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III

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In der riesigen Glashalle, wo an anderen Tagen in jeder Ecke gedreht wurde, standen heute nur Dareens Dekorationen: der maurische Spielsaal von Monte Carlo, in der Form genau kopiert, doch mit grell angestrichenen gelben, grünen und braunen Wänden; zwei prunkvolle Gesellschaftsräume; abseits führte eine breite, weitgebogene Empfangstreppe bis unters Glasdach hinauf.

Um Dareen, der seit sechs Uhr früh, schon drei Stunden vor Beginn der Aufnahme, draussen war, summte ein Ameisenhaufen. Jupiterlampen und Scheinwerfer wurden hereingerollt, die Hochspannungskabel der Lampen schwappten über den staubwirbelnden Fussboden.

Isabel warf einen Blick in das lärmdröhnende Atelier und ging in ihren Kleberaum hinüber. Sie hatte ein kleines Zimmer für sich, weil Dareen den letzten Schnitt — bei dem es sich nicht mehr um Meter, sondern um Einzelbilder handelte — selbst erledigte, häufig gemeinsam mit Michel; und er wollte ungestört sein.

Als sie die Filmrollen der Musterkopie ausgepackt hatte, liess sie im Schreibzimmer, in dem die Maschinen klapperten, die Nachrichten für Frau Kiesering und für den Hilfsregisseur ausschreiben. Darauf ging sie wieder ins Glashaus. Es war unmöglich, an Dareen heranzukommen.

Der Regisseur stand am Haustelephon, schnauzte den Ingenieur des kleinen Elektrizitätswerks persönlich an und ersuchte um zuverlässige und gleichmässige Stromlieferung. Die Lampen standen unter Probelicht und flackerten in stechenden, violetten Strahlen. Es war eben Montag ... Michel Grczegorezewicz hantierte mit seinen Hilfsoperateuren am Motorgetriebe des Aufnahmeapparates herum, das heute wegen der schwierigen Doppelaufnahmen verwendet werden sollte. Die Sache klappte nicht, der Rohfilm klemmte sich unaufhörlich — —

Isabel sah in die erregte Weltuntergangsstimmung hinein. Kilian Koll schrie nach einem fehlenden Requisitenstück und fuchtelte mit seinem völlig zerfledderten Manuskript herum. Tamaroff stand beiseite im Gespräch mit einer grellblonden Schauspielerin, die er duzte; der Russe war schon im Frack, aber noch ungeschminkt, eine Zigarette hing schlaff zwischen den blassen, höhnischen Lippen. Als er Isabel sah, bekamen seine Slawenaugen eine heimliche Wolfsgier.

Hammerschläge schollen auf den rohen, zertretenen Holzplanken. Ein paar Statisten lugten neugierig herein, wurden von Koll rücksichtslos in die Massengarderoben verscheucht. Dareen sah zornig nach der Uhr: es war schon acht vorbei, um neun sollten die Aufnahmen beginnen — und Lydia Keriël war noch nicht da ...

Er liess gerade telephonisch nach ihr fragen, als die Diva eintrat. Sie kam mit ihrem Bruder Ephraim Keriël, dem Allgewaltigen der Gesellschaft, mit dem sie seit den Uranfängen des Films zusammen arbeitete. Dies geschwisterliche Idyll war nur ein einziges Mal gestört worden, als Lydia Keriël sich mit einem Filmschauspieler verheiratete. Die Ehe dauerte aber nur drei Wochen, denn schon auf der Hochzeitsreise ging die temperamentvolle Frau ihrem Gemahl mit einem italienischen Offizier durch, worauf der Verlassene es vorzog, sich mit der geduldigeren und lyrisch hochempfindlichen Zofe der Ungetreuen zu trösten. Seither hatte keine noch so grosse anderweitige Leidenschaft den Himmel der Geschwister Keriël zu trüben vermocht — und Dareen war verheiratet ...

Dem Generaldirektor stak die unvermeidliche Importe, die Dareen ihm während der Aufnahmen jedesmal verbieten musste, im fetten, kalten Gesicht; sie war halb zu Ende geraucht, die weisse Asche war aber noch vollkommen unverletzt. Während die Diva bei jedem der gellenden Hammerschläge zusammenzuckte, ging er neben ihr, als sei er taub.

Dareen verhandelte mit dem weisshaarigen Beleuchtungsinspektor, als er Lydia Keriël sah. Er warf einen forschenden Blick zu ihr hinüber, klemmte das Manuskript unter den Arm und ging auf sie zu. Um ihre Augen lagen tiefe Schatten, ihr unstäter Blick suchte rastlos im verwirrten Trubel der Vorbereitungen. „Lydia,“ flüsterte Dareen ihr zu, „ich fürchtete schon, Sie würden heute nervös und unruhig kommen zu den schwierigen Szenen — aber Sie sehen aus, dass ich mich in Sie verlieben würde, wenn — —“

„Wenn —?“ fragte sie lauernd, von einer rosigen Frische überhaucht. Dareen sah es mit Freuden: sie verwandelte sich unter seinen Worten. Ja, sie ist ein Kind, dachte er und zog ihre Hand stumm an die Lippen. Das schien ihr Antwort genug, und sie ging mit verjüngten Schritten in ihre Garderobe. Dareen und der Generaldirektor sahen ihr nach; Keriël trat an den Regisseur heran und klopfte ihm schmunzelnd auf die Schulter, bot ihm dann die Hand zum Gruss.

Koll war nicht zu erreichen. Isabel fand Frau Kiesering in einer Ecke: eine grämliche, verbrauchte Frau, die Dareen vor ein paar Monaten für kleine Rollen entdeckt hatte und deren müden Augen jede Lebensangst zu glauben war: darum auch war sie gut verwendbar, denn Dareen brauchte Gesichter — aber sie konnte sich nicht recht an die Technik der Aufnahmen gewöhnen. Die Frau las den Handzettel mit mühsamer Beherrschung, ihre Hände zitterten. Isabel versuchte die heimlich Schluchzende zu trösten.

Als sie weitergehen wollte, wurde der grosse Atelierflügel dahergerollt. Sie trat einen Schritt beiseite und streifte dabei die grellblonde Schauspielerin, die noch mit dem Russen kokettierte. „Bitte zu entschuldigen“, sagte Isabel höflich. Die kleine Dame fauchte sie sogleich mit erhobener Stimme an: „Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten, Sie!“

Dareen hatte es gehört. „Guten Morgen, Fräulein Gynthenburg“, sagte er mit betonter Freundlichkeit, trat an sie heran und erkundigte sich kurz nach ihrer Arbeit. „Wenn Sie eine Frage haben, kommen Sie, bitte, her.“

Als Isabel zum Ausgang ging, hörte sie Tamaroff zu dem Regisseur sagen: „Schauen Sie, Herr Dareen, wie wundervoll geht Ihre kleine Klebedame.“ Sie spürte Blicke in ihrem Nacken, wandte sich aber nicht um. Ein grosser Spiegel lehnte an einer Furniersäule, im Glas sah Isabel, wie Dareens Augen ihr nachdenklich folgten. Unangenehm — diese geschminkten Zigeuner —

Isabel setzte sich an ihre Arbeit, nahm Szene für Szene aus dem Zelluloidstreifen heraus, verglich ihr Stenogramm und schnitt weg, was Dareen nicht verwenden wollte. Er behauptete zuweilen, sie habe zuviel entfernt. Es kam auch vor, dass er Teile, die er selber weggeschnitten hatte, später wieder einfügen liess, so dass Isabel die Abfälle zunächst in einer grossen Pappschachtel sammelte, bis der letzte Schnitt erledigt war.

Immer, wenn sie zehn Nummern geschnitten hatte, nahm sie die in der Reihenfolge nebeneinandergelegten Filmstreifen, klebte sie im Maschinchen zusammen und dann an die grosse Rolle. Wenn Dareen schnitt, war das Kleben in seiner Gegenwart ein für allemal verboten wegen der stechenden Dämpfe, die sich dabei entwickelten. Isabel musste im Nebenzimmer arbeiten, während eine Hilfsperson ihr dauernd die geschnittenen Szenen herüberbrachte. Aber Dareen liess in solchen Fällen seine Kleberin oft genug hereinkommen und fragte sie nach ihrer Meinung, so dass sich die Arbeit vielfach zersplitterte. Dann hatte sie nachher eine Unzahl winziger Filmteile, die nicht mehr durch Nummern gezeichnet waren, fehlerlos einzuordnen.

So liess sie das Filmband bedächtig durch die Hände gleiten: es rollte nicht etwa, wie es bei ihrem Herrn und Meister oft genug geschah, wie eine Riesenschlange über den Boden, sondern es wurde sauber in Röllchen gewickelt. Flüchtig mass sie die Szenen aus und schnitt sie zusammen.

Die Arbeit machte ihr Freude, sie spürte einen Formwillen in der kühnen Art, wie Dareen mit eiligem Befehl ungezählte Meter an sich verwendbarer Bilder rücksichtslos entfernen liess, um die Zügel der Handlung straff zu führen. Zuweilen war Isabel anderer Meinung als ihr Chef, sie machte sich dann eine kurze Notiz und sprach später mit Dareen darüber, denn er wusste ein verständnisvolles Zusammenarbeiten meist, aber nicht immer zu schätzen. Für Zweifelsfälle lag neben der Arbeitenden das dicke Manuskript „Roulette“, natürlich im siebzehnten Durchschlag, aus dem sie die Bilderfolge vergleichen konnte, wenn etwas in Verwirrung geriet.

Isabel hatte drei Tage Zeit. Auf den Neunstundentag, zu dem sie verpflichtet war, legte sie keinen Wert — denn wenn Dareen arbeitete, war sie meist in ihrem Kleberaum, solange der Regisseur im Dienst war. Strebertum lag ihr fern — aber sie hatte nicht die Absicht, dem Glück ihres eigenen sozialen Wiederaufbaus auszuweichen — — und wenn der Zufall es einmal bringen sollte, so wollte sie zu jeder Zeit bereit sein. Wenn nichts zu arbeiten war, so lag ein kleines Bändchen Bérangerscher Gedichte oder sonst ein Strandgut der Vergangenheit zur Hand.

Vor ihren Augen zog ruckweise die Handlung des Films vorüber — und was dazwischen noch ungedreht war, das las sie ohne Übereilung im Manuskript nach: alles war sauber und raffiniert um Lydia Keriël herumgeschneidert. Doktor Florian war kein Genie, nein, das war er nicht. Isabel wunderte sich, dass Dareen nichts Besseres zu drehen hatte als diese erlogene Geschichte unter reichen Spielern und Hochstaplern.

Die Diva allerdings hatte ihre Glanzrollen darin, die junge und die alte — und das mochte der Zweck der Übung sein. Ob sie wirklich eine so grosse Künstlerin war, wie Dareen glaubte — — und wie Heino es mit sieben Eiden beschwor? Dummer Bub! dachte sie ingrimmig, dummer, lieber Bub!

Ein paar Doppelaufnahmen, auf denen die Keriël in beiden Rollen gleichzeitig im Bilde war, hielt sie neugierig ins Licht. Es war nicht das geringste zu entdecken, und Isabel hätte gerne gewusst, wie Michel derartige Tricks ausführte. Heute waren ja auch solche Aufnahmen. Sie musste Koll noch seinen Zettel bringen, dass er die Regenspritzer kopieren solle. So ging sie wieder in die Halle hinüber.

Über dem Glasdach strahlte der besonnte Himmel, eine dumpfe Schwüle floss in Wellen herab und mischte sich mit der schier versengenden Glut der zahllosen Lampen. Dareen stand in Hemdsärmeln, sein Gesicht war wie in Fett getaucht. Er liess eine der schwierigen Doppelszenen probieren. Isabel blieb im Hintergrund stehen und schaute zu.

Es sah seltsam aus. Um die Spielbank wogte eine flimmernde Menge — doch nur auf der einen Seite, die andere blieb völlig leer. Lydia Keriël war nicht unter den Darstellern: die Ärmste musste sich heute elfmal umkleiden, umschminken und umfrisieren ... Mit ihrer Kraft sollte sparsam umgegangen werden, und Dareen hatte an Hand von Skizzen schon in Monte Carlo mit ihr Szene für Szene bis in die kleinste Einzelheit probiert. An Stelle der Diva markierte eine alte, widerwärtig hässliche Schauspielerin, die eigens für diesen Zweck engagiert war und sich sehr geschickt bewegte.

Lydia Keriël kam aufgelöst und müde aus ihrer Garderobe, ging wortlos vorüber und setzte sich an den Flügel, an dem sie gewohnheitsmässig ihre zappelnden Nerven beruhigte. Dareen winkte auf Michels Wunsch die Probe ab, verbesserte die Stellung einiger Komparsen, die der Grenzlinie der Doppelbilder zu nahe kamen, und liess die Szene noch einmal spielen. Tamaroff, der im Bilde stand, rang die Hände: „Ist siebtesmal probieren, Herr Dareen.“

Der Bucklige stand schwitzend neben seinem Apparat. Isabel bat ihn leise um Aufklärung. Eigentlich hätte er auf die Szene achten müssen, aber weil Isabel es war, die ihn störte, so nickte er erfreut. „Die eine Bildhälfte, auf der jetzt bloss das alte Scheusal steht — ich meine natürlich nicht Frau Keriël — also die eine Bildhälfte habe ich schon belichtet im Apparat, Fräulein Gynthenburg“, flüsterte er. „Darauf war unsere jrosse Lydia so, wie sie ist, nämlich zirka vierzig Lenzlein. Jetzt habe ich das Negativ zurückgerollt — verstehen Sie, Fräulein?“

„Nein“, sagte Isabel.

„Also weiter! Gleich wird die andere Bildhälfte gedreht: darauf ist die Gnädige so, wie sie sein möchte, weil sie meint, dann imponiert sie Herrn Dareen mehr: nämlich eine zarte Knospe von höchstens neunzehn Blütenträumen. Wer’s glaubt, wird selig — meinem Kasten kann man nämlich nichts vorschwindeln —, aber die Dummen werden nicht alle. Übrigens: Obacht — die Sache wird interessant“, und er zeigte mit dem Finger auf Lydia Keriël, die selbstvergessen träumend am Flügel sass. Dareen stand jetzt neben ihr, sein Gesicht lächelte, er beugte sich zu ihr nieder. „Darf ich bitten, Lydia. Wir fangen an.“

Die Keriël schloss die Augen, ihr Kopf machte eine unwillig abwehrende Bewegung: „Lassen Sie mich, ich bin noch nicht in Stimmung“, sagte sie ziemlich laut. Das ganze Glashaus sah herüber; auch der Generaldirektor, der stumm im Hintergrund die Elfenbeinzigarette zwischen den Zähnen hielt, spitzte die Ohren. Es gab zuweilen kritische Augenblicke, in denen die Diva nicht spielen wollte — und jeder lauerte, wie Dareen diesmal bestehen würde.

Der Regisseur stützte den Ellenbogen auf den Flügel, über sein hageres Gesicht flog ein träumender Glanz. Alle sahen es, er schien andächtig der Musik zuzuhören. Seine Lippen bewegten sich kaum: „Wenn Sie in einer Minute noch nicht in ‚Stimmung’ sind, Lydia — dann blase ich die ganze Aufnahme ab.“

Es war schon einmal nötig gewesen, dass er diese Drohung wahr machte, und Keriël hatte seiner Schwester dafür eine Riesensumme vom Honorar abgestrichen, aber Dareen hatte die andere Hälfte der verpulverten Unkosten tragen müssen. Sie wusste also, dass er ohne jedes Zögern ausführte, was er sagte — — und spielte mit unbewegtem Gesicht weiter. Dareen hörte ihr wie selbstvergessen zu. Sie spielt wirklich schön, dachte er voller Erwartung.

Etwas wie ein Ausklang ertönte, Lydia liess ihre Hände sinken und erhob sich. Ihre Augen glänzten fiebrisch, lagen hingegeben in den seinen — und ihrer beider Blicke verfingen sich und tauchten für eines Herzschlags Frist unergründlich ineinander.

Das ganze Atelier staunte, denn niemand hatte Dareens Worte hören können. „Wie hat er das bloss mal wieder gemacht?!“ flüsterte Keriël dem grinsenden Tamaroff ins Ohr. Da kam Dareen, er führte seine Spielerin am Arm — in seinen Mienen lag auch nicht der Schatten eines Triumphes.

Es war so heiss, dass vier Friseure vor der Aufnahme herumlaufen mussten, um den Darstellern die gelben, schmutzigen Schweisstropfen von den geschminkten Gesichtern zu tupfen. Mit ihren Handtüchern fingen sie bei den Hauptdarstellern an und endigten bei den kleinsten Komparsen. Isabel sah es und krümmte angewidert die Lippen: da war es in ihrem Kleberaum denn doch appetitlicher ...

Als die Aufnahme vorüber war, liessen sich die „Kanonen“ aufseufzend in umherstehende Sessel fallen. Aus der Kantine wurde Eissorbet für die Solisten und Eiskaffee für die Komparsen herumgereicht. Dareen sah Isabel und nickte ihr freundlich zu: nach ihrer Arbeit brauchte er sich nicht zu erkundigen, seine Kleberin war stets zur Minute fertig, so dass er ihr jede Freiheit lassen konnte.

Beiseite stand immer noch, zwecklos und ungeduldig wartend, die Grellblonde. Als Kilian Koll ermattet vorbeikam, hielt sie ihn energisch am Arm fest: „Sagen Sie mal, Koll: wann kommt denn eigentlich meine Aufnahme?“ Sie bemerkte wohl, dass Dareen einen Augenblick unwillig hinübersah, aber Koll blätterte in seinen Papieren: „Bedaure, Fräulein van Zuiden — die Szenen sind umgestellt worden, Sie kommen erst am Nachmittag dran“, und er wollte weiter — aber die Dame fragte ihn nach tausend Kleinigkeiten und liess ihre Augen so verführerisch plänkeln, dass der Hilfsregisseur ihr nicht ungern zuzuhören schien.

Isabel wollte ihren Zettel abgeben und wieder an ihre Arbeit zurück. „Bitte zu entschuldigen, Herr Koll, ich habe Ihnen — —“ Aber weiter kam sie nicht, denn die Schauspielerin schrie sie wütend an: „Was fällt Ihnen ein, Sie unverschämte Person, jetzt spreche ich mit Koll!“

Derartiges glitt von Isabel ab. „Bedaure,“ sagte sie kühl und hob die Brauen, „ich habe dienstlich mit Herrn Koll zu reden!“

„Scheren Sie sich in Ihren Kleberaum, Sie!“ fauchte die Filmspielerin mit wutzischenden Blicken. Auf diesen Ton hatte Isabel nichts zu erwidern — solche Gemeinheit gibt es nur beim Film, dachte sie schutzlos. Aber Dareen kam ihr zu Hilfe.

„Ruhe!“ schrie er zornig und sprang aus seinem Sessel. „Fräulein van Zuiden — was haben Sie meine Kleberin derartig anzuschnauzen?“ Isabel neigte kurz das Köpfchen und ging in ihr Klebezimmer.

Ihre Hände zitterten, sie fühlte sich angespien. Heino hatte recht, der soziale Sturz ward zur Schande, denn: das Herz blieb hochmütig und wollte sich nicht in die untergeordnete Stellung fügen.

Sie weinte vor Zorn. Was hatte diese widerliche, geschminkte Person eigentlich zu spielen? Die war doch in den bisherigen Szenen nicht vorgekommen. Im Darstellerverzeichnis stand der protzige und hoffentlich waschechte Adelsname neben der Rolle einer englischen Lady ... Nun musste sie unter Tränen lächeln: Mein lieber Dareen, da haben Sie aber sehr daneben gegriffen! Eine englische Lady benimmt sich reichlich anders — das glaube ich bestimmt zu wissen ... Übrigens war man Dareen einigen Dank schuldig. Ja, Dareen war ritterlich — aber die anderen — —

Das war die Filmwelt, wie sie sich vor ihren Augen zeigle: ein lächerliches Gemisch von Leidenschaft und Schminke, von Inbrunst und Hysterie, von wilder Arbeitslust und anmassender Faulheit. Da war nichts zu entwirren, und der Scheltende irrte so sehr wie der Lobende. Dies Parfüm roch wunderlich bittersüss, man lechzte danach und ekelte sich davor, in einem Atemzuge.

Während der Mittagspause schwärmten die geschminkten Komparsen vor Isabels Fenstern. Die Kleberin legte ihre Arbeit zur Seite, spannte die grosse Rolle ins Kinoskop und sah sich durch das Vergrösserungsglas an, was sie bisher geschnitten hatte. Währenddessen verzehrte sie ihr bescheidenes Margarinebrot.

Plötzlich trat Dareen ein, auf seinem Gesicht zuckte die Erregung. Er ging wortlos zum Fenster, schloss es ab, wandte sich dann zu Isabel um und musterte sie prüfend vom Kopf bis zu Füssen. Ihr Herz begann zu klopfen: was wollte er denn? — und eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht.

„Herr Dareen —?“

Aber da er immer noch nichts erwiderte, drückte sie wieder auf den Knopf ihres Apparates und beugte sich interessiert über die Bilder. Wenn Dareen etwas wünschte, dann konnte er ja wohl seinen Mund auftun.

Endlich fuhr sich der Regisseur mit der Hand über die grauen Schläfen. „Sie wurden von einer Schauspielerin belästigt. Die Dame sollte eine englische Aristokratin spielen — das kam mir vorhin schon ziemlich unmöglich vor, denn, Fräulein Gynthenburg: vorm Objektiv gibt’s keine Lüge. — Sie lächeln? Wer sind Sie eigentlich?“

„Was wünschen Sie, Herr Dareen?“

„Nun — diese Similidiva steht jetzt ungeschminkt im Atelier und weigert sich, ihre Kokottenhaare umfrisieren zu lassen. Sagt, der Bubenkopf sei jetzt modern. ‚Ich mache nichts Modernes’, habe ich ihr geantwortet, ausserdem sei das kein Bubenkopf, sondern eine Wuschelfrisur. ‚Mia May trägt sie auch!’ sagt sie. Kurz und gut: ich habe bis drei gezählt und ihr die Rolle sofort abgenommen. Danach liess ich bei verschiedenen Filmspielerinnen telephonisch anrufen, konnte aber in der Eile keinen Ersatz auftreiben. Unter den Komparsen ist nichts Passendes zu finden, wir sind ja nicht in Amerika. Jetzt meint Tamaroff, Sie könnten so etwas darstellen — und ich muss sagen, die Sache scheint mir nicht unmöglich.“

Kam die grosse Stunde? Als Spielerin nicht, weniger denn je! „Leider durchaus unmöglich, Herr Dareen.“

„Wieso, bitte?“ Aus den hellen Augen des Regisseurs kam ein bohrender Strahl, aber Isabel hielt ihn aus. „Ich bin als Kleberin angestellt“, sagte sie mit lächelnder Ruhe. Dareen schob in einer ärgerlichen Bewegung die geordneten Filmstreifen beiseite und lehnte sich an den Klebetisch. Jetzt muss ich meine Szenen nachher alle wieder zusammensuchen, ging es Isabel unmutig durch den Kopf.

„Also liebes Fräulein: Sie eignen sich für diese Rolle — und ich muss mich binnen zehn Minuten für einen Ersatz entscheiden, sonst fliegt mir der ganze Aufnahmetag in den Schornstein. Sie erhalten das Honorar, das dem sogenannten Fräulein van Zuiden zugestanden hätte —“

Eine flüchtige Bewegung des Mädchens unterbrach ihn. „Darum handelt es sich nicht.“

Der Regisseur sah ihr forschend unter die Stirn: „Um so besser, meine Gnädigste. Übrigens: Sie scheinen nicht als Klebedame geboren zu sein.“ Ihr Herz schlug einen heftigen Stoss: „Sind Sie als Erster Regisseur auf die Welt gekommen, Herr Dareen?“

Dareens Hand spielte achtlos mit den zerstreuten Filmstreifen und warf sie vollends durcheinander. Gewiss nicht — da waren Kämpfe gewesen, Leidenschaften ... und Konzessionen. „Fräulein Gynthenburg — ich beginne mehr und mehr, vor Tamaroffs Blick Respekt zu bekommen. Sie haben also drei Spieltage — die Rolle hat nur Innenaufnahmen.“

Wollte er so über sie verfügen? In einer letzten Abwehr, die unter seinem Blick unsicher wurde, stiess sie unmutig und doch gefesselt hervor: „Und wenn ich nicht will —?“

Er nahm ihre Hand und suchte mit abwesenden Augen in den schlanken, gepflegten Fingern, als ob sie ihm etwas verraten sollten. „Wissen Sie das noch nicht: bei uns muss man wollen, und will man müssen.“ Das hatte sie vorhin auch gedacht, es verwirrte sie — aber sie wollte sich diese Worte merken. „Später können Sie dann wieder in Ihren Kleberaum zurück, solange Sie Lust haben.“

Kein Dank, keine Liebenswürdigkeit. Seine karge Art missfiel ihr und machte sie zugleich seltsam stolz. „Ah — Herr Dareen“, lachte sie, es klang bitter und wild. „Warum soll eine Klebedame nicht auch mal die Lebedame spielen!“

Frau Kiesering fiel am Nachmittag in Ohnmacht. Die Hitze wurde unerträglich, das ganze Atelier schien ein riesenhafter Brutkasten zu sein. Selbst die alten Filmhasen, wie Koll, Tamaroff und der Komiker Paulsen, liefen mit geschwollenen, unter der Schminke blassen Gesichtern herum und räsonnierten, bis der Regisseur die drei Herren beiseite nahm und sich das energisch verbat. Die Komparsen murrten offen.

Dareen verständigte sich telephonisch mit der Direktion und konnte jedem der Teilnehmer, der eine Tagesgage hatte, mit Ausnahme der Solisten, eine Zulage in Höhe des halben Honorars ankündigen. Darauf besserte sich die Stimmung im Atelier wieder etwas. Dann wurde einem jungen Beleuchter schlecht, der abermals herbeigerufene Atelierarzt stellte aber fest, dass der Mann bloss zuviel Eiskaffee getrunken hatte. Dareen liess Frau Kiesering rücksichtslos um Wiedererscheinen bitten, sie hatte in der nächsten Szene zu spielen.

Seine Arbeitskraft schien unerschöpflich. Alle andern schlichen mürrisch, mit gedunsenen Köpfen umher. Lydia Keriël war so abgespannt und gleichgültig geworden, dass Dareen kaum für die halben Minuten des Spiels ein wenig Lebendigkeit aus ihr herauszwingen konnte. Er allein war schwingend frisch, obwohl er sich seit sechs Uhr früh im Atelier befand und in der Mittagspause die neue Darstellerin in die Geheimnisse ihrer Rolle eingeweiht hatte. Wer war denn das eigentlich? Die Klebedame? Nanu!

Der Chefoperateur stand in einer mühsam verborgenen Erregung bei seinem Apparat. Man lachte über die Klebedame, riss matte Witze über Dareens krause Entdeckerpfade. Der Bucklige pinselte stumm an seinem Objektiv. Isabel — kleine Isabel, dachte er und lauschte einer leisen, wiegenden, wildwehen Melodie, die in ihm klang. Tamaroffs Slawenaugen glühten starr unter der schweissnassen Stirn: gleich wurde eine Szene gedreht, bei der diese Klebekatze zu tun hatte ...

Frau Kiesering schleppte sich wieder herein, noch elender als zuvor. Dareen war zufrieden, so sehr die Frau ihr: dauerte: sie hatte die Gouvernante der ‚jungen’ Lydia zu spielen — in dieser Eigenschaft konnte sie gar nicht gequetscht genug aussehen. Lydia Keriël war derselben Meinung, sie sagte es flüsternd und gleichgültig ihrem Regisseur.

Dann kam Koll mit einer Dame, die niemand kannte. Sie trug ein glattes, schwarzes Atlaskleid, vollkommen schmucklos stieg der junge Hals aus dem runden Ausschnitt. Keine Spange, keine Kette zierte die blossen Arme. Die linke Hand hielt spielend über der Brust einen dunklen Schleier zusammen, das reiche Haar floss in einer langen, leichten Welle zum Nacken. Man stiess sich fragend an — und plötzlich lagen aller Augen auf ihr.

Isabel ging mit der kühlen Ruhe, die ihr Erziehung und Gewohnheit einst gegeben, auf Dareen zu, ohne die hundert Blicke zu beachten. „Etwas sehr raffiniert!“ flüsterte Lydia Keriël vernehmlich und hob das goldgestielte Einglas ans Auge. Wie kam denn diese Klebeperson eigentlich dazu — na ja, die neue Mode stand eben jedem Groschenmädel — mochte früher einmal Gelbstern gewesen sein ...

In Dareens Gesicht zuckte keine Wimper. Drecolls Kleider ... Man musste dem Freiherrn Damenschneider gelegentlich ein Kompliment machen für die fabelhafte, blitzschnelle Lieferung; drei Kleider hatte er im Auto herausgeschickt, und jedes einzelne war ein Gedicht. Und Isabel hatte sich für das schlichteste entschieden.

Die Szene war schon probiert, und auf einen Wink gingen die Darsteller an ihre Plätze am Spieltisch — glücklicherweise war es keine Doppelaufnahme. Isabel blieb zurück. Als alles bereit war, kam Dareen zu ihr, nahm ruhig ihre Hand und hielt sie leicht umfasst.

„Fräulein Gynthenburg,“ flüsterte er, „Sie sind Tamaroffs Schwester. Verstehen Sie: Sie sind Tamaroffs Schwester.“ Sie sah in die grauen, herrischen Augen hinein, lächelte gefangen — und war Tamaroffs Schwester. „Ihr Bruder liebt in sinnloser Leidenschaft die Tochter einer Hochstaplerin. Das Kind muss den Heimlichgeliebten auf Wunsch der Mutter zu immer tollerem Spiel verleiten.“

Dareen zeigte ihr jede Bewegung, liess Isabel kurz wiederholen und trat zurück — es musste auf gut Glück gehen, das Fräulein wurde augenblicklich von sämtlichen Teilnehmern kritisch angestarrt und durfte nicht beirrt werden, schien sich allerdings um diese allgemeine Aufmerksamkeit wenig zu kümmern. „Lampen auf!“ rief Dareen. Das violette Licht sprang grell und blendend über die festliche Szene. Ein Beleuchter lief noch eilig herbei und hantierte an einer zuckenden Lampe. Dareen hob gelassen die Hand. „Achtung —“

Als er das vollkommene Schweigen der eben noch von Lärm durchzitterten Riesenhalle mit einer gewissen Seligkeit empfand, alle Willenskräfte wie eine Bogensehne in seiner Hand bereit, fügte er leiser und ruhig, beruhigend sein „Aufnahme!“ hinzu. Buckels Motor begann zu summen; der Regisseur sprach laut die Meterzahlen ins Spiel — mehr nicht, das Einblasen verschmähte Dareen, oder es musste sich einer schon sehr dumm anstellen.

Im Kreis des violetten Lichts sass Tamaroff neben der ‚jungen’ Lydia. Ein Geldhäufchen lag vor ihm, das wurde zum Bankhalter hinübergezogen. Verspielt. Der Russe lächelte unsicher, schüttelte den Kopf und begann sich zu erheben: „Ich habe jetzt genug verloren.“ Lydia wandte den Kopf zu ihm, ihre Blicke wurden zu einem Netz, das sie um ihn warf und dessen Maschen sie enger, immer enger zog. Da setzte Tamaroff sich wieder zögernd und griff nach der Geldtasche, ohne den gebannten Blick von Lydia Keriël zu lassen.

Sie spielten nicht, sie lebten.

Dareen rief den fünften Meter. Isabel trat von einer Portiere des Hintergrundes an Tamaroff heran. Nichts war natürlicher als dies — denn er war doch ihr Bruder, und er verlor unsinnige Summen. So berührte sie seine Schulter mit den Fingerspitzen: „Spiele nicht mehr!“ Und Tamaroff drehte ihr, seiner Schwester, bei dieser ihn wie ein elektrischer Strahl durchzuckenden Berührung das träumende Gesicht halb zu; seine Lider blinzelten unbewusst, er schob das Geld in den Frack zurück — spürte dann Lydiens Hand in einer drängenden Bewegung auf seinem Arm. Strich mit feinen Fingern über die Frauenhand — und wieder verlor sich der Blick des Russen in den flimmernden Augen der Keriël, dann riss er die Banknoten hervor und warf sie auf den Tisch.

Isabels Gesicht ward undurchdringlich, nur die Hand krampfte den Schleier fester vor der wild pochenden Brust. Das Rad schnurrte lange und stand. Der Bankhalter griff sein Instrument und scharrte das Geld rings herbei, auch Tamaroffs Scheine. Kaum merklich sank der Russe zusammen, und lächelnd, triumphierend hob die Keriël in einer raschen Geste die Hand. Nur Isabel bewegte sich nicht — — das war wider die Abrede, zum Teufel, warum stand sie so steif?!

„Halt!“ rief Dareen. „Bitte, alles stehenbleiben.“ Entgegen seiner sonstigen Technik hatte er die Szene nicht durch die Nahaufnahmen unterbrechen lassen — das wäre für die Kleberin zu schwierig gewesen. Um die Stimmung nicht zu gefährden, verbarg er seinen enttäuschten Zorn.

Das Fräulein sah ja recht hübsch aus, spielte aber ganz starr und fiel neben den graziösen Bewegungen der Keriël vollkommen ab. Er versuchte es mit einer Aufmunterung:

„Ganz gut so, Fräulein Gynthenburg — nur bitte etwas lebhafter, und die Lippen nicht so fest zusammenpressen.“

„Vollkommener Versager“, raunte er dem Buckligen zu, der seinen Apparat heranrollen liess. Aber Michel blinzelte erstaunt; seine Augen glänzten seltsam, als er dem Regisseur ebenso leise erwiderte: „Warten Sie die Bilder ab.“ Der Regisseur zuckte die Achseln; man war eben in Verlegenheit, und wenn man nicht tausend und etliche Mark in den Wind werfen wollte, so musste man nehmen, was man hatte. Das Fräulein spielte ausserdem eine ganz bedeutungslose Nebenrolle, aber es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn man sich irgendeine Komparsin herangeholt hätte, mochte sie aussehen, wie sie wollte.

Mit ihrem wachen Sinn spürte Isabel Dareens Unzufriedenheit. Nun — sie hatte sich nicht zu dieser Rolle gedrängt, so wollte sie ihr Bestes tun und hernach wieder mit einem Aufatmen den Klebepinsel in die Hand nehmen. Sie fühlte sich ernüchtert aus der Entrückung des Spiels. Jetzt roch sie, dass Tamaroff schwitzte, die ganze Luft stank nach Schminke und Puder, ihr selbst verstopfte der Coldcream widerlich die Haut. Eine Lampe platzte mit gellendem Knall, die Komparsen fuhren erschrocken auseinander — und die Stimmung war wieder einmal zum Teufel.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Bucklige mit dem Licht zufrieden war. Er sollte eine Nahaufnahme von Isabel drehen und rückte eigenhändig ungebührlich lange an den Lampen herum. Während der Aufnahme sah Isabel einen Augenblick in die Kamera. Dareen winkte sofort ab und liess wiederholen — das kam davon, wenn man einen neuen Stern entdeckt zu haben glaubte! Doch als Isabel sich entschuldigen wollte, wehrte der Operateur freundlich ab, und Tamaroff sah zu ihr auf: „Ach niechts, kleine Schwäster — kommt öfter vor.“ Sein Blick brannte, und die Keriël rief ihm ein lautes Spottwort zu, so dass das ganze Atelier wieherte. Es ist gut, dass ich kein Talent habe, dachte Isabel.

Sie stand noch dreimal unterm Jupiterlicht. Nach der zweiten Szene, die zwischen ihr, dem Komiker Paulsen und der „alten“ Lydia Keriël spielte schrieb Dareen eine Doppelszene um. Er wagte nicht mehr, diese schwierige Aufnahme mit der Klebedame auszuführen. Nur Michel forderte heftig, dass die Doppelszene in der alten Form gespielt werde — aber Dareen hatte schon gemerkt, dass das Buckelinchen sich in die Gynthenburg entschieden verguckt hatte.

Lydia Keriël musste sich abermals von Kopf bis zu Füssen verwandeln — gottlob, das letztemal. Als sie mit glanzlos müden Augen aus der Garderobe zurückkam — ein völlig anderes und doch geheimnisvoll ähnliches Wesen —, sah sie den Dichter des Manuskripts und die Dramaturgin Frau Öhnfurt bescheiden in einer Ecke stehen und dem Spiel zuschauen. W. I. B. Florian wagte sich erst am linderen Abend zu der Höllenaufnahme, die er ausgetüftelt. „Sie Sadist!“ zischte die Keriël den Unglücklichen an, welcher es vorzog, sogleich zu verschwinden. Poeten bekommen beim Film leicht einen etwas gequetschten Charakter infolge der unvergleichlichen Wertschätzung, die in dieser Branche auf ihrem Beruf lastet.

Auch an Dareens Nerven zerrte der endlose Tag. „Sie haben mir hier gerade noch gefehlt, ich dulde keine Zuschauer, und Dramaturgen am wenigsten!“ rief er der vollbusigen Dame zu, deren helles Blondhaupt daraufhin hoheitsvoll zum Ausgang rauschte. Was erlaubte sich denn dieser Herr?! Ohne sie, die allwissende Dramaturgin, wäre er doch einfach hilflos!

Dareen verlangte starken Kaffee aus der Kantine, das war immer ein schlechtes Zeichen. Längst flog der Abendschein golden über das Glasdach, als die Komparsen entlassen wurden. Lydia Keriëls Bilder waren beendet, die Diva wusch sich todmüde in ihrer Garderobe und fuhr nach Hause, ohne sich von ihrem Regisseur zu verabschieden. Dareen bemerkte es gar nicht; er war nun sechzehn Stunden unablässig bei der Arbeit, blieb meist im Sessel sitzen und liess Koll herumspringen — der war fünfzehn Jahre jünger, und da es nun wieder kühler im Atelier wurde, so begann der junge Hilfsregisseur ordentlich aufzuatmen, nachdem er sich in einer Fünfminutenpause unter die kalte Dusche gestellt hatte.

Es wurde dunkler, und Michel forderte neue Scheinwerfer, weil das Licht nicht mehr ausreichte: Dareen war nicht programmässig fertig geworden ... Koll musste mit ein paar Beleuchtern ins Magazin hinüber, und es dauerte lange, bis er mit seinen Lampen zurückkam. Währenddessen legte sich Dareen in seinem Regiezimmer aufs Sofa.

Im Glashaus zog der Bucklige zwei Sessel in eine Ecke und winkte Isabel zu sich heran. Sie wäre gern in die Garderobe gegangen, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte, aber es tat ihr wohl, dass sich jetzt jemand um sie kümmerte. Alle andern Mitspieler ausser Paulsen waren schon fort — gottlob auch der Russe.

„Sie werden eine Filmspielerin“, sagte der kleine Mann.

„Niemals!“ antwortete Isabel. Michel hielt die Hände zwischen den Knien, und ohne dass er den Blick erhob, kam über seine Lippen: „Nicht wahr, Fräulein Gynthenburg, Sie haben nicht bemerkt, wie ich die Lampen für Sie richtete. Niemand hat es bemerkt, diese Schafsköpfe haben alle keine Augen im Kopf, auch Dareen nicht. Ich habe um Sie her mit Licht gedichtet — —“

Es war lächerlich. „Diese Mühe hätten Sie auf Frau Keriël verwenden sollen, Herr — Herr — —“

„Ich heisse Michel“, sagte der Bucklige; es sollte wie ein Scherz klingen, es klang wie Hohn: Michel — mehr nicht, bloss Michel...

Aber der Unmut zerrte an dem Mädchen: „Und haben Sie denn nicht bemerkt, dass Herr Dareen ganz enttäuscht ist? Ich hätte mich weigern sollen. Was ist das für eine fade, dumme Sache mit dieser hochnäsigen Engländerin —“

„Das liegt Ihnen eben nicht“, meinte der Operateur und rutschte mit dem krummen Körper in seinem Stuhl. „Sie können einfach mehr.“

„Ich kann gar nichts“, sagte Isabel. „Ich kann Gitarre zupfen und französische Lieder singen, das ist alles, darum bin ich noch keine Künstlerin. Sie lachen?“

„Ich lache, Fräulein Gynthenburg. Wer an sich zweifelt, in dem steckt etwas. Die Keriël, die ist keine Künstlerin, trotzdem sie etwas kann und Temperament hat: es geht nicht tief, weil sie in keinem Kampf steht. Sie schillert nur.“ Er zog ein goldenes Etui hervor, verbarg das obszöne Emaillebild des Deckels. „Rauchen Sie eine Zigarette, meine sehr Verehrte, Sie sind erregt.“

Das tat gut. Der Bucklige liess sie schweigen, und als Isabel den Rauch tief durch die Lunge zog, kam wieder eine schüchterne Zuversicht über sie. Dann rollten die Lampen herein, Koll schimpfte und kommandierte, bis das stechende Licht nach Michels Wunsch die breite Marmortreppe überblendete. Als Dareen zur letzten Aufnahme geholt wurde, kam er verdriesslich und abgespannt; der kurze, todähnliche Schlaf hatte ihn nur müder gemacht, und er tobte in einem förmlichen Zornanfall, als der Komiker Paulsen auf das Klingelzeichen nicht erschien. Man fand den Schauspieler schlafend zwischen Sperrholzplatten, Frack und Hemd zerknautscht, so dass Dareen auf die geplante Nahaufnahme verzichten musste — oder es hätte noch eine endlose Bügelei gegeben.

Dareen raffte sich noch einmal auf. „Mein Fräulein — bitte alle Ihre Kräfte!“ sagte er scharf und unfreundlich. „In einer der vorigen Szenen hat sich Ihr Bruder mit einer zweifelhaften Person verlobt. Sie verlassen empört den Schauplatz, Paulsen begleitet Sie. Dann haben Sie auf der Treppe einen kurzen Weinkrampf. — Das ist eine ganz leichte Sache. Bitte, nehmen Sie sich zusammen, Fräulein Gynthenburg.“ Paulsens vor Müdigkeit verquollene Augen fragten stumm: Was hatte denn Dareen, wo blieb seine sonst so vorsichtige Art, die Darsteller zu behandeln? Die Kleine tat doch, was sie konnte — Paulsen fand sogar, dass sie ganz niedlich spielte.

Nur der Bucklige pinselte selig ein Staubkörnchen von der Linse. Isabel — kleine Isabel — sei ganz ruhig, lass du erst meine Bilder auf die weisse Wand kommen ...

Aber Isabel war von Dareen keine schlechte Behandlung gewohnt. Jetzt versagten ihre geschundenen Nerven, mit mühsamer Beherrschung ging sie in die letzte Aufnahme hinein. Drei grelle Scheinwerfer blendeten ihr in die Augen, sie tastete mitten auf der Treppe nach Paulsens Arm, schlug dann — viel zu früh — die Hände vor’s Gesicht und stand in wildem Schluchzen. Der Komiker legte den Arm um sie, wie es seine Rolle befahl. Die weint ja wirklich — dachte er beklommen. „Weitergehen!“ stiess er zwischen den Zähnen vor. Das Mädchen besann sich, strich sich über die Stirn und ging mit schnellen, erregten Schritten voraus. Paulsen folgte ihr stumm.

„Halt!“ sagte Dareen apathisch, als der Bucklige schon die Hand von der Kurbel gelassen hatte. Die Aufnahme war zu kurz und stimmungslos geworden, der Teufel hole die Gynthenburg! Dareens Gesicht war plötzlich grau und alt. „Lampen aus,“ sagte er kaum vernehmbar, „Schluss — —“

In ihrer Garderobe streifte Isabel achtlos und müde das Atlaskleid vom Leib. Man soll niemand zu Sachen zwingen, die er nicht kann und nicht gelernt hat! Sie rieb sich zornig den fetten, ekelhaften Coldcream vom Gesicht, den gelben Puder von den Armen. Das tat wunderbar gut, es verwandelte sie wieder in die kleine, bescheidene Klebedame. Koll klopfte an ihre Tür und brachte ihr dreissig Mark Honorar — und fünfzehn als Zulage. Zwiespältig hielt sie das Geld in den Händen, für sie war das sehr viel. Ein Buch und eine Krawatte für Heino — und er sollte sich nicht länger über ihren alten Hut aufregen müssen. Ja, nun kam wieder der Alltag ...

Als sie das Aufnahmegelände verliess, fuhr Dareens Auto an ihr vorüber durchs erhellte Eingangstor. Anton lenkte; der Regisseur sass zurückgelehnt im offenen Wagen, sein Kinn war auf die Brust gesunken, der Hut in die Stirn gerutscht: er schlief.

Der Sandweg zum Bahnhof führte durch ein dunkles Kiefernwäldchen. Es war Nacht, vom Atelier her glitzerte noch Licht zwischen den Stämmen. Plötzlich stand jemand neben Isabel. Sie spürte einen heissen Atem, der nach Zigaretten roch, und Tamaroffs Augen funkelten dicht über den ihren. „Ich habe diech entdäckt, Schwästerlein!“ flüsterte er zischend und legte den Arm um ihre Schulter. Isabel stiess ihn so heftig vor die Brust, dass er mit einem Aufschrei zurücksprang. Film! dachte sie, bebend vor Zorn, als sie eilig weiterging — ich werde mich nach einem andern Beruf umsehen.

Hinter ihr kamen hastige, trippelnde Kinderschritte. Der Operateur setzte sich stumm an ihre Seite, und sie duldete es; er mochte ihr von weitem gefolgt sein. Der Bucklige trug zwei Kassetten unterm Arm, die er niemand anvertrauen wollte und mit nach Hause nahm. Isabel lag die Frage im Sinn, wie wohl die Bilder geworden wären. Aber sie sagte nichts, und so schwieg auch er.

Tanz ums Licht

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