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1 Entdeckungen im Wasser meiner Seele
ОглавлениеIch bin Anders Andersen, im Grunde ein namenloser Schöngeist auf der Suche nach sich selbst und seiner Bestimmung. Meine große Leidenschaft ist die Erforschung meiner Seele. Manche halten mich darum für ein wenig kurios oder gar wunderlich, um nicht zu sagen schrullig. Da ist sicherlich etwas Wahres dran. Ich selbst erlebe mich allerdings eher als ein wenig entrückt. Das klingt in meinen Ohren um einiges besser – und ist wohl auch zutreffender. Aber urteilen Sie selbst.
Als ein Kind des just zu Ende gegangenen, von dramatischen Weltereignissen äußerlich wie innerlich zutiefst erschütterten Jahrtausends stehe ich nachdenklich an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Dort stehe ich nicht allein. Ich befinde mich inmitten unzähliger Brüder und Schwestern. Die meisten von ihnen schauen mit fernem Blick vor sich hin. Ihre Augen suchen etwas Unbestimmtes, Verborgenes, Zukünftiges, dessen reale Existenz sie untergründig spüren. Es zieht ihre Aufmerksamkeit magisch auf sich. Aber sie können es nicht konkretisieren. Folglich schauen sie aneinander vorbei. Ihr suchender Blick trennt sie voneinander, statt sie zusammenzuführen.
Nachdenklich betrete ich die Schwelle. Einerseits möchte ich sie fröhlich und unbeschwert passieren. Andererseits hält irgendetwas mich zurück. So verharre ich auf der Schwelle, um mich zu sammeln, innerlich aufzuladen. Ich möchte meine ersten Schritte ins Neue und Ungewisse segensreich beflügelt wissen.
Während ich zögerlich um mich schaue, wird mir bewusst, dass ich die nächsten vielen Schritte nicht allein gehen möchte. Warum nicht versuchen, das Unbestimmte, Verborgene, Zukünftige, wonach meine Brüder und Schwestern gleichsam paralysiert Ausschau halten, in meiner Person Gestalt zu geben und ihnen somit sichtbar und greifbar zu machen. So könnte ich ihren isolierten Fernblick unterbrechen, ihn umlenken auf die Nähe des lebendigen Augenblicks. Sie würden nicht mehr aneinander vorbei schauen, sondern zuerst mich und das mir kurios Anhaftende – und dadurch sich selbst sowie jeden Bruder und jede Schwester um sich herum wahrnehmen. Dieser kleine pädagogische Dreh könnte uns näher miteinander verbinden, unsere ersten gemeinsamen Schritte neuartig beflügeln.
Also greife ich tief hinein in meine Seele, um dem dort Verborgenen Gestalt zu geben. In meinem Inneren erkenne ich eine unendliche, mehr oder weniger fassbare Vergangenheit, die mich wohlweislich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Teilweise tritt meine Vergangenheit sogar gestochen scharf in Erscheinung. Nach vorn, über die Schwelle hinaus, sehe ich hingegen nichts entsprechend Klares und Erforschbares, erahne aber eine Zukunft, die mich liebevoll in die Arme nimmt, ohne mich wissen zu lassen, was sie mit mir vor hat.
Hilfreiche Gefühle und Gedanken durchströmen mein Herz und meine Sinne in diesem heiligen Augenblick auf der Schwelle. Erhabene Sehnsüchte steigen in mir auf. Ich wünsche mir, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu versöhnen und zu verknüpfen. Dazu muss ich die vielfältigen Vorkommnisse meiner Gegenwart neu begreifen; denn in ihnen begegnen sich Vergangenes und Zukünftiges. – Nicht, dass solches ausgerechnet auf der Schwelle eines neuen Jahrtausends geschehen muss. Nein, es kann jederzeit geschehen; denn jeder Mensch steht in jedem Augenblick seines Lebens auf einer Schwelle zwischen alt und neu. Dass ich ausgerechnet auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend besonders nachdenklich geworden bin, damit hat es eine eigene Bewandtnis. Mein Nachsinnen dauert nämlich schon recht lange – und scheint gerade jetzt zu kulminieren. So bietet sich mir die genannte Schwelle auf natürlichste Weise an, um mich meinen Brüdern und Schwestern gegenüber zu erklären.
Indem ich nun das vielfältige Leben um mich herum aufmerksam betrachte, vernehme ich von meinen Brüdern und Schwestern her sowohl Herzerquickende Lebensfreude wie auch Herzbeschwerende Bedrängnis. Die Kontraste unserer gemeinsamen Gegenwart greifen ineinander auf eine Weise, die mein Herz konstruktiv erschüttert. Dies umso mehr, als die Schattenwirkungen zuzunehmen scheinen und vielerorts in der Welt alle Lebensfreude zu ersticken drohen.
Wie ich verspüre, haben solche Erfahrungen damit zu tun, wie jeder von uns mit seinen Gefühlen und Gedanken umgeht. Darauf möchte ich etwas näher eingehen. Am besten bleibe ich erstmal bei meinen eigenen Gefühlen und Gedanken!
*
Ich erlebe meine Gefühle und Gedanken als das Wasser meiner Seele. Mich interessierte schon immer, die geheimnisvolle Tiefe meiner seelischen Innenwelt näher kennen zu lernen. So dachte ich viel nach über mich selbst und mein Leben. Dabei entdeckte ich, dass das Wasser meiner Seele sich regelrecht erforschen lässt.
Wenn ich mich dabei von preschender Neugier und Abenteuerlust antreiben ließ, war es allerdings schwierig, die Wassertiefe meiner Seele auszuloten und so zu erforschen, dass ich mich dadurch erbaut und erfüllt fühlte. Mein Leben schien sich zu komplizieren. Meine gewollte Umarmung der mir begegnenden Zukunft verkrampfte sich, lähmte meine Glieder, ließ Ängste in mir aufsteigen.
Dies änderte sich, sobald ich meine Neugier und Abenteuerlust zurückstellte und meine Sehnsucht nach höherem Wissen und höherer Liebe als alleinigen Antrieb meiner Forschung benutzte. Das trübe Wasser meiner Seele klärte sich dann überraschend schnell und offenbarte mir einige weitere seiner vielen Geheimnisse. Die mich zuweilen heftig umklammernden Arme der Zukunft wurden mit einem Mal weich und wohltuend. Meine Glieder streckten sich wohlbehaglich. Alle untergründigen Ängste verflüchtigten sich.
So wurde mir klar, dass ich hier und jetzt nicht nur ein Stück Vergangenheit bin. Mir wurde bewusst, dass ich nicht nur das bin, was meine Vergangenheit aus mir gemacht hat, sondern dass ich auch etwas bin, was meine Zukunft mit mir vorhat. Denn meine veränderte Forscherhaltung – von alleiniger Neugier zu höherem Wissensbedürfnis und von isolierter Abenteuerlust zu höherem Liebesbedürfnis – erzeugt eine besondere Strömung, die das Wasser meiner Seele neuartig in Bewegung setzt und die Energieströme meiner Zukunft, die mich in der Gegenwart ständig berühren, harmonisierend beeinflusst.
Ich musste jedoch auch erfahren, wie schwierig es sein kann, bei wankelmütig-schwachem Glauben an höheres Wissen und höhere Liebe die Erforschung meiner Seele erfolgreich zu betreiben. Immer wieder stiegen aufdringliche Neugier und preschende Abenteuerlust in mir auf, trübten das Wasser meiner Seele und reflektierten schattenhafte Vorkommnisse, die ich vorerst als wertvolle Errungenschaften einschätzte. Folglich war meine Seelenforschung lange Zeit nicht nur von glückseliger Erkenntnis, sondern auch von schmerzlicher Ernüchterung geprägt gewesen, was mich allmählich begreifen ließ, dass ein Übermaß an Neugier und Abenteuerlust meine Sinne getäuscht und das Wasser meiner Seele getrübt hatten.
Bis auf weiteres schien mir nichts anderes übrig zu bleiben als immer wieder von vorn über meinen vermeintlich allzu schwachen Willen nachzusinnen. Mithilfe gebündelter Willenskraft müsste sich wohl am ehesten herausfinden lassen, nach welchen Gesetzen mein Fühlen und Denken sich einfärbt und formiert.
Es kam dann aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich begann einzusehen, dass gebündelte Willenskraft grundsätzlich nicht ausreicht, wo es darum geht, in meiner Seele nachhaltige Klarheit zu schaffen. So kam ich auf die gute Idee, meinem energisch gebündelten Forscherwillen ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Unbestimmtheit entgegenzusetzen, einen gefügigen Willen zum Guten, der von vornherein auf jegliche Druckmittel verzichtet. Das bewirkte Erfolge, die ich kaum zu erhoffen gewagt hatte.
Also setzte ich meine Beobachtungen in den verborgenen Gefilden meines Seelenmeeres fort, ausgerüstet mit soviel gutem Willen der erwähnten Art, wie ich aufzubringen vermochte. Wir gern hätte ich mich nicht in klarem Wasser befunden, um alles unbeschwerter betrachten und studieren zu können. Aber das Oberflächenwasser meines Seelenmeeres ließ nicht viel Licht durch. Das lag an dem Staub, Schlamm und Schutt, der meinen Seelengrund über weite Strecken bedeckte und durch willkürliche Strömungen immer wieder aufgewirbelt und nach oben getragen wurde.
Ich begriff allmählich, dass Staub, Schlamm und Schutt im Wasser meiner Seele Abfallprodukte sind, die überall entstehen, wo ungezügelte Neugier und Abenteuerlust am Werke sind. Denn ich brauchte nur ein klein wenig aufdringliche Neugier sowie preschende Abenteuerlust in mir Raum zu geben, dann war ich sofort in einer undurchdringlichen Wolke drin. Alle Substanzen in meinem Seelenwasser schienen deutlich auf mein Fühlen und Denken zu reagieren. Mit Hilfe meines guten Willens gelang es meistens, die mich umwirbelnden Schlammwolken so weit zu zerstreuen, dass ich mich orientieren und somit eigentliche Forschung betreiben konnte.
Während ich auf diese Weise schwimmend und forschend dem Terrain meines Seelengrundes folgte, erblickte ich dann und wann unförmige Gegenstände, die aus dem Schlamm hervorragten oder in den Schlammwolken eine irgendwie bedrohliche Gestalt annahmen. Manchmal gelang es mir, ihre Identität festzustellen. Wunderbarerweise gingen sie im Augenblick der Identifikation in Auflösung, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Ein weiteres Stückchen Klarheit entstand dadurch in meiner Seele.
Zum Glück sind meine Tauchgänge nicht nur von Schlammwolken begleitet. Zwischendurch stoße ich auf unterseeische Landschaften, die in großer Klarheit und Schönheit leuchten. Gleich Oasen der Reinheit und Fruchtbarkeit liegen sie dort unten in der Tiefe meiner Seele, in Licht gebadet. Denn die trüben Wassermassen über ihnen werden von geheimnisvollen Seelenkräften in strömender Bewegung gehalten, sodass Lichtdurchflutete Korridore sich bilden. Die Lichtwände dieser Korridore vibrieren in schillernden Farben. Winzige Elementarwesen in strahlend weißen Gewändern huschen umher. Sie reflektieren das ihnen innewohnende Licht in alle Richtungen und schaffen so in der tiefsten Tiefe meiner Seele Lebensbedingungen für herrlichste Lebensformen und Lebensnuancen.
In solcher von Licht durchfluteten Seelenlandschaft wandelt sich mein Lebensgefühl. Intensive Lebensfreude und tiefe Erfüllung überkommen mich. Die Schwere in mir und um mich herum scheint sich zu verflüchtigen. Ich bewege mich in leichtfüßig schwebendem Gang statt in Kraft fordernder schwimmender Aktion. Außerdem gibt es bei solcher Lichtintensität kaum etwas zu erforschen. Denn alles erstrahlt in beeindruckender Klarheit und beantwortet sich gleichsam von selbst.
Wenn ich mich in solcher Oase aufhalte, kann mich das Bedürfnis überkommen, mich dorthin zurückzuziehen. Bei solchen Gedanken erheben sich jedoch alsbald dunkle Schlammwolken gleich außerhalb der Oase, und eine kühle Strömung berührt mich. So werde ich ermahnt, dass ich nicht lebe, um mich genüsslich in Oasen niederzulassen, sondern um die noch trüben Regionen meines Seelenmeeres in blühende Gärten umzugestalten.
*
Eines Tages hatte ich gerade eine besonders bezaubernde Oase verlassen, um ein angrenzendes halbdunkles Gebiet näher zu untersuchen, als ich unversehens in eine schlammige Vertiefung trat und dabei gegen etwas Hartes stieß. Ich beugte mich hinunter und griff beherzt hinein in den Schlamm, um das gewisse Etwas abzutasten und eventuell herauszuziehen.
Das gelang auch. Doch musste ich den Gegenstand sogleich wieder fallen lassen; denn etwas Scharfes an ihm verpasste mir beim Greifen eine Schnittwunde in den Zeigefinger. Ein Hauch von Neugier musste mich wohl gepackt haben, so dass ich mich ein wenig über die gebotene Vorsicht hinweggesetzt hatte. Auf dem sandigen Meeresboden neben der schlammigen Vertiefung lag jetzt ein kreisrunder, flacher, leicht gewölbter Gegenstand, einem Spiegel ähnlich, nur ohne Griff. Eine markant hervortretende, wunderbar gearbeitete Einfassung aus Kristall glitzerte mir bläulich entgegen. Die Spiegelfläche selbst trat dunkel, matt und unergründlich hervor. Sie reflektierte kein Licht, sondern schien die sie treffenden Lichtstrahlen zu absorbieren. Ein Blutstropfen aus der Schnittwunde meines Zeigefingers haftete für einen Augenblick auf der leicht gewölbten Spiegelfläche, löste sich aber alsbald in Nichts auf.
Vorsichtig umfasste ich nun mit beiden Händen den spiegelähnlichen Gegenstand, auf welchem keinerlei Widerspiegelung zu erkennen war. Ich spürte die Schärfe der Kristallfacetten des Spiegelrandes auf meiner Haut. Und ich vernahm, dass es eine lebendige Schärfe war, eine, die mit meinen Gefühlen und Gedanken korrespondierte. Denn als ich den Gegenstand ehrfürchtig wieder aufgehoben hatte, legte er sich in meinen Handflächen gleichsam zurecht, ohne mir irgendwelches Unbehagen zuzufügen.
Verwundert betrachtete ich meinen ungewöhnlichen Fund. Im Augenblick des Aufhebens waren alle Schlammpartikel von ihm abgefallen, so als würden sie von seiner irgendwie aktivierten Oberfläche abgestoßen. Wie war es möglich, im Schlamm meines eigenen Bewusstseins einen solchen Gegenstand zu finden? Was war sein Geheimnis? Was könnte er mir widerspiegeln?
Zuerst schien sich auf der matten, tiefschwarzen Oberfläche, die den Eindruck eines schwarzen Loches erweckte, nichts zu regen. Nachdem ich aber dreimal nacheinander unausgesprochen sowie in natürlicher Ehrfurcht eine Frage in den Raum gestellt hatte, bewegte sich etwas auf der dunklen Wölbung. Licht und Schatten huschten hin und her und formierten sich schließlich zu einem lebendigen Bild – einem prächtigen Palast aus funkelndem Kristall, umgeben von einer glitzernden Natur, die ebenfalls aus Kristall zusammengesetzt schien.
Mauern, Türme und Nischen des Palastes reflektierten ein bezauberndes Licht, das in allen Farben des Regenbogens glitzerte. Und über dem märchenhaften Gebäude wölbte sich ein prächtiger Nachthimmel, von unzähligen funkelnden Sternen übersät, die sich zu Sternbildern formierten, wie ich sie von nirgendwo her kenne.
Überwältigt von der schweigsamen und doch so lebendigen Sprache der bezaubernden Kristallwelt öffnete ich alle meine Sinne, beseelt von dem innigsten Wunsch, den Sinn dieser geheimnisvoll auf mich gerichteten Bildsprache ungeteilt in mich aufnehmen und vollständig begreifen zu können. Denn der unbekannte Sternenhimmel flößte mir sofort ein tiefes Vertrauen ein – und funkelte mir entgegen, als wolle er mich irgendwie informieren.