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Der Anschlag

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Das Türschloss war ein Witz. Drei Sekunden brauchte er, um es zu öffnen. Die Wohnung lag im Stadtteil Eilbek, einem ruhigen Viertel, in dem viele Singles wohnten. Es war jetzt genau 22.05 Uhr. Die ideale Zeit für sein Vorhaben. Um diese Zeit begegnete einem kaum jemand im Treppenhaus. In den Wohnungen war noch Leben, die Leute waren noch wach. Fernseher liefen, Musik wurde gehört, hie und da wurde geredet und gelacht. Besser als mitten in der Nacht, wenn es totenstill war. Da fiel jedes Geräusch, vor allem wenn es irgendwie aus dem Rahmen fiel, sofort auf. Gut, er arbeitete nahezu lautlos. Aber meistens zappelten sie ja doch noch irgendwie, strampelten manchmal wie verrückt. Jeder hing eben an seinem kleinen Leben. Da konnte schon mal eine Vase zu Bruch gehen, ein Stuhl umkippen.

Einmal war es einem sogar noch gelungen, sich loszureißen. Im Angesicht des Todes hatte er plötzlich ungeahnte Kräfte entwickelt. Der hatte es dann sogar noch bis zum Fenster geschafft. Mit einem gezielten Messerwurf hatte er ihn stoppen müssen. Er mochte keine Messer. Die waren was für Türken und Araber. Aber da hatte er keine Wahl gehabt. Natürlich hatte er seinen 38er Special dabei, mit Schalldämpfer, wie immer, aber den noch schnell auf die Waffe zu schrauben, dafür war die Zeit einfach zu knapp gewesen.

Am liebsten arbeitete er aus großer Distanz, mit Präzisionsgewehren. Das hatte Niveau, das hatte Stil, das war eine Herausforderung für einen ausgebildeten Scharfschützen wie ihn, das war diskret, sauber und professionell. Musste er direkt am Objekt arbeiten, was ihm weniger lag, bevorzugte er ein Stück Wäscheleine, das zu seiner Grundausstattung gehörte und sich vorzüglich als Würgeinstrument eignete. Oder er nahm seine bloßen Hände, die in der Lage waren, einem Menschen binnen einer Sekunde das Genick zu brechen. Ehrliches, solides Handwerk. Messer aber machten immer eine Riesensauerei.

Die Wohnung lag im zweiten Stock. Auf der Etage gab es noch zwei weitere Wohnungen. Die eine wurde von einem jungen Mann bewohnt, Typ Student, die andere stand derzeit leer. All das hatte er tags zuvor ausgekundschaftet. Gewissenhaft wie immer. Heute hatte er die Frau an ihrem Arbeitsplatz in der Zentralbibliothek aufgesucht. Er hatte sie sofort erkannt. Es schien ihr nicht gut zu gehen. Sie machte einen leidenden Eindruck, rannte nervös von einer Abteilung zur nächsten, bat ihre Kollegen um irgendwas, zog jedes mal erfolglos von dannen. Sie wirkte genervt. Dann wäre das ja sogar eine gute Tat, wenn er sie von ihrem Leid erlösen würde, hatte er boshaft gedacht.

Bei einer fetten Qualle mit einer unmöglichen Frisur hatte sie schließlich offenbar doch Glück gehabt. Er war ihr dann in der U-Bahn bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Ihr Zuhause lag nur wenige hundert Meter von der U-Bahn-Station entfernt. Sie hatte einen kleinen Umweg gemacht und in einem Supermarkt Obst, Brot und Katzenfutter gekauft. Katzenfutter? Von einem Haustier hatte sie ihm nichts gesagt! Griffen Katzen ein, wenn man ihrem Frauchen zu Leibe rückte? Wohl eher nicht. Egal, ein Hund wäre auf jeden Fall schwieriger gewesen.

Wenn die Arbeit erledigt wäre, würde er noch einmal die Schwarze vom Kiez aufsuchen, beschloss er, das hatte er sich dann verdient. Die Wohnung lag am Eilbekkanal, der mit Bäumen und Sträuchern gesäumt war. Ideal für seine Zwecke, dort konnte er sich bis zum Einbruch der Dunkelheit verbergen. Hätte er einfach so stundenlang vor dem Haus herumgelungert, ohne Deckung, ungeschützt, wäre das sicher aufgefallen. Er war jetzt in der Wohnung. Der Fernseher lief. Die Frau war im Wohnzimmer. Vorsichtig schlich er durch den Flur. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, langsam drückte er sie auf und spähte in das Zimmer. Die Frau war nicht zu sehen. Dafür räkelte sich ein blödes, fettes Katzenvieh auf dem Sofa, das sofort hochschnellte, als es ihn erblickte und ihn mit großen Augen anstarrte. Sogleich begann es laut zu fauchen.

„Herr Müller-Lüdenscheidt, was ist denn?“, tönte es aus dem Badezimmer.

Da stand sie auch schon im Flur, nur mit einem Bademantel bekleidet, die Haare nass. Das ungläubige Staunen in ihren weit aufgerissenen Augen machte in der nächsten Sekunde fassungslosem Entsetzen Platz. Diese Sekunde nutzte er. Zwei, drei Schritte und er war bei ihr, versetzte ihr einen Kinnhaken. Sie schlug mit dem Kopf an die Badezimmertür, sackte sofort zusammen. Er kniete sich auf ihren Brustkorb, hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, drückte mit der anderen ihre Kehle zusammen. Sie war nicht bewusstlos, aber benommen, ihre Gegenwehr war schwach. Der Schlag war recht stark gewesen.

Na also, der Fall wäre erledigt, dachte er. Vielleicht zwei, drei Minuten noch, höchstens, dann hätte sie es überstanden. Ihre Schließmuskeln würden sich öffnen und er hatte Feierabend. Was machte das blöde Katzenvieh? Er wandte den Kopf Richtung Wohnzimmer. Das war ein Fehler.

Denn so sah er den Mann nicht, der durch die Wohnungstür schlüpfte und durch den Flur glitt. Seine Bewegungen waren geschmeidig, präzise und blitzschnell. Der Mann wusste genau, was zu tun war, er zögerte keine Sekunde. Der Schlag kam von hinten und völlig unerwartet, auf beide Ohren gleichzeitig. Er verlor sofort jegliches Gleichgewichtsgefühl, fuhr herum.

„Was zum Teufel ...“

Er war schockiert. Er kam nicht dazu, auch nur den kleinsten Gedanken zu Ende zu denken. Er sah den Mann, er kam ihm irgendwie bekannt vor. Der Mann trat ihm ins Gesicht, mit einer unglaublichen Präzision und Härte, traf genau sein Kinn. Er überschlug sich, rollte durch den Flur Richtung Wohnzimmer. Er spuckte Blut und Zähne. Sein Schädel schien zu zerplatzen. Er tastete nach seiner Waffe. Eigentlich nur formhalber. Um das Gesicht zu wahren. Er wusste, dass er keine Chance hatte, nicht gegen ihn. Der Mann war ein Profi. Ein Nahkampfexperte der allerersten Garnitur. Vielleicht, wenn er nicht schon so angeschlagen gewesen wäre. Wenn sie sich gegenübergestanden hätten, Mann gegen Mann, Auge in Auge. Im ehrlichen Zweikampf. Aber auch dann nur vielleicht. So aber … Eigentlich hatte er schon nach dem ersten Schlag genug gehabt. Mit den Handballen auf beide Ohren. Von hinten. Hinterhältig. Gemein. Wo brachten sie den Leuten bloß so fiese Tricks bei? Er tippte auf Mossad. Oder CIA? Möglicherweise auch Delta Force. Aber was machte so einer hier? Wo kam der plötzlich her?

Der nächste Schlag ging direkt auf seine Kehle. Knapp neben die Stelle, die sofort tödlich gewesen wäre. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Frau röchelte, hustete, sagte etwas. Das blöde Katzenvieh fauchte. Der Mann sagte etwas. Er verstand nichts. Dann verlor er das Bewusstsein. Angelika Maiwald stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Und doch: Zu dem Entsetzen gesellte sich etwas, das fast genauso stark war. Ungläubig staunend starrte sie den Mann an, der ihr soeben das Leben gerettet hatte.

„Verdammt, Lenz, wo kommen Sie denn plötzlich her?“, presste sie mühsam hervor und begann zu husten.

„Moment.“

Es gab zunächst Wichtigeres zu tun. Lenz tastete Maiwalds Kopf ab, ihren Hals, ihr Gesicht, stellte fest, dass sie keine ernsthaften äußeren Verletzungen hatte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er besorgt.

„Beschissen."

Lenz ging ins Badezimmer, füllte einen Zahnputzbecher mit Wasser, gab ihn Maiwald. Gierig trank sie. Dann begann sie zu schluchzen. Etwas unsicher und unbeholfen nahm Lenz sie in die Arme, versuchte sie zu trösten.

„Es ist vorbei, der kann Ihnen nichts mehr tun.“

Maiwald heulte los. Lenz ging zum Telefon, alarmierte Rettungsdienst und Polizei. Er durchsuchte den Angreifer, nahm ihm Revolver, Schalldämpfer und Messer ab. Mit einem Stück Wäscheleine, das er in seiner Hosentasche fand, verschnürte er ihn fachgerecht: Füße und Hände band er so zusammen, dass sich der Mann keinen Millimeter bewegen konnte, wenn er wieder zu Bewusstsein kam. Laut Pass handelte es sich um einen gewissen Sergej Dubajew, sechsunddreißig Jahre alt, geboren in Grosny, Tschtschenien, aber deutscher Staatsbürger. Ob der Pass echt war? Es klingelte an der Wohnungstür. Polizei und Rettungsdienst.

„Lenz?“

Angelika Maiwald wollte unbedingt noch etwas loswerden, bevor es in ihrer Wohnung jetzt gleich von fremden Leuten wimmeln würde.

"Ja?“

„Danke.“

„Schon gut. Gern geschehen."

* * *

Holzinger war ein misstrauischer, alter Hund. Kriminalhauptkommissar Georg Holzinger vom Hamburger Landeskriminalamt. Abteilung Staatsschutz. Mit einem Kollegen hatte er Lenz an dessen Arbeitsplatz in der Bibliothek aufgesucht. Die Maiwald war krankgeschrieben. Die Streifenbeamten hatten am Abend zuvor mehr oder weniger bloß Maiwalds und Lenz´ Personalien aufgenommen. Angelika Maiwald war nicht vernehmungsfähig gewesen, Lenz ziemlich wortkarg. Jetzt wollte es Holzinger ganz genau wissen. Lenz kam es so vor, als ob er seine Geschichte nun schon ungefähr zum zehnten Mal erzählte.

Wie ihm am Nachmittag aufgefallen war, dass ein Mann die Kollegin Maiwald beobachtete. Wie er bemerkte, dass der Mann ihr hinterher spionierte. Ihr nach Dienstschluss folgte. Wie er sich dann seinerseits an dessen Fersen heftete. Warum? Keine Ahnung, einem unguten Gefühl folgend, irgendwie.

„Bemerkte der Mann nicht, dass er verfolgt wurde?“

„Offenbar nicht.“

Wie er sah, dass der Mann vor Maiwalds Wohnung Position bezog, dort wartete, stundenlang, bis zum Anbruch der Dunkelheit. Wie er dann in die Wohnung eindrang. Wie er ihm folgte.

„Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“

„Dazu war keine Zeit mehr, ich meine, er war in ihrer Wohnung ...“

„Mit dem Handy wäre das doch ganz schnell gegangen.“

„Ich habe kein Handy.“

Holzinger starrte Lenz ungläubig an.

„Und dann?“

„Was, und dann?“

„Ja, was war dann in der Wohnung?“

„Da habe ich ihn überwältigt.“

„Einfach so?“

„Ja.“

„Hm.“

Holzingers Kollege sagte die ganze Zeit nichts, machte sich aber eifrig Notizen.

„Herr Lenz ...“

Holzinger hatte jetzt den Tonfall eines gutmütigen, geduldigen Onkels, der mit einem verstockten Kind spricht, die Hoffnung aber noch nicht ganz aufgegeben hat.

„Herr Lenz. Nach allem, was wir wissen, handelt es sich bei dem Mann um einen Profikiller. Und zwar um einen aus der allerersten Liga. Einen, der europaweit arbeitet, vielleicht sogar weltweit.“

„Oh! Tatsächlich?“

„Ja, tatsächlich!“

„Meine Güte!“

„Und Sie haben den überwältigt, so mir nichts, dir nichts ...“

„Ja, nun, was soll ich sagen ...“

„Einfach so ...“

„Tja ...“

Holzinger war wirklich ein verflucht misstrauischer, alter Hund. Ein Spürhund.

„Herr Lenz ...“

Holzinger wirkte plötzlich gut gelaunt. Geradezu amüsiert.

„Meine Frage an Sie lautet nun: Wie haben Sie das gemacht? Der Mann war immerhin bewaffnet.“

Lenz wandt sich. Druckste herum. Faselte. Nun ja, er habe halt den Überraschungsmoment ausgenutzt. Schließlich habe der Mann nicht mit ihm gerechnet. Dann habe er einige Schläge und Tritte angewandt, die er mal in einem Film gesehen habe. Und Glück, ja, ein wenig Glück habe er sicher auch gehabt. Vermutlich ziemlich viel Glück sogar.

„Herr Lenz, bitte! Verkaufen Sie uns nicht für dumm!“

Also gut, nun ja, früher, da habe er mal ein wenig Kampfsport betrieben. Aber das sei wirklich schon sehr lange her. Geradezu unglaublich lange.

„Lenz?“

„Ja?“

Holzinger rückte jetzt sehr nahe an Lenz heran. Seine Augen waren nun ungefähr so durchdringend wie Röntgenstrahlen.

„Was haben Sie eigentlich gemacht, bevor Sie Bibliothekar wurden?“

„Ich? Studiert.“

„Aha.“

„Ja, an der Fachhochschule Hamburg, heute heißt sie Hochschule für angewandte Wissenschaften. Ist Voraussetzung, um Diplom-Bibliothekar zu werden.“

„Und davor? Ich meine, bevor Sie studiert haben.“

Lenz fiel auf, dass an der Wand ein Bild schief hing. Seit wann? Das musste er unbedingt in Ordnung bringen.

„Lenz! Davor!“

Der gutmütige Onkel verlor langsam die Geduld. Lenz räusperte sich.

„Nichts Besonderes. Ich war eine Weile bei der Bundeswehr.“

Holzingers Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Wo? Welche Einheit?“

Lenz stand auf und rückte das Bild gerade. Dabei sah er, dass der Rahmen an der Oberseite staubig war. Sauerei! Die Putzfrauen machten hier wohl auch nur das Nötigste.

„Fallschirmjäger?“

Leerten wahrscheinlich gerade mal die Papierkörbe und hielten in der übrigen Zeit lieber ein gemütliches Schwätzchen.

„Kampfschwimmer?“

Qualmten womöglich sogar, obwohl Rauchen in der ganzen Bibliothek streng verboten war. Lenz musste an seinen alten Lateinlehrer denken.

„Fernspäher?“

Raucher sind Schweine hatte der immer gesagt. Und dass die Chinesen das Volk der Zukunft seien, das hatte er auch gesagt. Während der dekadente Westen dem Untergang geweiht sei. Wie früher das Alte Rom. Sittenverfall und bankrotte Staatsfinanzen allerorten. Kluger Mann, der Lateinlehrer. Prophet.

„KSK?“

Lenz sah aus dem Fenster. Er schien plötzlich sehr weit weg. Nach einer Weile nickte er. Kaum merklich. Dann drehte er sich zu Holzinger um.

„Darf ich auch mal eine Frage stellen?“

„Nur zu“, ermutigte ihn Holzinger.

„Warum interessiert sich eigentlich der Staatsschutz für diesen Fall?“ Jetzt war es Holzinger, der auf einmal sehr wortkarg wurde.

* * *

Angelika Maiwald putzte ihre Wohnung. Schrubbte den Fußboden, wischte Staub, brachte Bad und Küche auf Hochglanz. Fremde Leute waren hier gewesen, waren mit ihren Schuhen überall herum getrampelt. Jemand hatte versucht, sie umzubringen. Warum? War es ein Einbrecher? Oder ein Sittlichkeitsverbrecher? Sie hatte keine Ahnung.

Am Abend zuvor hatte der Notarzt nicht viel für sie tun können. Eine Beule am Hinterkopf. Ein blauer Fleck am Kinn. Würgemale und ein Bluterguss am Hals. Ein paar kalte Kompressen. Ein Beruhigungsmittel. Das war alles.

Mit dem Angreifer hatte er wesentlich mehr Arbeit gehabt.

Der Arzt hatte ihr zu einen paar Tagen Krankenhaus geraten. Zu psychologischer Betreuung. Sie hatte abgelehnt. Sie wollte bloß Ruhe. Heute war sie zu Hause geblieben. Morgen war sie auch noch krankgeschrieben. Vielleicht würde sie für den Rest der Woche Urlaub nehmen. Sie wollte telefonieren. Sie wusste nicht, mit wem. Sie brachte ihre Wohnung zum zweiten Mal auf Vordermann. Sie polierte die Möbel und putzte die Fenster. Sie war diese Arbeiten nicht gewohnt. Sie hatte eine Putzfrau.

Herr Müller-Lüdenscheidt beobachtete all dies mit tiefer Sorge. Merkwürde, schockierende Dinge waren geschehen. Erst war ein Mann über sein Frauchen hergefallen. Dann hatte ein anderer Mann diesen Mann verprügelt und so sein Frauchen gerettet. Dann waren viele weitere Männer in die Wohnung gekommen und hatten viel geredet. Und jetzt benahm sich sein Frauchen so, als ob es für den Deutschen Hausfrauenpreis kandidieren würde. Herrn Müller-Lüdenscheidt gefiel das alles nicht. Nein, gar nicht. Er hasste alles, was seinen geregelten Alltag durcheinanderbrachte. Es klingelte an der Wohnungstür. Holzinger und ein jüngerer Kollege.

* * *

Dubajew schwieg. Den ganzen Tag schon. Nichts hatten sie aus ihm herausgebracht, kein einziges Wort. So einen harten Knochen hatten sie noch nicht erlebt. So eiskalt. Durch nichts zu erschüttern. Ob das überhaupt Sinn machte? Ob der überhaupt jemals was sagte? Sie konnten den Mann ja nicht foltern. Selbst das hätte vermutlich nichts gebracht. Ob sie ihn in seine Zelle zurückbringen sollten?

„Ich muss pinkeln.“

Die beiden Vernehmungsbeamten schauten sich überrascht an. Dubajew hatte geredet. Zwar nicht unbedingt das, was sie hören wollten, aber immerhin: Er hatte geredet. Sie werteten das als kleinen Erfolg. Ob er langsam mürbe wurde? Wenn Hauptkommissar Holzinger sie nachher fragen würde, ob er was gesagt habe, könnte sie Ja sagen. Hähä, kleiner Scherz. Die beiden arbeiteten schon sehr lange zusammen und so brauchten sie nicht unbedingt Worte, um sich zu verständigen. Pinkeln, ja, klar. Verständlich. Schließlich saß der Mann schon den ganzen Tag hier. Sie hatten sich schon gewundert. Kein Problem. Pinkeln war sein gutes Recht. Die drei machten sich auf den Weg Richtung Toilette. Es war nicht allzu weit. Dubajews Hände waren auf den Rücken gefesselt. Außerdem trug er Fußfesseln. Das war ungewöhnlich. Normal waren allenfalls Handschellen, aber nicht über dem Rücken, sondern vorne. Dubajew fühlte sich geschmeichelt. Geehrt. Nach der Schmach vom Vortag wusste er diese Geste zu schätzen. Als ihn die Beamten zur Toilette eskortierten, zogen sie sogar ihre Waffen. Mitten im Polizeipräsidium. Das tat seiner verletzten Killerseele gut. Wenn ihn bloß seine Auftraggeber jetzt so sehen könnten! Er hoffte, dass sie ihm die Panne nicht allzu übel nahmen, hoffte, den Fehler wieder gutmachen zu können.

Er beschloss, die beiden Beamten zum Dank am Leben zu lassen.

* * *

„Ein was?“

„Ein Profikiller.“

„Ich dachte, so was gibt’s nur im Film.“

„Leider nicht. Das gibt’s auch im richtigen Leben.“

„Hier bei mir?“

„Sieht ganz danach aus.“

Angelika Maiwald ließ ein gequältes Lachen hören.

„Und warum?

„Wir hatten gehofft, dass Sie uns das sagen können.“

„Keine Ahnung.“

Der Besuch der Kripoleute fiel noch unangenehmer aus, als Angelika Maiwald befürchtet hatte. Vor allem machte er sie vollkommen ratlos. Wer um Himmels Willen sollte einen Profikiller auf sie ansetzten und warum? Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, nicht die geringste Vorstellung. Sie suchte nach einer Erklärung.

„Vielleicht eine Verwechslung.“

„Unwahrscheinlich. Profikiller sind gewissenhaft und zuverlässig. Einem Mann, wie dem, der auf Sie angesetzt war, würde niemals ein solcher Fehler unterlaufen.“

Wieder war es Holzinger, der redete. Sein Kollege saß schweigend daneben.

„Im Stockwerk über mir wohnt eine Pelzhändlerin. Vielleicht militante Tierschützer ...“

Ein letzter, hilfloser Versuch. Holzinger schüttelte mitleidig den Kopf.

„Auf jeden Fall bekommen Sie Polizeischutz.“

„Was?“

„Polizeischutz. Rund um die Uhr. Es stehen bereits zwei uniformierte Beamte vor Ihrer Wohnungstür. Und vor dem Haus steht ein Streifenwagen. Und wenn Sie einverstanden sind, wird sich eine Beamtin bei Ihnen in der Wohnung einquartieren.“

„Auf keinen Fall!“

„Seien Sie bitte vernünftig! Es ist zu Ihrem Besten.“

Angelika Maiwald schüttelte den Kopf. Eine fremde Frau in ihren Wohnung? Keinesfalls!

„Das wäre ja bloß zu ihrer Sicherheit.“

Nein.

Noch einmal redete Holzinger ihr ins Gewissen. Sie solle doch bitte ernsthaft darüber nachdenken, was der Hintergrund des Anschlages sein könnte. Ob sie vielleicht mit jemandem Streit gehabt habe?

Niemals.

Ob sie möglicherweise Schulden habe?

Fehlanzeige.

Ein ehemaliger Liebhaber?

Lächerlich.

Ein verschmähter Verehrer?

Völlig absurd.

Vielleicht habe sie etwas gesehen, irgendeine Beobachtung gemacht, etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt war? Nichts.

Irgendein außergewöhnliches Ereignis in ihrem Leben? Etwas, das aus dem Rahmen fiel und sei es auch nur ein bisschen. Vielleicht etwas, dem sie selber gar keine große Bedeutung beimaß. Das jetzt aber, im Zuge der jüngsten Ereignisse, möglicherweise in einem völlig neuen Licht zu sehen sei. Dann möge sie das doch bitte kundtun. Jeder Hinweis könne wichtig sein. Wirklich jeder. Bitte.

Angelika Maiwald zuckte mit den Schultern. Was sollte im Leben einer Bibliothekarin schon Außergewöhnliches passieren? Einem Leben zwischen Bücherregalen, Katalogisieren und Kundenkartei. Zwischen Leihgebühren und Benutzungsordnung. Noch dazu in der Kinderbuchabteilung.

Obwohl: Da war in der letzten Zeit tatsächlich etwas gewesen … Etwas, womit sie niemals gerechnet hatte. Aber das in Zusammenhang mit dem Mordanschlag zu sehen, schien ihr so absurd, dass sie es lieber für sich behielt.

„Noch Kaffee?“, fragte sie.

* * *

„So geht das aber nicht.“

Dubajew war mit seiner Eskorte in der Toilette angekommen. Jetzt deutete er mit dem Kopf Richtung Hosenschlitz und machte mit seinen auf den Rücken gefesselten Händen eine hilflose Bewegung.

„Also, entweder einer von euch holt ihn raus, oder ...“.

Wieder eine Bewegung mit den Händen. Die beiden Beamten blickten einander an. Wieder verstanden sie sich ohne Worte und entschieden sich für die zweite Möglichkeit. Einer der beiden steckte seine Waffe zurück in das Holster, zückte seinen Schlüssel und löste Dubajews Handfesseln. Sein Kollege nahm derweil mit seiner Waffe Dubajew ins Visier. Wieder fühlte sich Dubajew sehr geschmeichelt. Freundlich und dankbar lächelte er beiden zu. Erleichtert rieb er sich die Handgelenke.

Dann schlug er mit einer blitzschnellen Bewegung dem einen Beamten die Waffe aus der Hand, rammte dem anderen fast gleichzeitig seinen Ellbogen in die Magengrube. Dann war er schon wieder bei dessen Kollegen, schlug ihm mit beiden Handkanten gleichzeitig auf den Hals, anschließend mit der Faust auf den Hinterkopf. Bewusstlos sackte der Polizist zusammen. Er hatte den Boden noch nicht ganz erreicht, da kümmerte sich Dubajew schon wieder um den anderen und versetzte ihn mit einem Handkantenschlag ins Genick in den Tiefschlaf. Mit einem tiefen Seufzer ging er zu Boden.

Die ganze Aktion hatte fünf Sekunden gedauert. Hoffentlich hab´ich nicht zu fest zugeschlagen, dachte Dubajew. Die beiden sind echt in Ordnung. Er nahm den Schlüssel, löste die Fusfesseln. Nahm den Beamten Waffen und Reservemagazine ab. Verstaute die Waffen in seinem Hosenbund, die Magazine in seinen Hosentaschen. Schleifte die reglosen Beamten in eine Kabine. Dann trat er vor die Toilettentür. Ging hinaus auf den Gang. Alles ruhig. Er hatte vielleicht, zwei, drei Minuten Zeit. So lange würde es höchstens dauern, bis Alarm ausgelöst wurde. Höchstens. Bis dahin musste er das Gebäude verlassen haben. Zügig aber ohne Hast machte er sich auf den Weg. Ein junger Beamter kam ihm entgegen, steuerte die Toilette an.

Verflucht! Dubajew beschleunigte seine Schritte. Er erreichte das Treppenhaus, erreichte den Ausgang. Alles blieb ruhig. Noch. Er verließ das Polizeipräsidium. Jetzt hatten sie die beiden bewusstlosen Kollegen bestimmt gefunden. Ein paar Sekunden noch, und keine Mücke würde das Gebäude mehr unkontrolliert verlassen können. Dubajew rannte jetzt, lief über den Parkplatz. Er hatte die Straße erreicht, als ein Streifenwagen mit quietschenden Reifen direkt vor ihm hielt. Dubajew tastete nach den beiden Waffen in seinem Hosenbund – da gab ihm der Polizist am Steuer ein Zeichen. Dubajew verstand. Man konnte sich wirklich auf sie verlassen. Er nahm auf dem Rücksitz Platz, legte sich hin, um von draußen nicht gesehen zu werden. Mit Martinshorn und Blaulicht raste der Wagen davon. Nach etwa einer halben Stunde war das Ziel erreicht.

Eine ruhige Gegend irgendwo am Stadtrand. Dubajew hatte keine Ahnung, wo er war. Der Polizist ließ ihn aussteigen und fuhr gleich wieder davon. Während der ganzen Fahrt hatte er kein Wort gesagt.

Ein schwarzer Kleintransporter wartete auf Dubajew. Er ging auf ihn zu. Vorne saßen zwei, die er kannte. Die Schiebetür des Transporters wurde geöffnet. Da stand einer, den Dubajew nicht kannte. In der Hand hielt er eine Sieg Sauer-Pistole, Kaliber neun Millimeter. Schönes Ding, dachte Dubajew, gute Waffe, zuverlässig. Obwohl er persönlich ja Revolver bevorzugte. Die hatten keine Ladehemmung. Dafür konnte man Pistolen schneller nachladen. Die Vorlieben und Meinungen in Fachkreisen waren, was diese Frage betraf, durchaus unterschiedlich. War wohl eine Frage des Temperamentes. Dubajew musste an seine Mutter denken. Sie hätte gerne gehabt, dass er eine Banklehre machte. Doch das war ihm ein zu unanständiges Gewerbe.

Ferner hätte sie gerne gesehen, wenn er geheiratet und eine Familie gegründet hätte. Wie alle Mütter. Darüber hätte man noch reden können, er war ja noch jung. Dazu hätte sich bestimmt noch eine Gelegenheit ergeben, früher oder später, dachte Dubajew. Daraus würde nun nichts mehr werden. Sein Leben war vorbei. Schade eigentlich. Vielleicht wäre eine Banklehre doch nicht so schlecht gewesen.

Das war der letzte Gedanke, der Dubajews Hirn durchzuckte, bevor es seinen zerplatzenden Schädel verließ und an den hinter ihm stehenden Baum klatschte.

* * *

„Dessert?“

„ Gerne, danke.“

„Bitte, gerne.“

Angelika Maiwald hatte Lenz zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Moritz Lenz, ihren Retter. Den Mann, den sie bisher kaum beachtet hatte. Den sie ganz offensichtlich völlig falsch eingeschätzt und unterschätzt hatte. Von dem sie zwar auch keine schlechte Meinung gehabt hatte. Sie hatte einfach gar keine Meinung über ihn gehabt. Sie hatte ihn kaum wahrgenommen, konnte sich nicht erinnern, jemals über ihn nachgedacht zu haben. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass manche Kolleginnen über ihn tuschelten, sich über ihn lustig machten. Sie hatte sich da immer rausgehalten. Es hatte sie nicht interessiert. Und jetzt plötzlich das: Wieder und wieder hatten sich die Bilder vom Abend des Anschlags in ihrem Kopf abgespielt. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Lenz, dieser blasse, unscheinbare Bibliothekar als Elitekämpfer. Als Held. Der einen gefährlichen und bewaffneten Profikiller mit bloßen Händen innerhalb von Sekunden mal eben so ausschaltete, als ob es das Normalste der Welt sei, ohne dabei auch nur außer Atem zu kommen. Mit eiskalter Präzision. Der ihr dann einen Becher mit Wasser unter die Nase hielt mit den Worten, sie brauche nun keine Angst mehr zu haben. Und sie dann in seine Arme nahm. Unglaublich, dieser Mann. Sie sah ihn jetzt mit ganz anderen Augen.

Noch etwas hatte sie im Laufe den Abends bemerkt, etwas, das sie gleichzeitig beruhigte und irritierte: In Lenz´ Gegenwart fühlte sie sich sicher. Angelika Maiwald kam sich vor wie in einem Film.

Einem Film allerdings, den sie sich selber niemals angesehen hätte.

Sie hatte gekocht. Das machte sie selten, aber wenn, dann ziemlich gut. Sie hatte eine Vorliebe für deftige Hausmannskost und Lenz hatte, seine Vorliebe für Sushi und andere exotische Köstlichkeiten verschweigend, höflich zugestimmt, als sie ihn einlud und gleichzeitig davon in Kenntnis setzte, was sie zu kochen plante: Knusprig gebratene Ente mit Semmelknödeln und Rotkohl. Dazu ein leichter Salat und Rotwein. Lenz, der eigentlich gar keinen Alkohol trank, hatte ein weiteres Mal mit seinen wahren Vorlieben hinter dem Berg gehalten und sein eigentliches Lieblingsgetränk schamhaft verschwiegen: Am liebsten trank er Milch. Aber Ente mit Milch, das hatte er seiner Gastgeberin dann doch nicht zumuten wollen. Inzwischen waren sie beim Dessert angekommen – Mousse au Chocolat. Lenz, der eine Schwäche für Süßigkeiten jedweder Art hatte, war sehr angetan. Auch die Ente mit Knödeln hatte ihm ausgezeichnet geschmeckt, erinnerte sie ihn doch an seine süddeutsche Heimat und an seine Mutter. Wenngleich ihm die ungewohnte Kost jetzt etwas schwer im Magen lag.

Gerne hätte er seine Gastgeberin nach einem Klaren gefragt, wagte es aber nicht. Der ungewohnte Alkohol war ihm ohnehin schon etwas zu Kopf gestiegen. Den ganzen Abend hatten sie Höflichkeiten und Belanglosigkeiten ausgetauscht, hatten sich vorsichtig aneinander herangetastet. Immerhin hatte Lenz erklärt, warum er an besagtem Abend so plötzlich in der Wohnung aufgetaucht war. Wieder staunte Angelika Maiwald. Sie hätte nicht gedacht, dass Lenz ein so scharfer Beobachter war. Aber es lag die ganze Zeit noch etwas in der Luft. Es schwebte im Raum. Jeder wusste vom anderen, dass er ein Geheimnis hatte. Ein Geheimnis haben musste. Hätte sonst ein Profikiller versucht, Angelika Maiwald zu ermorden? Wäre Lenz sonst in der Lage gewesen, diesen auszuschalten? Jeder hätte vom anderen gerne dessen Geheimnis erfahren.

Maiwald machte den Anfang.

„Wo haben Sie das eigentlich gelernt?“

„Was meinen Sie?“

„So zu kämpfen.“

Lenz zögerte. Also gut.

„Bei der Bundeswehr.“

Maiwald lachte.

„Was ist?“

„Nun ja. Mein Verflossener war auch bei der Bundeswehr.“

„Und?“

„Der ist nicht mal in der Lage, einen Kasten Bier vom Getränkemarkt bis zum Parkplatz zu schleppen.“

„Es war eine spezielle Einheit“, sagte Lenz leise.

Maiwald schaute ihn nachdenklich an. „Wohl sehr speziell?“

Lenz nickte.

„Was ist passiert?“

***

Zehn Jahre vorher. Irgendwo in Afrika.

„Los, los, los, schnell, schnell, schnell!“

Die beiden eben gelandeten Helikopter verursachen eine Menge Lärm, Wind und Staub. Die Menschen rennen auf sie zu. Hinter ihnen wird geschossen. Staub im Auge oder eine Kugel im Kopf, das ist die Wahl, die sie haben. Etwa dreißig völlig verängstigte Zivilisten. In ihre Gesichter hat sich Panik gegraben. Zwanzig Soldaten des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr versuchen, sie in Sicherheit zu bringen. Die Zivilisten werden von den Soldaten flankiert und gesichert, während sie auf die Hubschrauber zu rennen. Einige der Zivilisten sind verletzt, sie humpeln. Zwei können gar nicht mehr gehen und werden von Soldaten getragen. „Boger, Reisinger, die linke Flanke!“

Hauptmann Lenz leitet die Operation als befehlshabender Offizier. Er hat soeben zwei Männer verloren, aber keine Zeit zu trauern. Er funktioniert wie eine Maschine, tut, was getan werden muss.

„Schneider, Reith, nach rechts!“

Die Zivilisten sind Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation. Vor vier Wochen wurden sie von Rebellen als Geiseln genommen. Die Rebellen forderten von der Bundesregierung hundert Millionen Dollar Lösegeld. Die weigerte sich jedoch, zu zahlen. Und schickte stattdessen Lenz und seine Männer. Eben haben die Soldaten die Geiseln nach einem heftigen Feuergefecht befreit und dabei viele der Rebellen getötet. Lenz selber sichert mit seinem G36 den rückwärtigen Raum, an seiner Seite Boger und Reisinger, seine besten und erfahrensten Leute. Sie sind in Stellung gegangen, haben ihre Sturmgewehre im Anschlag und feuern. Es sind fast fünfzig Grad Ceslsius. Nun ist es fast geschafft. Die befreiten Geiseln haben die Transporthubschrauber erreicht, klettern hinein. Als alle in den Helikoptern sind, klettern die meisten Soldaten ebenfalls hinein. Einige bleiben noch draußen und sichern und feuern. Feuern. Feuern. Dann springen auch sie in die Helikopter.

Boger, Reisinger und Lenz sind die letzten.

„Jetzt ihr beide, ab mit euch!“

Lenz feuert ein weiteres Magazin in Richtung Rebellen ab. Boger und Reisinger rennen los, erreichen die Helikopter und hechten hinein. Jetzt Lenz. Er spurtet los. Seine Leute geben ihm Feuerschutz, schießen aus allen Rohren. Etwa hundert Meter bis zu den Helis. Die Leichen der beiden gefallenen Kameraden haben sie mitgenommen. Das hat er befohlen. Die sollen in der Heimat ein würdiges Begräbnis bekommen. Mit militärischen Ehren. Der eine war fünfundzwanzig Jahre alt, der andere neunundzwanzig. Ist es Zivilisten zuzumuten, mit zwei Leichen an Bord zu fliegen? Er denkt schon. Die Zivilisten sind Ärzte, Krankenschwestern, Techniker und Ingenieure. Allesamt schon länger in Afrika. Von daher Leichen gewohnt. Dort liegen Tote manchmal tagelang auf der Straße herum, einfach so, und niemand kümmert sich darum. Bei Touristen wäre das vielleicht anders. Die hätten sich womöglich über fehlende Klimaanlagen in den Helis beschwert.

Siebzig Meter.

Es ist das erste Mal, dass er bei einem Einsatz jemanden verloren hat. Einmal, vor zwei Jahren, in irgendeinem anderen gottverdammten Krisengebiet dieser Erde, wurde einer seiner Leute schwer verwundet. Ein Hauptfeldwebel, dreißig Jahre alt, ruhiger besonnener Mann. Schweres Schädel-Hirn-Trauma, beide Beine weg.

Fünfzig Meter.

Aber jetzt zum ersten Mal Tote. Zwei. Scheiße. Aber er wundert sich nicht. Wundert sich kein bisschen. Wundert sich höchstens darüber, dass es erst jetzt passiert ist, nicht schon früher. Seit sie die Bundeswehr zur Weltpolizei umfunktioniert haben, hat man damit ja rechnen müssen.

Dreißig Meter.

Lenz empfindet keine Trauer. Jetzt noch nicht. Die wird später kommen, wenn dafür Zeit ist. Jetzt läuft seine Beschäftigung mit den beiden getöteten Kameraden auf rein professioneller Ebene ab. Hat er einen Fehler gemacht? Hat er seine Sorgfaltspflicht als kommandierender Offizier verletzt? Haben die beiden einen Fehler gemacht? Womöglich nicht genügend auf Eigensicherung geachtet? Lenz denkt, all diese Fragen mit Nein beantworten zu können. Verluste sind bei solchen Einsätzen manchmal einfach unvermeidlich. Klar, eine Untersuchung wird es geben. Wie immer bei solchen Vorfällen. Aber der kann er mit gutem Gewissen entgegensehen. Auftrag ausgeführt, bei geringfügigen eigenen Verlusten, so würde die knappe Meldung an seinen Kommandeur lauten. Geringfügige Verluste. Allein die Formulierung macht ihn schon rasend. Aber so lautet die Militär-Terminologie.

Zwanzig Meter noch.

Hinter Lenz rattert eine Kalaschnikow los, mit ihrem unverwechselbaren, trockenen Sound. Boger und Reisinger feuern sofort zurück. Lenz fliegen die Kugeln jetzt aus zwei Richtungen un die Ohren, von vorne und von hinten, er hört sie regelrecht an seinem Kopf vorbei zischen. Dann explodiert zunächst der eine Hubschrauber, dann der andere. Lenz wird durch die Wucht der Detonation mehrere Meter durch die Luft geschleudert, bleibt aber, von einigen Prellungen und Abschürfungen abgesehen, unverletzt.

All seine Leute sowie sämtliche Zivilisten sterben in den Flammen. * * *

„Die Schreie höre ich noch heute.“

„Mein Gott, Lenz, das ist ja furchtbar.“

„Muss wohl ein Raketenwerfer gewesen sein. Waffen haben die da unten ja genug. Nichts zu essen, aber Raketenwerfer.“

Maiwald tastete nach Lenz´ Hand, ergriff sie.

„Angeblich hat ihn ein Kind abgefeuert. Wir konnten doch nicht auf Kinder schießen, oder?"

Er hatte ihr, bei Mousse au Chocolat und klassischer Musik, die ganze Geschichte erzählt. Er hatte sie zum ersten Mal jemandem erzählt.

„Das konnten wir doch nicht, oder?“

Hatte ihr erzählt, wie er in den Busch geflüchtet war. Wie er sich ganz alleine fast eine Woche durchgeschlagen hatte. Immer die blutrünstigen Suchtrupps der Rebellen auf den Fersen.

„Oder hätten wir das machen sollen? Hätten Sie das gemacht?“

Maiwald schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht.“

Wie er dann in ein gottverlassenes Kaff gekommen und dort tatsächlich auf einem Nonne mit Satellitentelefon getroffen war. Eine Nonne mit Satellitentelefon, wirklich wahr. Wie er dann direkt das Einsatzführungskommando in Deutschland angerufen und seine Position durchgegeben hatte. Wie sie ihn da rausgeholt hatten.

Und wie sie ihm später das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold und die Entlassungsurkunde überreichten, gleichzeitig.

„Die Entlassungsurkunde?“

„Ja, auf eigenen Wunsch.“

Er sei nach der Katastrophe nicht mehr in der Lage und auch nicht willens gewesen, jemals wieder irgendetwas mit Waffen und Gewalt zu tun zu haben. Totales Trauma.

„Kann ich verstehen. Dennoch: Sie haben ja keinen Fehler gemacht. Oder hat man Ihnen einen Vorwurf gemacht?“

„Es gab natürlich eine Untersuchung. Bei der kam heraus, dass ich mich vollkommen vorschriftsmäßig und sogar vorbildlich verhalten hatte. Trotzdem ist es ein sehr merkwürdiges Gefühl, wenn man der einzige Überlebende einer solchen Aktion ist. Noch dazu, wenn man der Verantwortliche war.“

Nach seinem Abschied von der Truppe habe er ein neues Leben begonnen, sei ein ganz anderer Mensch geworden. Und habe sich einen neuen Beruf gesucht.

„Das war aber ein extremer Wandel.“

„Wenn schon, denn schon.“

Flucht? Klar sei das eine Art Flucht, Flucht vor seinem früheren Leben. Ein Versuch, Heilung zu finden.

„Und in meinem neuen Leben fühle ich mich sehr wohl, das können Sie mir glauben.“

Ein Leben zwischen Bonsais, Büchern und Beethoven.

„Vorgestern Abend, das war gewissermaßen ein Ausrutscher.“

„Ein Ausrutscher, der mir das Leben gerettet hat“, stellte Maiwald klar.

„Dass Sie das noch so drauf haben, dass Sie noch so fit sind, nach all den Jahren“, wunderte sie sich.

„Ehrlich gesagt: Das wundert mich auch. Das ist gewissermaßen reflexartig abgelaufen. Wir wurden damals während der Ausbildung dermaßen gedrillt, dass uns das wohl in Fleisch und Blut übergegangen ist.“

Hinterher, als es vorbei war, als der den Attentäter überwältigt hatte, hätten ihm aber ganz schon die Knie geschlottert, gestand er ein. Herr Müller-Lüdenscheidt hörte die ganze Zeit aufmerksam zu.

"Jetzt können Sie mir aber auch Ihr Geheimnis verraten“, fand Lenz.

„Geheimnis? Welches Geheimnis? Ich habe keines.“

„Also, immerhin hat irgendjemand einen Profikiller auf Sie angesetzt, da muss also irgendetwas sein.“

Maiwald zuckte hilflos mit den Achseln.

„Das hat die Polizei auch schon gesagt. Aber mein Leben ist vollkommen langweilig und ereignislos.“

Wie meines, dachte Lenz. Mein zweites.

Maiwald zögerte, schaute Lenz in die Augen. Doch, sie vertraute ihm.

„Na ja, da wäre höchstens diese eine Sache. Aber ich kann mir nicht vorstellen ...“

„Welche Sache?“

„Die Erbschaft. Ich habe kürzlich geerbt. Von einem entfernten Onkel in der früheren DDR. Ich kannte ihn gar nicht. "Was denn? Geld?“

„Schön wär's. Nein, bloß ein paar vergilbte Papiere.“

Lenz wurde hellhörig.

„Papiere? Aus der DDR?“

„Ja. Und ein paar Bücher. Ach, Erbschaft ist eigentlich zu viel gesagt. Ich habe halt den Nachlass übernommen. Der Onkel ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und das Erbschaftsgericht hat mich als einzige lebende Verwandte ausfindig gemacht. Ich hätte das Erbe auch ablehnen können.“

„Und der Nachlass besteht aus Büchern und Papieren?“

„Und aus ein paar alten Möbeln halt. Aber die hab' ich einer karitativen Einrichtung gespendet. Den übrigen Hausrat auch.“

„Alles?“

„Bis auf den Schreibtisch. Der gefiel mir so gut, der sieht so altertümlich aus. Dort steht er übrigens.“

Maiwald deutete in die Ecke. Das klobige, schwarze Ungetüm machte auf Lenz den Eindruck, als habe es nicht nur die DDR, sondern auch schon das Dritte Reich erlebt.

„Bei den Büchern sind übrigens einige Fontane- und Eichendorff-Erstausgaben dabei. Das interessiert Sie vielleicht. Wenn Sie möchten, zeige ich sie Ihnen gerne mal.“

„Oh ja, gerne!“ Lenz war hoch erfreut.

„Das dachte ich mir.“

Maiwald lachte und wollte aufstehen, um die Bücher zu holen.

„Und was sind das für Papiere, von denen Sie sprachen?“

Maiwald setzte sich wieder.

„Das ist bloß ein Karton mit privater Korrespondenz. Briefe, Ansichtskarten. Sogar Stromrechnungen und so was. Absolut belangloses Zeug. Und ziemlich vergilbt, wie gesagt.“

„Ach so.“

Lenz schien enttäuscht. Trotzdem. Irgendetwas hatte sein Unterbewusstsein berührt. War es der Begriff „Papiere“, in Verbindung mit „Korrespondenz“ und „DDR“? Sein militärisch trainierter Instinkt war jedenfalls, nach langen Jahren, sofort erwacht und lief auf Hochtouren.

„Was hat Ihr Onkel eigentlich beruflich gemacht?“

„Nichts Besonderes. Also, ich meine, der war kein Parteibonze oder so was.“

„Sondern?“

„Hausmeister.“

„Und wo?“

„In Wandlitz.“

Die Wandlitz-Papiere

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