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Flieger, nicht am Steuer

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Wenn schon von dem kleinen Missgeschick gesprochen werden soll, das sich in der zweiten Flugstunde, meilenhoch über dem gleichmässig wallenden Atlantik ereignete, so war der gemütliche Abend beim Oberst Pasquali die Ursache, weshalb und inwiefern Hutton Price so schmählich seiner Pflicht vergass. Sie trafen sich nämlich wieder einmal in der feenhaften Villa, die die Stadt New York vor elf Jahren dem berühmten Flieger geschenkt. Wer, sie? Ah, es fanden sich zu allen unmöglichen Zeiten Gäste ein, man konnte schwören, dass der Oberst sogar noch eine Stunde vor Morgendämmern aus seinen hoffentlich einsamen Federn kroch, wenn vor dem Gartenzaun gedämpftes Stimmengewirr einen „Non-stop-round“ forderte. Es war nicht zu spät heute, höchstens solide Mitternacht, ein weniges darüber, nicht ein einziger der Teilnehmer hatte eine besondere Aufforderung erhalten. Gott wird wissen, wie sie sich gegenseitig durch den Fernsprecher benachrichtigten: „Hier ist Dieser und Jene, Giles, Feuereissen und der verrückte Bob, auch Miss Violet mit ihrem merkwürdigen Freund, der Oberst hat nämlich Geburtstag, also beeile dich!“

Also beeilte man sich, und da jeder auf diese Weise die Seinigen herbeiholte, so sahen der Gastgeber Pasquali und seine Dienstboten sich vor der schweren, aber durch viele Übung nicht ungewohnten Aufgabe, einen ganzen Haufen lärmender und vergnügter Leute zufriedenzustellen. Das heisst, für Krakeel und Gelächter sorgten seine Gäste, und vor allem, wenn dieser Bob da war, Hutton Price, Verkehrsflieger, zweieinhalb Zentner, so wurde Pasqualis Personal nach Herausgabe angemessener Vorräte schlafen geschickt, während der Dicke unter jubelnder Beihilfe der anwesenden Weiblichkeiten sofort die Zubereitung elefantenschwerer Fleischsalate oder zarter Eierspeisen in Angriff nahm. So auch heute, wobei er und seine Helferinnen in feierlichem Umzug den übrigen Gästen die Bestandteile kaum zu ahnender Genüsse vorführten. Die in weisse Kochschürzen gekleidete Schar lagerte sich dann nicht selten mitten in einem der Wohnräume, etwa auf dem Teppich in Pasqualis Arbeitszimmer, während Bob vor aller Augen die Herrichtung und Mischung seiner Künste vornahm. Auch verstand er sich auf die Zubereitung jeglicher Art wahrer Teufelsgetränke, von so einfachen Dingen wie Bowle und Kaffee nicht erst zu reden. Kräftig, urgesund, feist und engstirnig, immer aufgezogen, war Hutton Price eine Zierde jedes geselligen Kreises, der die menschlichen Fähigkeiten von den Augenbrauen an aufwärts nicht zu überanstrengen wünschte. Als letzter Sprössling eines kinderreichen Schuhwichsenfabrikanten in Fremon, Nebraska, ergriff er vor einem kleinen Jahrzehnt, damals noch um einen Zentner leichter, den ehrsamer und bürgerlichen Beruf der Fliegerei.

Das unterste Stockwerk der Villa, dazu die Küche, gehörte also den anderthalb Dutzend Gästen. Er selbst, der Oberst, Chef der amerikanischen Verkehrsfliegerei, fünfunddreissigjährig, ging in seiner immer gleichmässig heiteren Art zwischen seinen Freunden hin und her, sonderbar unbeteiligt wie stets, und freute sich, dass sie da waren, ein höchst wahllos gemischtes Publikum. Sie liebten ihn, das ist alles. Seine Fliegerkameraden liebten ihn, die ihn vor einem Dutzend Jahren auf den Schultern zum Kapitol getragen hatten, eingekeilt in eine brüllende, rasende, begeisterte Menschenmenge, Pasquali schlief jammervoll dabei und musste mit Kampferspritzen geweckt werden, damit er sich vom Präsidenten einigermassen manierlich die Hand schütteln lassen konnte: damals, nach dem ersten Non-stop-Flug eines Menschen rund um den Erdkreis. Dieselben liebten ihn, mit denen er vor rund zehn Jahren die furchtbare Luftschlacht über dem Pazifik gekämpft. Endlich liebten ihn die kleinen Tänzerinnen, die jetzt nach Schluss der Opern und Revuen in Mietwagen zu ihm herausgefahren kamen, vier oder fünf Zuckerpüppchen: „Ist etwas los bei dir, Oberst? Na also!“

Er war der letzte Abenteurer auf dem kreisenden Erdball, und darum liebten sie ihn.

Der geneigte Leser hat schon — möchte ich mich unterbrechen — mit scharfem Blick erkannt, dass die hier zur Rede stehende Geschichte sich vorzugsweise unter Fliegern abspielt. Wenn also nach Ihrer Meinung in den jetzt mit Macht anhebenden Ereignissen etwas zu hingebend viel von Flugzeugen, Blitzern und Panzerschwebern die Rede ist, so mögen Sie sich erinnern, dass zurückgebliebene Zeiten sich regelmässig über die neusten Fortschritte der Technik aufregen.

Diese gemütlichen Abende also bei Pasquali, dem Korsikaner, der die kleinen Mädchen so leise, so kavalierhaft, so hilfsbereit zu lieben verstand — diese gemütlichen Abende also, weithin berühmt, endeten gewöhnlich mittags am nächsten Tage, man richtete sich von vornherein darauf ein und nahm eine Zahnbürste mit.

Giles war da, ein verflucht fixer Kerl, Reporter der „New York Times“, vor einigen Wochen aus Tibet heimgekehrt, ein annähernd geschlechtsloses Wesen; noch niemand hatte ihn auf einer andern Fährte als hinter Sensationen her gesehen, nebenbei aber war er ein harter Boxer trotz seiner schlenkrigen Hungerfigur, und ausserdem einer der wildesten Lärmmacher. Jetzt hockte er ziemlich artig beim Bridge zusammen mit zwei jungen Kriegsfliegern, die ihre Freundinnen telephonisch herbestellt hatten und vorläufig beschäftigungslos waren, Higgins und Clifford Dacey, zwei guten Jungen. Aber Giles verlor schon die zweite Partie erst an den einen, dann an den andern, mit halbem Auge und Ohr passte er auf, was mehrere Herren sich als neustes Skandälchen von Miss Violet erzählten — wie sie schlechtweg genannt wurde — der ein bisschen zu dämonisch bemalten Filmschauspielerin, die sich in einer halbdunklen Ecke von Monsieur Biard hofieren liess und zuweilen verdächtig ungewohnt ein überaus kostbares Perlenarmband an ihrem linken Handgelenk hin und her bewegte.

Giles schob ärgerlich seine Karten von sich, er spürte wenig Lust, seinen schon etwas abgelagerten Reporterruhm durch kleine Schweinereien aufzufrischen. Zudem, dieser Monsieur Biard, ein unangenehmer Herr, Parfümeriefabrikant von Weltruf, war aus unbegreiflichen Gründen seit zwei Jahren mit einer sanften, zarten Frau in Paris verheiratet, einer früheren Fliegerin, Blanche, allen Anwesenden wohlbekannt, und es gehörte schon eine ziemliche Frechheit dazu, dass er gerade in diesem Kreis die neuste seiner berüchtigten Liebschaften spazierenführte. Kein Mensch begriff, welchem Vorzug dieser noch ziemlich junge, weltmännisch glatte, früh vom Erfolg begünstigte Franzose es verdankte, dass Blanche um seinetwillen alles hingeworfen hatte: sie sank in die Vergessenheit, begnügte sich mit dem Los einer kleinen, vernachlässigten Hausfrau, nachdem sie zwei Erdhälften durch ihre Zierlichkeit und durch die Verwegenheit ihrer Flugkünste bei zahllosen Sportkämpfen entzückt und begeistert hatte. Giles, der Reporter, verschmähte es, der zwinkernden Welt und damit auch der jungen Frau Biard zu erzählen, woher Miss Violet neuerdings ihre Juwelen bezog.

Hutton Price kam vorüber. Biard rief ihn an und zog ihn beiseite: „Sie werden Fräulein Lux in Amsterdam aufsuchen? O lala, keine Bange, ich wünsche weiter nichts — —“

„Es kann sein“, sagte Bob gedehnt, „es ist möglich, es ist immerhin nicht unwahrscheinlich. Was soll’s denn?“

„Monsieur, unter uns: Sie werden dort vermutlich Madame treffen, Blanche, sie hat die Absicht, Fräulein Lux auf einer kleinen Seereise zu begleiten. Sie verstehen?“ Die schwarzen flinken Augen wiesen auf Miss Violet.

„Na, vollkommen. Mit andern Worten, ich soll Madame Biard die Grüsse zärtlicher Sehnsucht überbringen. Kann geschehen.“ Und er ging mit unfreundlichem Abschied weg.

Giles, der jedes Wort verstanden hatte, schob seine Karten von sich, schlug dem jungen Higgins die dritte Partie ab und schlenderte, Hände in den Hosentaschen, in unerlaubt schlechter Haltung zum Rauchsalon hinüber, wo einige ungesellige Leute hinter Zeitungen und Zigarrenqualm ihr Einsamkeitsbedürfnis betonten. Feuereissen sass da, der Deutsche, Kapitän der Ozean Airways Ltd., Pasqualis Mitpilot aus dem Pazifik, ein hervorragender Flieger, aber mürrisch und ohne einen Funken von Humor, einer von den mindestens zwei Jahrhunderte Zuspätgekommenen, die sich auf der bis in das Winkelchen geordneten, verteilten, ausgenutzten und berechneten Erdoberfläche mit spürbarem Missbehagen bewegten. Giles brachte Verständnis auf für diese Art von Menschen; Giles selbst gehörte zu jenen, die alles mit scharfen Randlinien sehen, mit viel Freude an jeglichem Lebendigen, daraus machte er geradezu seinen Beruf. Der Flieger Feuereissen, Zigarre im Mund, zerrte ungeduldig an seiner Uhr, wahrscheinlich war er nur darum hier, um seinen Mitpiloten Hutton Price, eben jenen dicken Bob, Spassmacher, Meisterkoch, Ladieskillera), aus dem Kreis der immer zahlreichen Freundinnen loszueisen, denn die beiden Flieger führten um halb drei Uhr nachts den Schweber A 3606 nach Europa. Feuereissen und Price herrschten in gewissem Sinne, doch weiss Gott nicht uneingeschränkt, über dies wahre Fabeltier von Flugboot, das fast dreihundert Menschen durch das stürmisch wogende, trotz aller Fortschritte immer noch nicht mit den Eigenschaften einer Sprungfedermatratze ausgepolsterte Luftmeer dahintrug. Dies Ungeheuer übertraf an Spannweite die grössten Ozeanriesen, die man lächerlicherweise immer noch Dampfer schimpfte, obwohl auch sie seit längster Zeit mit drahtlosem Starkstrom betätigt wurden, wie heutzutage jede lausige Dschunke.

Feuereissen kam mit der Uhr in der Hand aus seinem Schmollwinkel hervor, ziemlich gross, sehr gepflegt. „Gut, dass ich da bin“, meinte er überheblich, „Bob vergisst jede Zeit, wenn er mit seinem Harem Parade kocht.“

„Du hast dich nicht gut unterhalten —?“

„Doch, ausgezeichnet! Ich habe mir mit geringer Phantasie ausgemalt, was alles aus dieser schönen Erde hätte werden können, wenn der letzte Ichthyosaurus rechtzeitig den ersten Menschen aufgefressen hätte.“

Sie fanden Hutton Price, unbelastet von den Problemen der enggewordenen Erde, in der grossen Eingangshalle vor, er hockte auf den Knien wie ein Türke, sechs kichernde Damen um ihn, er selbst stopfte einer Wette zufolge mit seidenem Faden den an der Ferse zerrissenen Strumpf eines Mädchens, auf der blanken Haut, prima, erst kreuz, dann quer, ohne zu stechen, ein hübscher Stopfpilz! „Tjä hahi, ihr Mädchen“, begleitete er sich, „fliegen können wir heute vollautomatisch, selbst das Buschweib im — hupp! — im Kaffernkraal heizt den trauten Herd mit drahtlosem Starkstrom — aber zur Liebe gehört immer noch die gleiche — hupp — Intelligenz wie am ersten Schöpfungstage. So ist es. Nehmt Abschied von mir, Kinderchen, ich habe Grosses vor, meine Schulden schreien nach einem Deckhengst, vielmehr nach einer Deckstute, hahi, und ausserdem bin ich bis ins Mark meiner Knochen verliebt.“

Die Damen lachten, dass ihnen das Wasser aus den Augen kugelte. Solche Andeutungen machte er schon den ganzen Abend, kein Mensch glaubte ihm, Hutton Price wäre in unverliebtem Zustand eine unnatürliche Figur gewesen. Niemand konnte ihm etwas nachsagen, er löste seine Wechsel an jedem Quartalsersten in untadeliger Weise ein, indem er alte Schulden mit neuen „deckte“. Unglücklicherweise schwärmte er, zweieinhalb Zentner Lebendgewicht, für die Schlanken und Feinen, nicht erfolglos, aber seine Grazien wühlten nicht im Golde. „Da kommt Feuereissen“, sagte er und deutete mit der Nadel hinüber, „fleischgewordener Einspruch gegen die Überzivilisation, ein armer verhinderter Raubritter. Und da kommt der kleine Spürhund Giles, Haut und Knochen, brrr! Mein Lieber, wenn du auf der Fährte der nächsten Sensation hängst, dann begib dich stehend freihändig mit uns Helden der Lüfte nach Amsterdam. Es tut sich was, es ist etwas in Vorbereitung, dass deine Tinte vor Aufregung eintrocknet. Ich habe sie geküsst, ich, mit diesen vollen Männerlippen — nicht deine Tinte, natürlich, ich habe nämlich — hupp! — bis an den Hals genug von den vollautomatischen Luftdroschken — —“

Das Missgeschick also, da nun davon gesprochen werden muss, ereignete sich schon in der zweiten Flugstunde des A 3606, der mit zweihundertfünfzig zahlenden Gästen am dämmernden Himmel gen Osten raste, meilenhoch über dem Meer. Abgesehen von einem steifen Nordwest herrschten keinerlei ungünstige Vorbedingungen.

Feuereissen, Kommandant und für das Ganze verantwortlich, verliess nach dem von beiden Fliegern gemeinsam vorgenommenen Start die Führerzelle und machte seinen vorschriftsmässigen Rundgang durch das Innere des riesenhaften Schwebers. Der Neger Jim, Faktotum, zu all und jeder Verrichtung brauchbar und zudem persönlicher Diener der Flieger, überbrachte ihm die Liste der Fluggäste. Zu seinem Vergnügen fand Feuereissen einen wohlbekannten Namen, den nämlich des ehrwürdigen Reverenden Mylong, der sich seit Jahren sehr oft in Amsterdam aufhielt, als väterlicher Berater und Freund einer jungen Dame, welche sich einen solchen Luxus leisten konnte. Diese junge Dame ihrerseits stammte aus Fremon, Nebraska, und war eine Schulfreundin des dicken Bob.

Der Reverend war ein menschenfreundlicher und aufgeklärter Vertreter der Christian Sciences und ohne Zaudern bereit, diesem irdischen Jammertal gewisse Verzierungen zu gönnen.

Feuereissen spürte den ehrenwerten Mann auf und traf ihn in dem behaglichen, nach vorn stark gewölbten Frühstücksraum, dessen Boden ganz aus Glas war, durch welches das Meer farbig heraufglitzerte.

„Bleiben Sie in Amsterdam, Reverend?“

„Ich habe die Freude, Kommandant Feuereissen, in den nächsten Wochen Fräulein Loieb) Lux während einer Nordlandreise an Bord ihrer Jacht zu begleiten, immer wohin das unruhige Blut sie treibt. Im Winter wird es vermutlich ans Mittelmeer gehen, sofern sich keine neue Sensation einfindet.“

„Sagen Sie“, rieb Feuereissen sein Kinn, „ist Ihnen etwas davon bekannt, dass Fräulein Lux sich verheiraten will?“

„Was Sie sagen!“ Der Reverend meckerte vergnügt. „Wer ist denn diesmal der Glückliche? Zu verloben pflegt mein Schützling sich ja nicht ganz selten. Aber bisher wurde mir stets Gelegenheit gegeben, mich vorher zu dem Kasus zu äussern.“ Er steckte sich mit den dicken, zufriedenen Fingern eine Zigarre an. „Fräulein Lux ist reich, sehr reich; seit dem bedauerlich frühen Tode ihrer Eltern befindet sie sich im Besitz von zwei Dritteln der Anteile an der Seeversicherung Lux, es ist also kein besonderes Wunder —“

„Ja“, sagte Feuereissen nachdenklich, „da sind wir auch versichert.“ Wir, das hiess: der A 3606 — das hiess ferner: die sämtlichen vierhundert Schweber der OAW-Ltd., das hiess zugleich: Leben und Gesundheit der Fluggäste und der Besatzung. Und da die Luftversicherung nicht etwa das einzige Tätigkeitsgebiet der „Seeversicherung Lux Maatschappij“ Amsterdam, Leidscheplein, bedeutete, so liess sich zuverlässig annehmen, dass Fräulein Loie Lux über eine recht auskömmliche Rente verfügte. Der Flieger äusserte die Vermutung, dies Geschäft sei nahezu gefundenes Geld, denn seit der vor drei Jahren allgemein eingeführten Kreisel- und automatischen Steuerung galt ein Kinderwagen als Mordinstrument im Vergleich zu den Schwebern der OAW. Dann kam er auf Loie Lux’ Heiratspläne zurück und deutete auf Hutton Price hin.

Der Reverend überlegte. „Hm, hm. Was Sie sagen! Diese Beziehungen bestehen ungetrübt seit der frühesten Kindheit. Unser junger Freund unterscheidet sich allerdings von Loies übrigen Verehrern durch seine rauhe und ehrliche Art. Sie wissen, Kommandant, ich vertrete seit dem bedauerlich frühen Tode ihrer Eltern, meiner heissbeweinten Freunde noch aus Fremon, so etwas wie Vaterstelle bei der Verwaisten. Aber Bob? Nicht übel, durchaus nicht, er ist auch aus Fremon.“

Leider wusste Feuereissen auch nichts Näheres, man war auf Vermutungen angewiesen und darauf, aus den immer vergnügteren Andeutungen Bobs Schlüsse zu ziehen, dass er sich ziemlich sicher fühlte. Und da man durch Beruf und Kameradschaft mit Hutton Price wie ein Zwilling lebte, so hätte man es merken müssen, wenn ein unbekannter Stern am Himmel aufgegangen wäre, zumal der Dicke alles ausplauderte.

In dieser Minute geschah es also, dass Hutton Price, der in der Führerzelle als alleiniger Pilot den Dienst versah, nach einem stundenlangen, zähen Kampf gegen die Bleischwere seiner Augenlider bombenfest einschlief.

Der gemütliche Abend beim Oberst Pasquali und der völlige Mangel eines gesunden und gewohnten Nachtschlafes taten ihre Wirkung. Bob hatte sich zwar, in weiser Voraussicht, gleich nach dem Start von Jim, dem Nigger, die Zubehörteile eines gewalttätigen Mokka bringen lassen, den er sich selber auf dem Boden der Führerzelle herstellte, aber wie es bei den Dicken so ist, sie stehen unter anderen Lebensgesetzen als die Hageren, und was diesen durch die Gebeine brennt wie ätzendes Gift — in wohlgebauten Fettgeweben versickert es mit der Wirkung eines Schlaftrunkes.

Er also, Bob, von dem hier nun so unvorteilhaft die Rede ist, zog erst seine Hände an sich, dann auch behaglich die stämmigen Beine, und kuschelte sich in den mit rotem Leder schön gepolsterten Fliegersitz — und damit nicht genug: sei es etwa in der Vorsicht, schlafende Gliedmassen seien nicht ganz tauglich zur Führung eines mit zweihundert Meilen Geschwindigkeit sich mitten über dem Ozean fortbewegenden Schwebers — wie heute die grossen Verkehrsflugzeuge genannt werden — jedenfalls bemühte er sich, diese Gliedmassen aus dem immerhin gefährlichen Bereich der Steuerung herauszubringen, indem er nun seine Beine auf den zweiten, also in des abwesenden Feuereissens Sitz hinaufzog. Mit dieser letzten, halbbewussten Willenstätigkeit überliess er den ihm anvertrauten A 3606 seinem Schicksal, eine niemals zu billigende Handlungsweise. Es erschien ihm im leise anhebenden Traum ein Reigen zarter Gestalten, aus dem sich immer mehr die schmale Figur eines bestimmten Geschöpfes herausschälte, eben jener Loie Lux, der zuliebe er heute zum letztenmal als Luftkapitän einen Schweber steuerte — und, wie wir sehen, auch dies nur höchst unvollkommen.

Es war ein Malheur — nein, übertreiben wir nicht — ein kleines Malheurchen. Denn obwohl der pflichtvergessene Hutton Price die beiden Fliegersitze mit einem Liegestuhl verwechselte, nahm das von ihm beschützte Fluggerät nicht in der geringsten Weise daran Anstoss. Gänzlich unbeirrt zog dieser gewaltige Schweber A 3606 seinen haargenauen Kurs auf Amsterdam, wo er um 19 Uhr 07 Minuten 53 Sekunden mitteleuropäischer Zeit auf dem Wasser der Zuidersee niedergehen sollte. Er setzte seinen Weg am glitzernden Himmelsrand so unbekümmert fort, dass nicht einmal Kommandant Feuereissen, der doch wirklich die bessere Hälfte seines Lebens fliegend zugebracht hatte, irgendwelchen Zwang verspürte, den Genuss seines Frühstücks zu unterbrechen. Die reisenden Kaufherren diktierten ihren hübschen Sekretärinnen sorglos weiter, oder wenigstens bezogen sich ihre Sorgen nicht auf die Sicherheit des Verkehrsmittels A 3606, und der treue Neger Jim holte jetzt, nachdem er sich vom Wohlergehen des Vogels Kleopatra gebührend überzeugt, befehlsgemäss die Smokinghose des pflichtvergessenen Fliegers Hutton Price aus dem Schrank, um im Mannschaftsraum ihrer Bügelfalte die beliebte Schärfe zu verleihen.

Derselbe Oberst Pasquali nämlich, dessen gemütlicher Abend sich so unangenehm auswirkte, hatte rechtzeitig und seit Jahren schon die Fortschritte seines Zeitalters auf die neusten Schweber übertragen. Sie bedurften eines Piloten nicht mehr unbedingt, nichts hinderte die elektrischen Fernsteuerungsmaschinen auf Coney Island daran, den A 3606 von der ersten Startsekunde bis zur letzten Sekunde der Landung selbsttätig und vollautomatisch zu steuern, zu peilen und im Gleichgewicht zu erhalten. Die Kreisel in den mehrere hundert Meter klafternden Flügeln drehten sich unermüdlich, die zwölf Elektromotoren taten das gleiche mitsamt ihren draussen schnurrenden Stahlschrauben.

Ja, wie man gleich sehen wird, die kaltherzigen Konstrukteure der OAW rechneten in gewissem Masse mit der Möglichkeit, dass der immerhin noch vorhandene menschliche Flieger im durchbohrenden Gefühl seiner Überflüssigkeit ermatten werde. Diesmal jedenfalls ereignete sich der seltene Zufall, dass eine Kohlenbürste am Motor neun sich eine Kleinigkeit klemmte, so dass die Tourenzahl für einige Sekunden merklich zurückfiel. Im gleichen Augenblick erhielt Hutton Price nach etwa halbstündigem, gesegnetem Schlummer einen ziemlich heftigen elektrischen Schlag durch einen kleinen Stahlbügel, den er zu diesem Zweck am Nacken befestigt hatte, so dass er jach emporfuhr und sich auf die Handsteuerung warf in der Meinung, sein kleiner Schweber segle koppheister in den Atlantik hinab. Dann jedoch überzeugte er sich mit einem Blick auf das von zahllosen farbigen Lämpchen bedeckte Schaltbrett, dass die Geschichte halb so schlimm war. Der dicke Bob gähnte wie ein Hai. „Was is’n los mit Nummer neun?“ klingelte er den Funksteuermann an. Dieser (ein Mann namens Gaugigl, er entstammte jenem wilden Gebirgsland im finstersten Europa und entzückte die Mädchen mit einem langen, blonden Schnurrbart) — dieser also beruhigte den Flieger, indem er in schlechtem Englisch versicherte, der Motor laufe schon wieder auf volle Touren, werde aber in Amsterdam gründlich nachgesehen.

Aber nun hatte Hutton Price einmal den elektrischen Nackenschlag wegbekommen und war vor Schreck äusserst wach. Bis ins Gedärm hinein frass ihm der Grimm, dass dieser A 3606 es nicht für der Mühe wert hielt, die geraume Zeit der Abwesenheit des, immerhin, Piloten durch einen kleinen Absturz zu verzeichnen. Da werden wir dir mal zeigen, wer hier der Herr ist —

Wenn die Schweber der OAW-Ltd. einwandfrei sicher durch die Lüfte rasten, durften die Flieger nach vorheriger Verständigung mit Coney Island die Fernsteuerung ausschalten und eine Weile mit eigenen Händen das gewaltige Flugzeug führen, damit sie nicht vollständig aus der Übung kamen. Hutton Price rief die Zentrale an, die sein Vorhaben genehmigte. Dann zog er einen Kontakt auf der Marmorplatte heraus, die bunten Lämpchen erloschen, er griff inbrünstig in die Handsteuerung, die immerhin noch durch soundso viele mechanische Sicherungen gegen die Einwirkungen des Fliegers geschützt war.

Im Innern des Schwebers bemerkte man zunächst noch gar nichts von dieser nunmehr erfreulichen Tätigkeit des Fliegers Hutton Price. Nach einer Weile aber begann in der Schwimmhalle das Wasser deutlich zu schwanken, etwas später beschwerten sich einige frühe Billardspieler mit heftigen Worten beim Steward, bei dieser Wackelei lasse sich kein vernünftiger Stoss ausführen. Dann schrillten Klingeln aus den Kabinen, Nigger liefen mit Gefässen für Luftkranke durch die Gänge, der jungen Sängerin im rückwärtigen Aussichtsraum blieb ihre Arie in der Kehle stecken, so dass sie sich erblassend ausser Sicht begab.

Gleich darauf erschien Feuereissen mit grimmigem Antlitz in der Führerzelle, er fand seinen Kameraden selbstvergessen mit dem Nordwest kämpfend, Arme und Beine bearbeiteten leicht und meisterhaft die Steuerung, während das trunkene Haupt im aus dem Kragen hervorquellenden Specknacken lag. Feuereissen stiess den Kontakt der Fernsteuerung zurück, sofort begannen die Lampen auf der Marmorplatte wieder zu leuchten: zuerst sehr stark, bis der Schweber unter der Macht der eingeschalteten Kreisel von neuem in nahezu vollkommene Ruhelage kam.

Die Maschinen konnten es besser als der beste Flieger, und wer in diesen riesenhaften, unerhört kostbaren Schwebern Dienst tat, der war siebenmal gesiebt ...

Bob möge hier bitte nicht den Abenteurer spielen, bat Feuereissen. Der Dicke gähnte, er sei tatsächlich eingeschlafen, mindestens zwei Stunden, und ob Feuereissen ihn nicht bald ablösen wolle.

Es war also nur ein sehr kleines Malheurchen. „Du fliegst ja erst seit anderthalb Stunden, Bob.“

Ach! Ob es wenigstens hübsche Mädchen an Bord gäbe?

Auch dies. Und ein sehr guter Bekannter!

Vor den Türen wichtiger Amtspersonen befindet sich nicht selten die Aufschrift: Zutritt strengstens untersagt! Dies gilt aber stets nur für die Leute ohne Beziehungen, für die sogenannten Untertanen, und kein Kenner wird sich wundern, dass nach einigen Minuten Seine Ehrwürden der Reverend Mylong sein spitzes Bäuchlein in die ziemlich enge Fliegerzelle schob, hochgeehrt, dass man ihn in diesen technischen Tempel eintreten liess, strahlend beglückt über das Wiedersehen mit dem allseits beliebten Bob, aber zugleich ängstlich bemüht, mit seiner Fülle jede Berührung der Instrumente zu vermeiden. Denn von jenem kleinen Kontakt, der die Handsteuerung abschaltete, und wie überhaupt von fliegerischen Dingen hatte der gute Prediger keine blasse Vorstellung. Es ist verbürgt, dass er sich vor dem Antritt des heutigen Fluges bei Jim unter der Hand erkundigte, ob durch ein Hin- und Hergehen in diesem Verkehrsmittel etwa das Gleichgewicht bedrohlich gestört werde. Jim seinerseits taxierte daraufhin, flüchtig grinsend, die durchaus nicht elfenhafte Gestalt des Reverenden: „Nicht wenn Sie, nur wenn Kapitän Price läuft.“

Die beiden Dicken, der Flieger und der geistliche Herr, sassen eine Weile stumm nebeneinander in den Sitzen, vielleicht befürchtete der Reverend, Bob durch Unterhaltung in seiner verantwortungsvollen Tätigkeit zu stören. Die Führung dieses Schwebers war offenbar eine geheimnisvolle Angelegenheit, denn Bob patschte sich auf die dicken Schenkel, dann kreuzte er die Beine übereinander, nahm — Mylong erschrak bis ins Mark! — sogar die Hände von den Knien und bot seine goldene Zigarettendose an, die der Prediger dankend und ängstlich lächelnd mit einem Hinweis auf seine stets wohlgefüllte Zigarrentasche zurückwies. Nach einer Weile wagte Mylong die Frage: „Sage mal, Bob, womit steuerst du eigentlich?“

„Mit dem Sitzfleisch, Ehrwürden.“

„So? Soso. Höchst interessant! Etwa durch Verlegung des Gleichgewichts?“

Bob brüllte los, dass die Wände rasselten.

„Mein Sohn“, meinte der Reverend leicht verschnupft, denn welcher wohlerzogene junge Mensch lacht einen älteren Herrn aus, zumal wenn dieser ihn — und auch eine gewisse Loie Lux — vor etlichen Dutzend Jahren konfirmiert hat? Also: „Mein Sohn, du musst doch hier irgend etwas tun?“

„Nichts, Ehrwürden, vollständig unbeschäftigt. Ich bin einfach da. Das Ding fliegt von alleine.“

Die folgende Viertelstunde einer technisch-sachlichen Aufklärung über den neusten Stand der Fliegerei schenken wir uns.

Dem staunenden Reverenden blieb die Sprache weg. Aber Hutton Price geriet in immer schlechtere Laune bei der Schilderung, wie der technische Fortschritt den Flieger selbst allmählich zu einer lächerlichen Gestalt entwürdigte, und schliesslich fing er regelrecht an zu schimpfen:

„Also ich sitze da und rühre keine Pfote, ich kann Schach spielen oder Kaffee kochen oder lesen, vorhin bin ich für eine Weile eingeschlafen, haben Sie was davon gemerkt, Reverend? Das Biest steigt von selber auf und geht von selber herunter, wenn die Zeit erfüllet ist, entschuldigen Sie — das besorgen die Fernsteuerungsmaschinen auf Coney Island. Wenn ich aber mal höchst persönlich in die Ereignisse eingreife, wie vorhin zum Beispiel, dann wird unseren Damen schlecht. Davon haben Sie doch was gemerkt, wie?“

„Ich dachte, lieber Bob, es habe sich ein Sturm erhoben. Aber es kann doch immerhin ein anderes Luftfahrzeug — wenn ich bedenke, ein Zusammenstoss — welch fürchterliche Möglichkeiten!“

Dafür seien elektrische Warnungszeichen da, die zwölf Meilen vorher in Tätigkeit träten, wurde er beruhigt. „Nur das Sitzfleisch ist beschäftigt, glauben Sie mir. Bei Start und Landung sitzen wir da und passen auf, ob uns auch kein Kamel in den Weg läuft. Diesem Vögelchen ist es gleichgültig, ob ein Flieger in der Zelle sitzt, oder ob er vorschriftswidrig weggeht und seinen Gram in der Bar mit einer Serie von Flips ersäuft. Tjä hahi. Aber: ohne mich! Ich bin Flieger gewesen! Dies Leben hat keinen Sinn mehr.“

„Nun möchte ich allerdings gern eines wissen, Bob: empfindet Herr Feuereissen ebenfalls einen solchen Widerwillen gegen seinen, wie ich bisher glaubte, hehren Beruf, der euch doch dem Himmel so nahe bringt?“

Unzufrieden sei jeder ehrliche Flieger. Aber immerhin sei Feuereissen Kommandant und habe sich auch noch um andere Dinge zu kümmern. Um den Dienst in der Pilotenzelle drückte Feuereissen sich jedenfalls nach Leibeskräften, es sei denn, dass an den Maschinen mal etwas in Unordnung geriete, was so gut wie nie vorkam.

Unter diesen Umständen schien es dem Reverenden nicht länger verwunderlich, dass Bob sich möglicherweise anschickte, bei Loie Lux, der reichsten Erbin dieser irdischen Welt, wie viele andere Jünglinge Schlange zu stehen. „Dein Leben hätte jedoch einen Sinn, Hutton Price“, sagte er milde, „wenn du die Stunden der Musse — oder vielmehr deine Dienststunden benutzen würdest, um dein nicht sehr gottgefälliges Leben einer innigen und läuternden Betrachtung zu unterziehen. Man sagte mir, du seiest ein Liebender.“

Der Dicke schrie: „Feuereissen soll seinen Kohl für sich behalten! Im übrigen, Tatsache. Sie gehen ja auch zu Loie. Dann können Sie uns heute abend gleich gratulieren ...“

Der Vogel Kleopatra sass auf einer hohen Stange über vergoldetem Käfig und tat ebenfalls nichts. Kleopatra war da und erfüllte damit nicht weniger ihre Pflicht. Unerhörte Schicksale fesselten das Glück an ihr buntes Gefieder, während des vergangenen dreiviertel Jahrhunderts hatte sie den Aufstieg der Fliegerei mitgemacht. Sie sprach fliessend sämtliche Fliegerflüche in sämtlichen Sprachen der zivilisierten Menschheit, sie konnte sogar noch das Kullern des Benzinmotors nachahmen, obgleich dieser doch schon seit mehreren Jahrzehnten abgeschafft war. Sie kam aus einer Fliegerhand durch Erbfall in die andere, ihre Vorbesitzer wurden alt oder verunglückten, an Kleopatra aber ging der Zahn der Zeit spurlos vorüber. Um diesen unschätzbaren Vogel wurde Hutton Price heiss beneidet, verschiedene grossangelegte Entführungsversuche waren durch Jims Wachsamkeit im letzten Augenblick vereitelt worden.

„Wir gehen jetzt zu Loie, jaja“, sagte Bob. Kleopatra liess sich gurrend das Köpfchen kraulen und erwiderte schelmisch: „Loieloieloie, jaja, Küsschen, wir gehen jetzt zum Mädchen, tjä hahi.“

Alsdann salbte Hutton Price sein Haupt, nahm ein laues Bad, 27 Grad, wobei er sich zugleich aalglatt rasierte, mit blitzendem Messer und aus purer Weltanschauung, es geschah heute schon zum zweitenmal. Indessen legte Jim in der Kabine ein blütenweisses Hemd, zarte, rosenfarbene Unterhosen und das nötige Zubehör bereit, damit sein Kapitän sich nach äusserster Möglichkeit in den Apoll von Belvedere verwandeln konnte, soweit Gewicht und Gliederbau dies erlaubten.

Der A 3606 kam auch heute wieder, wie jeden zweiten Tag, pünktlich und unbeschädigt vom Himmel herunter. Als er Amsterdam überflog, 18 Uhr 59 Minuten, schalteten sich selbsttätig die Fernsteuerungsmaschinen auf dem Gelände der OAW an den Resten der Zuidersee ein, in ungefüger Wendung trieb der Schweber fast bis an die friesische Küste, kam in den Wind und glitt weich in den Kanal des Ij hinein, dicht beim alten verlandeten Pampusfort.

Schlepper holten ihn ein, dann wurde er mit der Flügelspitze festgemacht, und die Fluggäste beeilten sich, an Land zu kommen.

Der zeer edele Mynheer Pekelharing, würdiger Direktor der OAW, kam in eigener Person rosig und wichtig, die unwahrscheinlich lange schwarze Zigarre im Mund, in den Schweber gewatschelt und nahm die Papiere in Empfang.

Reverend Mylong stieg in das grellrote Fahrzeug, das Loie Lux ihm aus dem Bloemendaal herübergeschickt hatte. Freundlich und mit abgemessener Vertraulichkeit reichte Wiebe, der junge holländische Chauffeur, ein vorzüglicher Diener, die altmodische Handtasche des gelehrten Herrn in den Wagen. Ab mit leisem Schnurren des elektrischen Motors, in langem Bogen um Amsterdam. Auf der spiegelglatten Klinkerstrasse nach Haarlem. Rechts um, ins Bloemendaal. Hier, wo der Park sich ins wilde, meilenweite Gestrüpp des Dünenvorlandes scheinbar ohne jede Absperrung verlor, stand Loies sogenanntes „Häuschen“, ein zierlicher Palast. In Sturmnächten hörte man das Meer brausen. Hinter dem schmiedeeisernen Gitter befand sich ein offener Garten, in der Mitte blühte ein Rosenfeld, vier Brunnen darin, die ihre Wasser kugelförmig ergossen, vier gläserne, sacht klingelnde Wasserglocken.

Es ist nun an der Zeit, von dieser jungen Dame zu reden, die für den weiblichen Teil der modischen Welt etwa das gleiche bedeutete, wie der Prinz von Wales traditionsgemäss für den männlichen. Sie war das selbständigste Mädchen ihres Jahrhunderts, berühmt durch die aussergewöhnlichen Freiheiten, die sie sich leistete. Alljährlich zitterten die Modeschneider in Europa und Amerika zweimal vor dem Tag, an dem Loie im Mai und im November ihre neuen Kleider spazieren trug: ob weiter oder enger Rock, lila, braun oder taubengrau, Taille hoch oder tief — niemand wusste das im voraus, Loie selbst bestimmte es von einem Tag zum andern. Dann erschienen ihre Bilder und Beschreibungen ihrer Kleider in allen Zeitschriften der Welt, Loie Lux machte die Mode, und die grossen Schneider von Paris, Berlin und New York sassen fest mit den neuen Modellen, denn Fräulein Lux war vollkommen unbestechlich. Sie besass eine weisse Jacht „Lux“, die in jedem Winter vor Athen ankerte, auf diesem Schiff unternahm sie monatelange Reisen, Traumfahrten, zu denen sie manchmal an die zwanzig junge Herren und Damen einlud.

Loie kam die Treppe herab, sehr zuvorkommend, immer wie in der Erwartung eines Wunders, und führte den alten Freund in ein kleines blaues Teezimmerchen, nachdem Mylong die Notwendigkeit, sich herzurichten, abgeleugnet hatte. „Wir haben Besuch, Reverend“, sagte sie.

„So? Und wir bekommen Besuch, Loie.“

„Wer denn? Ach so, Bob —“ sie strich sich die gelben Lockenflämmchen aus der Stirn und klingelte, „den sehen wir immer gern. Blanche ist da, Blanche Biard, da kommt Bob zurecht, dieser dicke Clown. Sie ist nämlich weiss vor Sehnsucht, ihr Ekel von Mann reist seit sechs Wochen in Amerika herum und schreibt nur Postkarten.“

Es erschien Emmi Spring, gross und schon beinahe alte Jungfer. Damals in Fremon, stellte der Reverend mit einem ziemlich ungeistlichen Bedauern fest, während er die hagere Hand in seiner biederen Pranke quetschte, war Loies Erzieherin noch ein der äusseren Beachtung recht würdiges Geschöpf, obwohl sie nie schön gewesen. Diese Vorzüge fingen an, sich auf die inneren Eigenschaften zu beschränken. Jetzt brauchte Loie keine Erzieherin mehr, aber Emmi und der Reverend waren so etwas wie ein unsichtbarer Stacheldraht um Loie, in dem schon mancher Blender und Glücksritter hängen geblieben. Loie besass keine sehr glückliche Hand in der Auswahl ihrer Freunde, es drängte sich viele laute Werbung in den Glanz dieses Vermögens; Rekord, Profit und Reklame griffen nach Loie, die Stillen mochten in diesem Chor nicht Mauerblümchen spielen und blieben Loies Kreisen fern. Dazu kamen Frauen der Mode, alles Gegenwartsmenschen, schon streckten Astrologen und Spiritisten ihre Fühler in diesen berühmt mondänen Salon. Und so reihte sich Tag an Tag, jede Stunde eine Beute wichtiger Unwichtigkeiten, also war gar keine Zeit da für irgend etwas anderes.

Bob käme heute abend, die Köchin möge sich also auf drei Personen mehr einrichten. Aber nur Leichtes, was schwer schmeckt, dick genug sei er schon heute. Und wenn Onkel Edward anrufe oder gar erscheine: sie sei nicht daheim.

Emmi Spring lächelte lieb und wusste Bescheid. Onkel Edward Lux, richtiger Onkel und zu einem Drittel Mitinhaber der Seeversicherung, ein Ungeheuer mit einem kahlen Polypenschädel und einer ganz unerschöpflichen Erwerbswut, wurde von allen gehasst, die Loie liebten, und von allen gefürchtet, die sich um Loie drängten. Mit Hilfe einer Rechenmaschine konnte man ohne weiteres prophezeien, dass er irgendwann Alleinbesitzer der Seeversicherung und der dazugehörigen jungen Dame zu werden wünschte, obwohl er die Fünfzig schon überschritten hatte. Loie hasste ihn nicht minder, aber er arbeitete für sie, indem er von jedem verdienten Gulden bilanzmässig sechsundsechzig Cents für Loie buchte, auf dem Papier, also war er ein unentbehrlicher Bestandteil ihres unternehmenden Lebenswandels.

Als sie wieder allein waren, nahm Reverend Mylong ihre Hand und suchte in den ein wenig müden Augen. „Also ins Nordland, meine liebe Loie? Wir sind immer unrastig und insgeheim unglücklich, wir sind nirgends zu Hause, wir haben den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, und jetzt trudeln wir rechts und links um die Erde und suchen einen passenden Ersatz.“

Sie lachte. „So ist es, aber ich bin nicht unglücklich, weder offen noch heimlich. Hat Bob dich herübergeflogen?“

Man konnte es, wie immer, so machen — und anders. Hutton Price war ja nicht auf den Schnabel gefallen, dies bestimmt nicht. Oder vielleicht war er, jeden vierten Tag mit dem A 3606 flugplanmässig in Amsterdam, schon so gut wie einig mit Loie. Aber als Mylong, unter soviel Jugend ein alter Mann, sich vorsichtig heranpürschte, wie und warum und in welcher Weise sie Bob schätzte, da bekam er die arglosesten Antworten zu hören, wie man über ein ruppiges Brüderchen spricht, halb zärtlich, halb belustigt, zumal das Brüderchen zwei Zentner wog, den dauernden Besitz einer wahren Skalpsammlung von Freundinnen als lebenswichtig betrachtete und deshalb bis an den Hals in Schulden steckte. Das wusste sie also alles ...

Woher nahm, da sie so gänzlich ahnungslos war, woher nahm Hutton Price die — Kühnheit? Es ging Mylong zwar beinahe nichts an, aber er versetzte ihr schonend den Stoss, dass Bob sich aus der Reihe unbeteiligter Freunde zu entfernen wünschte.

Erst verstand sie nicht, was der Alte überhaupt wollte. Mylong sah, wie im spitzen Ausschnitt ihres Kleidchens eine Röte heraufstieg, immer weiter, in den schlanken Hals, in die Wangen, schliesslich in die glatte Stirn. O si tacuisses! sagte er zu sich: wenn du doch geschwiegen hättest, alter Esel!

Loie sass da, das Kinn in die Hand gestemmt, und dachte nach, allerneuster Gedanke, dass dieser Bob überhaupt etwas war, was man heiraten konnte. Mylong hinwiederum hockte in seinem Stuhl, blamiert, als ob er selbst einen durchaus verrückten Antrag gemacht habe. Ein Stimmchen redete lebhaft auf dem Flur, dann kam Madame Blanche Biard herein, ungeheuer lebhaft, frisch aus Paris importiert, gar nicht wie eine trauernde Strohwitwe: Erste der zwanzig Gäste an der Nordlandsfahrt, die anderen wurden morgen und übermorgen erwartet. Blanche war den Mittag auf der Insel Macken gewesen, einer von Loies Verehrern hatte sie führen müssen. Loie wusste: jetzt puffte Blanche sich aus, nach einer Viertelstunde war dann alles vorbei, aus, abgeschnurrt, eine kleine schwermütige Schönheit, hoffnungslos in einen einzigen verloren, der sich nicht sehr viel um sie kümmerte. So war Blanche.

Loie ging auf ihr Zimmer, weiss, zärtlich, modisch neu, stand am geöffneten Fenster und suchte, wo sie in ihrem eigenen Leben auch nur eine Spur solch toller Leidenschaft fände. Das war ein vergebliches Bemühen, es kam nicht vor, dazu mangelte es offenbar an den notwendigsten Eigenschaften. Dies Leben war und blieb eine lau gedichtete Komödie, vor der goldenen Kulisse bemühten sich Marionetten um erheuchelte Gefühle, und sie meinten die Kulisse. Von diesen Marionetten aber hatte ihr dicker Bob sich immer unterschieden, grundsätzlich und aus Opposition anderer Meinung als Loie und als jene Marionetten.

Er schien das ziemlich genau zu wissen, eigentlich eine Unverschämtheit, aber er kam tatsächlich in Betracht, er war kein alternder Sprinter mit sechs Weltrekorden, kein Prinz mit abgegoldetem Wappen, keine fusionslüsterne Konkurrenz. Konnte man ihm vielleicht diese geräuschvolle und aufdringliche Lustigkeit abgewöhnen, dieses grässliche „Tjä hahi“ und die knarrenden Doppelsohlen?

Loie hatte einen jämmerlichen Tag. Beim Aufräumen und bei Reisevorbereitungen machte man gern Bilanz: ein Leben ohne jeden Inhalt, nichtsnutzig, pompös wie eine falsche Tausend-Gulden-Note. In drei Tagen Abmarsch zum Nordkap, mit der weissen Jacht in einem Schwarm nahezu fremder Menschen, immer andere, immer anderswohin. Aber der eigene Schatten ging mit auf die Fahrt ... Da stand zu wenig im Mittelpunkt, es stand zuviel herum in diesem Leben. In Wirklichkeit bettelte das Herz nur um ein ganz kleines bisschen ehrlicher Liebe. Und natürlich musste man ihm die kleinen Mädchen abgewöhnen — meinetwegen pfundweise, aber bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und für das Essen ist meine Köchin da, ich will einen Mann haben und keinen Hampelmann ...

Wir fragen uns betroffen, was unter diesen Voraussetzungen von Hutton Price eigentlich übrigbleiben sollte, zumal Loie sich schon jetzt vornahm, ihn unter Diät zu stellen, ihm sozusagen das Fett pfundweise vom Leibe zu stehlen. Aber jedenfalls: gerade weil sie nie an diese Möglichkeit gedacht hatte, war sie überrumpelt. Sie war entzückt, dass es etwas gab, das man hätscheln und erziehen konnte, und einen ärgeren Hieb konnte sie ihrem Onkel Edward nicht verpassen! Loie war in ihren berühmten blitzschnellen Entschlüssen also wieder einmal bereit, blindlings „ja“ zu sagen.

Als Bob mit einer Stunde Verspätung in Bloemendaal erschien, brachte er einen riesengrossen Busch schneeweisser Nelken mit. Er verfügte über eine dermassen geringe Blumenphantasie, dass er ohne Ansehen der Person stets und ausnahmslos weisse Nelken präsentierte. Schon seit geraumer Zeit waren die jungen Mädchen Amsterdams oder New Yorks, sofern sie auf ihren Ruf Wert legten, zu einer schleunigen Beseitigung weisser Nelkensträusse gezwungen, von welchem unglücklichen Verehrer sie solche Spende auch empfangen haben mochten. Dies wusste Bob ganz genau.

Also was ihm fernerhin mit sofortiger Wirkung abzugewöhnen war: das Zuspätkommen — die weissen Nelken ...

Sofort herrschte Leben und Betrieb, Gelächter, ein spitzes Hin- und Herreden. Aber da er nun vorhanden, sehr leibhaftig — wo war die kleine, süsse Erwartung geblieben, die ihn vor einer Stunde noch herbeirief?

„Jawohl, ich habe deinen Mann in New York gesehen, Blanche, gestern beim Oberst, dein Gaston machte den kummervollen und verlassenen Eindruck echter Sehnsucht, wir haben versucht, ihn mit einer — äh, mit einer kleinen Tänzerin aufzutauen, Pasquali hat derlei immer auf Lager, oder sagen wir besser: auf Vorrat, aber Monsieur liess sich nicht trösten, hahi, was sagst du, Monsieur schickt ein Paket zärtlicher Grüsse durch mich Unwürdigen.“

Die junge Frau, bisher still und erloschen, strahlte auf. Na also. Wir sind eine edle Seele! Aber Bob hatte eine ekelhafte Regung dabei.

Loie spürte den falschen Ton hinter der wohlgemeinten Schwindelei. Bob war echt. Aber jetzt, auf Armeslänge von ihr, mit vollen Backen kauend — jetzt wehrte sich in Loie alles gegen ihn und gegen seine faustdicke Lebendigkeit. In den frühen Erinnerungen erschien Hutton Price, Pappi und Mammi hatten sie in der Kinderstube gespielt, er hatte seine Schularbeiten von ihr abgeschrieben, tatsächlich gab sie ihm ihren und seinen ersten Kuss, er war ein notwendiger und nicht wegzudenkender Bestandteil ihres Lebens. Das Dasein mit ihm würde eine garantiert fidele Angelegenheit, aber es hiess auch eine Absage an alles Wilde und betäubend Mächtige.

So kam es, dass Loie sich bis an die Grenze der Unhöflichkeit wehrte, als Hutton Price sie nach Tisch, man war kaum aufgestanden, in ein Nebenzimmer führen wollte. Aber wehr dich mal gegen solche selbstzufriedene Sicherheit, die schlimmstenfalls hier, vor drei Zeugen, einen Antrag von Stapel lässt.

Das Nebenzimmer, in das sie ihm erzürnt und belustigt folgte, war ein ziemlich grosser Musikraum, auch zum Tanzen geeignet, mit Flügel und Grammophon, gelbseidene Tapeten, in allen vier Ecken bronzene Leuchter. Bob musterte, die Hand auf Loies Arm, in seiner beliebten, erflunkerten Sachlichkeit den Ort und erklärte ihn als Schlachtfeld einer zärtlichen Unterredung wenig geeignet. Ja, wenn seine Stimme nur ein wenig gezittert hätte, vor solcher Entscheidung — Loie suchte in seinem Benehmen ein Bangen, die Angst eines Verliebten. Aber er machte schlechte Witze und zog es vor, sich selbst zu fälschen: dies blaue Tee-zimmerchen hier, seidig, kosig, es fände seinen Beifall als stimmungsvoller Hintergrund, ehem, fangen wir an! „Kleopatra würde in diesem Fall — —“

„Ich weiss schon, Bob“, unterbrach Loie ihn, sich an das Marmorgesims des Kamins lehnend, „gibt es eigentlich eine Frau um dich herum, der du noch keine Liebeserklärung gemacht hast?“

Er meinte vergnügt: „Das trifft sich ausgezeichnet. Wir wollen Blanche hereinrufen, mit der stehe ich seit fünf Jahren auf Kuss und Du, aber eine Liebeserklärung, nicht im mindesten, da hast du schon eine rühmliche Ausnahme.“

„Eine Gegenfrage Bob: wenn du schon mit solchen Absichten kommst, hast du dich kasteiet, hast du dich aufgespart, hast du dich zu Tode gesehnt — oder wann hast du das letztemal eine Frau geküsst? Aber ehrlich, bitte!“

„Als ob ich je schwindeln würde, süsse Loie. Im Gegenteil, ich übertreibe meine Untugenden geflissentlich. Das letztemal? Tjä hahi. Gestern war ein gemütlicher Abend bei Pasquali, ich habe dir ja erzählt, wie es da zugeht. Man kann nämlich küssen, Loie, aus allgemeiner Weltbegeisterung, schwach erotisch.“ Seine Lackstiefel glänzten spöttisch, er konnte nichts dafür, er war die fleischgewordene Posse. Ich bekomme sie bestimmt nicht, sagte er sich, ausgeschlossen und nie, ich verplempere mich an der ganzen süssen Bande!

Und während Loie zärtlich seine wider Willen grinsenden Wangen tätschelte, führte sie ihn sanft durch den Teeraum zu den andern zurück, wobei er erklärte, er bäte seinen nicht gemachten Antrag zu retournieren.

Luftpiraten

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