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3 Auf Du und Du mit einer M eerjungfrau

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Tage und Wochen, Monate und Jahre vergingen. Mein Alltag stellte in dieser Zeit steigende Anforderungen an mich, so dass ich sehr viel bloße Denkkraft und Konzentration aufwenden musste, um allen Anforderungen zu genügen. Meine Gefühle blieben dabei etwas auf der Strecke. Wohl deshalb verlor ich von Zeit zu Zeit meinen Kristallspiegel aus den Augen, obwohl ich stets spürte, dass er an Ort und Stelle war, wo ich ihn vorsorglich angebracht hatte, – an meinem Herzen. Mein Herzrhythmus hatte sich jedoch sonderbar verändert, seit der Kristallspiegel sich in unmittelbarer Nähe befand. Inwiefern, das wusste ich nicht so recht. Aber ich hatte ein wohliges Gefühl dabei.

Natürlich unternahm ich während dieser Zeit unzählige Tauchgänge im Wasser meiner Seele. Dies zu tun war für mich unentbehrliche Gewohnheit geworden. Wie oft fragte ich mich nicht in bestimmten Situationen, warum ich eigentlich dieses oder jenes empfand, fühlte, dachte, plante oder spontan ausführte. Jede solche Frage veranlasste einen Antwort suchenden Tauchgang im Wasser meiner Seele, wo Schmutzpartikel und Schlammwolken mir immer wieder die Sicht versperrten, bis es mir schließlich gelang, ein weiteres bisschen Klarheit zu gewinnen.

Auf welche Weise solche seelische Klärung eigentlich zustande kam, entzog sich meiner wachbewussten Aufmerksamkeit. Hingegen kam es vor, dass ich interessante Beobachtungen machen konnte, wenn ich den Ursachen und Zusammenhängen meines Alltagsgeschehens unterhalb meines seelischen Meeresspiegels nachging. Dafür möchte ich hier ein Beispiel geben.

Einmal hatte ich während eines Tauchgangs sehr ausdauernd und stets guten Willens nachgeforscht. Immer wieder hatte ich meine Problematik möglichst unangestrengt von neuen oder gar ungewöhnlichen Blickwinkeln her betrachtet und mich dabei mit offenem Blick um die Sichtversperrenden Schlammwolken herum geschlängelt, die mir im trüben Wasser meiner Seele überall hin folgten, unberechenbar und schlangenhaft.

Da plötzlich musste ich wohl einen neuralgischen Punkt des Schlangenhaften empfindlich getroffen haben. Denn unerwartet entstanden kräftige Wirbel und neuartige Strömungen, die alle schattenhaften Partikel an sich zogen und sie irgendwie „verschlangen“. Bei meiner Rückkehr an die Oberfläche stellte ich fest, dass meine Alltagsproblematik sich hier in ein entsprechend neues Licht gestellt hatte, ja, sich sozusagen von allein geklärt hatte.

*

Eines Tages veranlasste irgendetwas in meinem Herzen mich dazu, eine wagemutige Expedition zu unternehmen. Allerdings wusste ich nichts Näheres darüber, was mich erwartete. Ich machte mich einfach auf den Weg, tauchte ab und schwamm sehr weit in eine mir unbekannte Richtung, die mir innerlich vorgegeben schien. Wie gewohnt folgte ich dabei dem wechselhaften Terrain meines Seelengrundes.

Zu meinem Erstaunen fiel das Terrain auf dieser Tour so stark ab, dass ich in unbekannte Tiefen gelangte. Es wurde deshalb immer dunkler um mich herum, und mir wurde allmählich recht unbehaglich zumute. Nach einigen weiteren Schwimmzügen fiel der Meeresboden fast senkrecht ab. Eine beunruhigend dunkle Tiefe tat sich unter mir auf, wobei ein saugendes Gefühl mich von Kopf bis Fuß ergriff, als wolle es mich für immer abwärts ziehen.

Noch hatte ich Kraft genug, um mich dem saugenden Gefühl in mir zu widersetzen. Aber ich spürte deutlich, dass meine Kräfte nachlassen würden, je tiefer ich käme. Gerade hatte ich mich zur Umkehr entschieden, da erblickte ich in horizontaler Richtung eine sonderbare, irgendwie verlockende Lichterscheinung. Überrascht schwamm ich dem unbekannten Phänomen entgegen und erreichte kurz darauf einen breiten Lichtstreifen, der, ähnlich einem Schacht, von der Oberfläche meines Bewusstseinsmeeres her kommend in dessen tiefste Tiefen hinabzuführen schien.

Gleichsam erlöst schwamm ich hinein in den senkrechten Lichtschacht, wo zahlreiche, winzig kleine Elementarwesen in schneeweißen Gewändern mich begrüßend umzingelten. Je mehr ich mich dem verlockenden Licht genähert hatte, desto wohler war mir zumute geworden. Dank des Lichtschachtes konnte ich jetzt mühelos weiter abwärts schwimmen, eskortiert von einer Schar kleiner Elementarfreunde, die offenbar weder Augen zu sehen noch Ohren zu hören hatten, sich aber dennoch orientierungsfähig erwiesen, ebenso wie sie sich mir gegenüber äußerst entgegenkommend verhielten.

Als ich für einen kurzen Augenblick aus dem Lichtschacht herausspähte, stellte ich fest, dass die Dämmerung dort draußen sich mit zunehmender Tiefe veränderte. Sie wirkte transparenter als vorher und war von leicht violetter Färbung. Hier gab es weder Schlamm noch Rückstände irgendwelcher Art, was mich sehr überraschte. Dennoch konnte in dieser Tiefe natürlich nicht, wie oberhalb des Meeresspiegels, von klarer Fernsicht die Rede sein.

Während ich weiter abwärts schwamm, wurde der Lichtschacht langsam etwas breiter. Schließlich erreichte ich die tiefste Tiefe meiner Seele und setzte meinen Fuß auf unbekannten Meeresboden. Fremdartige Pflanzen bildeten hier einen geheimnisvollen Dschungel, in welchem allerlei ebenso unbekannte Fische und Seetiere herumschwammen oder herumkrochen. Einige der Pflanzen streckten sich bis zu Baumgröße und schienen das Licht um sie herum sehr zu genießen, wohingegen die meisten Fische sich nur kurzzeitig im Lichtkreis aufhielten, um danach in die transparente Dämmerung zurückzukehren.

Mir fiel auf, dass zwischen den Felsbrocken, die innerhalb des Lichtkreises verstreut umher lagen, hell strahlende Elementarwesen verkehrten. Einige von ihnen schienen unmittelbar aus dem felsigen Boden selbst herauszukommen und schwammen zielbewusst weiter aufwärts, dem Lichtschacht folgend. Andere kamen von oben herab und schienen im felsigen Meeresboden spurlos zu verschwinden.

Ich richtete mich auf, ging schwebenden Schrittes aus dem Lichtkreis heraus und setzte mich kurz darauf auf einen Felsbrocken in der Dämmerung, um ein wenig zu mir zu kommen. Dabei ließ ich meinen Blick aufmerksam umherschweifen. Die Algenbäume wuchsen hier etwas üppiger als die im Lichtkreis, streckten sich aber mehr seitwärts und bildeten geradezu eine Wildnis, einen Dschungel von ineinander verschlungenen Pflanzenkörpern.

Auffällig an dieser dämmerigen Unterwassernatur war, dass ein anregend fluoreszierendes Licht von allen Organismen ausging. Sämtliche Fische, Quallen und Krabben, sobald sie sich in ihrem natürlichen Element außerhalb des Lichtkreises bewegten, schillerten bunt aus sich selbst heraus und schwammen vielfarbig fluoreszierend umher. Die Szenerie um mich herum erweckte gleichsam den Eindruck eines farbenfrohen Karnevals der Unterwasserwelt.

Ich fühlte mich konfrontiert mit einer fernen Vergangenheit meiner eigenen Existenz, so fern, dass es mir schwer fiel, mich mit der äußerst urwüchsigen Natur eins zu fühlen. Ich betrachtete sie irgendwie auf Abstand und wunderte mich über alles, was ich sah. Dabei war mir bewusst, dass meine tiefsten Sehnsüchte im Grunde einer ganz anderen, jedoch ebenso unbekannten Natur galten. Meine Gefühle und Gedanken suchten dieses andersartig Neue in jeder Lebenslage. So wurde mir jetzt bewusst, dass die gewisse Schwerelosigkeit, die mir innerhalb des Lichtkreises einen aufrechten, leichtfüßig schwebenden Gang ermöglichte, außerhalb desselben mit jedem Schritt, den ich weiter hinaus in die Dämmerung tat, nachlassen würde, so dass ich zunehmend mehr Kraft für meine Fortbewegung würde aufbringen müssen – und dies nur schwimmend würde praktizieren können.

Während ich in diesen Gedanken versunken auf dem Felsbrocken saß, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Lichtschacht, der mich mit der Menschenwelt weit oben verband. Ohne diese Lebensader würde ich mich hier in der Tiefe nicht aufhalten können. Ich erkannte es an dem saugenden Gefühl, das sich außerhalb des Lichtschachtes in mir zurückgemeldet hatte, wenn auch nur mäßig. Falls ich mich zu weit vom Licht entfernte, müsste ich damit rechnen, alsbald die Grenze des Erträglichen zu erreichen.

So schien mir, dass es für mich, hier in der tiefsten Tiefe meiner Seele, trotz aller Faszination nichts weiter zu tun gab. Ich begann deshalb, mich auf die Rückkehr nach oben einzustellen, ließ mir aber noch etwas Zeit, um die urwüchsige Stimmung um mich herum in mich aufzunehmen und auf mich wirken zu lassen.

Da plötzlich – in kurzer Entfernung, halb verborgen hinter einem glitschigen Algengestrüpp – rührte sich was! – Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Dann aber sah ich es mehr als deutlich. Ein menschliches Wesen! – Ein jungfräulich anmutendes Mädchen schlängelte sich gekonnt schwimmend durch das Gestrüpp der unzähligen olivengrünen Pflanzenarme und steuerte direkt auf mich zu. Anstelle von Beinen hatte sie eine mit Schuppen besetzte Schwanzflosse, die ihr bis an die Hüften reichte. Oberhalb derselben sah sie ganz so aus, wie man es bei einem naturhaften jungen Mädchen erwartet. Ihre langen dunklen Haare schlängelten sich um ihre zarten Schultern und wallten im Takt mit ihren resoluten Kopfbewegungen. Zwei große, tief dunkle Augen schauten geübt um sich.

In diesem Augenblick wurde sie meiner gewahr. Ich verharrte etwas verlegen auf meinem Felsbrocken und betrachtete unverwandt das auf mich zu schwimmende weibliche Wesen. Ein verhaltenes, ruhiges, irgendwie wissendes Lächeln erschien auf ihren Lippen und widerspiegelte sich zugleich in ihren dunklen Augen. Ohne jede Scheu und in natürlicher Neugier ließ sie sich auf einem großen Felsbrocken mir gegenüber nieder.

Da ich überhaupt nicht darauf gefasst war, dass ein verbaler Gedankenaustausch zwischen uns möglich sein würde, sagte ich nichts, sondern zeigte freundlich erklärend erst auf mich selbst und dann auf den nahe gelegenen Lichtschacht, dessen Existenz unsere Begegnung ermöglicht hatte. Sie gab mit einem Lächeln zu verstehen, dass sie mich trefflich verstanden hatte – und öffnete dann zu meiner Überraschung ihren Mund, um mir in meiner eigenen Sprache zu sagen:

„Ich war gerade unterwegs zum Lichtbaum. Sein weißes Licht zieht mich magisch an und tut mir richtig gut. Deshalb suche ich ihn immer wieder auf. Ich weiß nämlich, dass in seinen obersten Ästen Menschen leben. Das sind luftige Wesen mit zwei Beinen zum Gehen statt mit einer Schwanzflosse zum Schwimmen. So wie bei dir. Aber bisher war noch keiner von ihnen hier unten, wo wir leben. – Du bist eine echte Überraschung!“

Bei diesen Worten ging ihre Unbefangenheit in Staunen über, derweil ihr Blick dem Lichtschacht aufwärts folgte und ihre Hände malerisch die Bewegung ihrer Gedanken illustrierten.

Eine gewisse Regung an meinem Herzen ließ mich begreifen, dass die kleine Meerjungfrau sich in ihrer eigenen, für mich fremdartigen Sprache artikulierte, dass ihre Gedanken aber auf geheimnisvolle Weise in meiner Herzgegend umgewandelt wurden und daraufhin in der mir vertrauten eigenen Sprache meinen Gehörsinn erreichten. Auch begriff ich, dass Welten zwischen uns lagen, und dass es am besten sei, mich ihr einfühlsam anzupassen.

Während sie mit ihrer Schwanzflosse behutsam einige Tiefseekrabben beiseite schob, die sich an ihren Schuppen zu schaffen machten, setzte ich den Gedankenaustausch auch meinerseits in gesprochenen Worten fort, in der Hoffnung, die kleine Meerjungfrau würde meine Rede ebensowohl verstehen wie ich ihre:

„Ich muss gestehen, dass ich in dieser für mich ungewöhnlichen Tiefe nicht so recht in meinem Element bin, obwohl es hier sehr schön ist. Zum Glück bin ich unbeschadet hier angekommen. Wie du siehst, kann ich auf meinen zwei Beinen nicht nur aufrecht gehen. Ich kann sie auch zum Schwimmen benutzen.“

Ich demonstrierte dies, indem ich einige Schwimmzüge um den großen Felsbrocken herum machte, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Sie schien tatsächlich alles zu verstehen. Ihre lebenslustig spielenden Augen, ihre spontanen Kopfbewegungen und ihre zwanglosen Gebärden jedenfalls deuteten darauf hin. Sodass ich mich ermutigt fühlte, die Kommunikation verbal fortzusetzen:

„Woher weiß eine Meerjungfrau wie du, dass luftige Menschen mit zwei Beinen ausgestattet sind, statt mit einer Schwanzflosse?“

Die Meerjungfrau wollte gerade antworten, schlug dann aber von einem Augenblick zum andern ein paar schwimmende Saltos rückwärts und aufwärts und schaute in eine bestimmte Richtung:

„Meine Tante ruft mich. Sie will mich davon abhalten, mich dem Lichtbaum zu nähern. Sie meint, das bringe mir Unglück. Aber ich glaube ihr nicht. Sie ist etwas verstaubt, etwas zopfig, wenn du weißt, was ich meine. Sie liegt mir immerzu auf den Schuppen. Sie kann ruhig noch ein bisschen auf mich warten. Das ist sie gewohnt. Wenn sie wüsste, dass ich gerade einem Luftmenschen begegnet bin, wäre sie schrecklich aufgeregt. Ich erzähle es besser niemandem.“

Die kleine Meerjungfrau kehrte mit viel Schwung zu ihrem Platz auf dem Felsbrocken zurück, setzte sich zurecht und schlang ihren rechten Arm um einen schleimigen Ast, der sich in der Strömung über dem Stein hin und her bewegte.

„Das mit den Beinen weiß ich von meiner Großmutter. Sie weiß sehr viel. Ich mag sie sehr. Ich wohne bei ihr, seit meine Eltern von einem großen Raubfisch verschlungen wurden. Ich kann mich kaum an meine Eltern erinnern. Na, wen interessiert das wohl heute! – Also, meine Großmutter und meine Tante und ich wohnen in einer Algenhütte, nicht weit von hier. Von meiner Großmutter weiß ich, dass es Luftmenschen gibt, die mehr gehen als schwimmen, eben weil sie statt einer Schwanzflosse zwei Beine haben. Sonst sind sie uns recht ähnlich, wie ich jetzt mit eigenen Augen sehe. Von wo die Luftmenschen in die obersten Äste des Lichtbaumes gekommen sind, habe ich noch nicht herausgefunden. Meine Großmutter will mir nicht alles erzählen, was sie weiß. Nicht, bevor ich etwas älter geworden bin, sagt sie. Aber sie hat doch erzählt, dass eine Jugendfreundin von ihr auf abenteuerliche Weise durch den Stamm des Lichtbaumes ganz nach oben schwamm – und nie mehr zurückkehrte. Weißt du vielleicht etwas davon?“

Erwartungsvoll schaute sie mich an.

Ich wurde wieder etwas verlegen, denn ich kannte die Geschichte recht gut, hatte aber immer geglaubt, es sei eine reine Märchengeschichte. Wie sollte ich ihr den Unterschied zwischen Märchen und Wahrheit erklären, wenn er mir vielleicht selber noch nicht so richtig bewusst sei. Vielleicht seien Märchen und Wahrheit ja viel mehr miteinander verbunden, als ich es bisher geglaubt hatte. Sonst säße ich wohl nicht hier auf dem Meeresgrund meiner Seele, – im Gespräch mit einer kleinen Meerjungfrau.

Ihre fragenden Augen hingen immer noch an meinen Lippen. Ich fasste mir ein Herz und entschied mich für die Diplomatie:

„Deine Großmutter ist eine kluge Frau. Ich bin sicher, dass sie dir die ganze Geschichte erzählen wird, wenn du einige Jahre älter geworden bist. Aber sag mal, bist auch du irgendwann mal annähernd nach oben geschwommen?“

Die kleine Meerjungfrau freute sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen unter Beweis zu stellen:

„Nein, das hat bisher nicht geklappt. Irgendeine Kraft hält uns Wassermenschen hier unten fest. Aber im Lichtbaum ist die festhaltende Kraft nicht so stark. Dort scheint es eine Gegenkraft zu geben. So bin ich einige Male ein gutes Stück aufwärts geschwommen. Das ist wunderschön. Nur, die Sache hat einen Haken! Je weiter ich nach oben gelange, desto schwindliger wird mir. Zuletzt muss ich die Augen schließen und mir wird schlecht. Ich muss dann umkehren. Aber ich habe herausgefunden, dass ich durch Übung immer höher steigen kann. Deshalb unternehme ich dann und wann einen heimlichen Aufstieg. –Wenn da bloß nicht meine Tante wäre!“

Sie seufzte tief. Ich sah ihr an, dass hinter ihrer jugendlichen Neugier und Abenteuerlust tiefe Sehnsüchte waren, Sehnsüchte danach, eine andere und höhere Welt als ihre eigene kennen zu lernen.

„Woher weiß deine Großmutter von den Luftmenschen? Sie ist ja sicherlich auch nicht ganz oben gewesen, wo wir wohnen?“

„Nein, das ist sie nicht. Aber sie hat es versucht, als sie jung war. Es war wie bei mir. Es ging einfach nicht. Und dann ließ sie es sein, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollte. Eigentlich glaube ich nicht, dass ich es wirklich schaffe. Aber das Probieren macht Spaß. Meine Großmutter hat mir geraten, immer auf meine innere Stimme zu hören und rechtzeitig umzukehren, wenn die Stimme mich warnt. Meine Großmutter weiß viel von den Luftmenschen. Denn sie hat freundschaftliche Verbindung zu unserem Herrscher, dem Meeresfürsten, der nicht sehr weit von hier in einem Wasserschloss wohnt. Sie ist völlig hin, wenn sie von ihm erzählt. Vielleicht willst du sein Schloss mal sehen? Ich könnte es dir zeigen.“

Ich war sehr beeindruckt. Schon wieder ein Herrscher, diesmal konkret sowie greifbar nahe, wie mir schien. Trotzdem wehrte ich ab:

„Ich kann mich nicht sehr weit vom Lichtbaum entfernen. Wenn ich es versuche, zieht irgendetwas mich weg von mir selbst und macht mich schwach. Auch ich muss auf meine innere Stimme hören.“

Die kleine Meerjungfrau sah aus, als ob sie intensiv nachdachte. So war es auch. Sie hatte einen Einfall:

„Ich weiß was! – Wir schwimmen zusammen ein Stückchen aufwärts im Lichtbaum. An einer bestimmten Stelle müssen wir aus dem Licht heraus schwimmen. An einer nahe gelegenen Felswand in kurzem Abstand vom Lichtbaum müssen wir dann in eine dunkle Grotte hinein schwimmen. Am anderen Ende der Grotte befindet sich ein Ausgang. Dort gelangen wir wieder hinaus ins Freie. Es ist total ungefährlich. Viele kleine Fische benutzen die Passage, um einen großen Umweg zu vermeiden. Sie markieren mit ihren selbstleuchtenden Körpern eine Lichtspur, der wir vertrauensvoll folgen können. Auf der anderen Seite der Passage sieht man das Schloss des Meeresfürsten von oben, in all seiner Pracht. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“

Da es ohnehin Zeit war für meine Rückkehr, und ihr spontaner Einfall mir überdies sehr behagte, willigte ich bedenkenlos ein. Die kleine Meerjungfrau strahlte vor Freude und war sofort an meiner Seite, fasste mich an der Hand und zog mich mit sich hinein in den Lichtschacht. Eine wunderbare Empfindung geheimnisvoller Zusammengehörigkeit durchströmte mich bei dieser ersten Berührung. Dann stiegen wir Hand in Hand aufwärts, während zahlreiche Elementarwesen uns vertraulich umschwärmten.


Wahre Liebe ist himmelblau

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