Berichte bringen Licht ins Dunkel der Kriminalgeschichte des Arbeiter- und Bauernstaates und fokussiert dabei auf Morde aus sexuellen Motiven. Doch jeder Fall erzählt auch ein Stück Geschichte. Authentische Dokumente aus dem umfangreichen Stasi-Unterlagen-Archiv, Gerichtsurteile und Vernehmungsprotokolle zeigen auf, unter welchen Umständen diese Fälle aufgeklärt wurden.
Doch lesen Sie die Fälle selbst.