Читать книгу Dorfluft - Walter Landin - Страница 7
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Diese Kälte hatte Gerd nicht erwartet. Vor dem Haus pfiff ein eisiger Wind. Er schlug die Kapuze mit dem angenähten Hasenfell hoch und zog den Kopf ein. Seinen Arm zwängte er durch den Tragegriff der Schultasche und vergrub' beide Hände tief in den Seitentaschen der Parka. Die Handschuhe lagen auf dem Küchentisch.
Vor einem Jahr, fast auf den Tag genau, war es auch so kalt gewesen, bei diesem Fußballspiel am Sonntagmorgen. An das Ergebnis erinnerte sich Gerd nicht mehr, nur an diese Kälte. Und an die Manschette an seiner rechten Hand.
Von links eine Flanke, Gerd raus aus dem Kasten, bis an die Strafraumgrenze, den Ball mit einer Faust wegschlagen, der Mittelstürmer der gegnerischen Mannschaft gleichzeitig am Ball. Gerd trifft den Ball, der Stürmer Gerds Hand, der Schmerz im kleinen Finger. Gerd spielt weiter, die verletzte Hand unter die Achsel gepresst. Zum Glück kommt bald der Halbzeitpfiff. Gerd geht zum Trainer, zeigt seinen geschwollenen Finger. Der Trainer winkt ab.
„Spiel weiter, ist kein Auswechselspieler da, sei nicht so wehleidig!“
Gerd beißt die Zähne zusammen, spielt weiter, mit Schmerzen. Es gibt nicht viel zu halten in der zweiten Halbzeit, zum Glück. Am Montagmorgen geht er zum Arzt. Der Hausarzt wohnt in der gleichen Straße wie Gerd, ist in Urlaub. Die Vertretung ein schwarzer Arzt.
„Er soll in Heidelberg studiert haben.“
Im Dorf wurde getuschelt.
„Ein Neger! Eine Zumutung! Was unser Herr Doktor sich dabei gedacht hat!“
Und im Wartezimmer, sonst regelmäßig überfüllt, gibt es plötzlich freie Plätze. Gerd findet den schwarzen Arzt ganz nett. Die Diagnose ist eindeutig, Fraktur des kleinen Fingers der rechten Hand, also Gipsverband. Gerd erzählt vom Fußballspiel am nächsten Sonntag, wichtiges Punktspiel, eigentlich das entscheidende Spiel. Ob da nichts zu machen sei? Beim alten Arzt hätte er sich niemals getraut. Der junge Schwarze lacht nur.
„Geht in Ordnung.“
Am Freitagnachmittag soll Gerd noch mal vorbeikommen.
Die Lampe über der Gärtnerei ging aus, gerade als Gerd kam. Dabei war es immer noch dunkel. Das Schaufenster war hell erleuchtet. Astern in allen Farben, ab und zu eine verwelkte darunter, kein Wunder, Allerheiligen und Allerseelen waren schon lange vorbei. Im Vordergrund ein einzelner Christusdorn, eine kräftige Pflanze mit vielen Ästen, Verzweigungen, unzähligen Blättchen, Stacheln. Früher, zu Hause, hatte Gerd manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, eines dieser kleinen Blättchen abgerissen und fasziniert auf die weiße, milchige Flüssigkeit gestarrt, die an der Wunde austrat.
„Die Pflanze blutet“, hatte seine Mutter gesagt, als sie ihn erwischte.
Die Kälte kroch tiefer, war nicht aufzuhalten, trotz Kapuze, Hasenfell und tief vergrabenen Händen. Die Schultasche war schwer, und bei jedem Wechsel zum anderen Arm konnte sich eine Kältewelle in den Manteltaschen einnisten.
In der Schule war es mit dem Gipsverband natürlich sehr angenehm gewesen. Gerd sitzt im Unterricht, döst vor sich hin, wenn die anderen die schriftlichen Aufgaben erledigen müssen, hat natürlich keine Hausaufgaben auf. Was für eine Zeit! Nur Eisen, der Englischlehrer, stellt sich quer, weiß, dass Gerd auch links schreiben kann, wenn auch langsamer, ungeschickter. Eine Klassenarbeit lässt er ihn unter Protest mitschreiben. Gerd wird in der vorgegebenen Zeit nicht fertig, ist aber sicher, dass Eisen die erschwerten Bedingungen berücksichtigen wird. Denkste! Vier bis fünf gibt er ihm, mit dem Hinweis auf die fehlenden Aufgaben.
Der Englischlehrer. Mit ihm kam Gerd nicht klar, niemand kam mit ihm klar. Und er nicht mit seinen Schülern. Ein kleiner Mann, schlank, immer im dunklen Anzug, immer mit Krawatte, immer mit Stockschirm, ob es regnete oder nicht, immer mit Hut, im Sommer wie im Winter. Ein typischer Engländer, stellten sie fest. Er mochte kaum dreißig sein, sah aber aus wie fünfzig. In Gerds Klasse versuchte er, mangelnde Disziplin mit dem Notenbuch auszugleichen, das er ständig in der Hand hielt, war stets auf der Suche nach nicht gelernten Vokabeln, to fly, flew, flown, to know, knew, known. Einmal hatten sie sämtliche Schultaschen in der Ecke neben der Tür aufgestapelt. Eisen stolpert über eine Tasche.
„Was soll der Unfug? Englischbücher raus, Seite ...“
Weiter kommt er nicht. Alle vierunddreißig Schüler stürzen nach vorne.
„Seid ihr ganz übergeschnappt? Werft doch die Taschen gleich aus dem Fenster!“
Wer als erster dieser Aufforderung gefolgt ist, daran kann sich Gerd nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall fliegen vierunddreißig Schultaschen aus dem zweiten Stock und landen auf dem gepflegten Rasen vor dem Gymnasium. Eisen verlässt fluchtartig das Zimmer, beruft für den nächsten Montag einen außerordentlichen Elternabend ein, lädt auch den Direktor dazu ein. Im neuen Schuljahr bekam Gerds Klasse einen neuen Lehrer, nein, keine Lehrerin, wie sie gehofft hatten. Eisen
hatte die Schule verlassen, den Schuldienst quittiert, war in die Erwachsenenbildung übergewechselt.
Gerd bog in die Hauptstraße ein, schaute nach dem Schulbus, ob der unten an der Ecke noch nicht zu sehen war. Er konnte also gemütlich die letzten zwei-, dreihundert Meter zur Bushaltestelle gehen.
Am Mittwoch vor einem Jahr hatte dann diese Kälte angefangen. Gerd geht freitags zum Arzt, wie ausgemacht. Der fertigt ihm eine kunstvolle Manschette an.
„Ganz ungefährlich ist das ja nicht“, meint er.
Aber Gerd will dabei sein, unbedingt, will spielen am Sonntagmorgen, koste es, was es wolle.
Jede Woche fieberte Gerd dem Sonntagvormittag entgegen, war enttäuscht, wenn seine Mannschaft spielfrei hatte oder gar ein Spiel wegen der schlechten Witterung abgesagt werden musste. Genau davor hat er auch an diesem Sonntag Angst. Der Platz ist knochenhart gefroren, vor den Toren kleine Eisseen. Aber der Schiedsrichter pfeift das Spiel doch an. Bei der Passkontrolle bemerkt er Gerds Manschette, gut versteckt unter einem riesigen Arbeitshandschuh, nicht.
Auf der anderen Straßenseite näherte sich ein Radfahrer. Gerd konnte die Umrisse erkennen. Es war nicht mehr ganz so dunkel wie noch vor wenigen Minuten, als er das Haus verlassen hatte. Schon von weitem winkte ihm der Radfahrer zu.
„Hallo, Gerd, wie geht's? Du kommst doch heute Abend?“
Heute Abend? Gerd wusste im ersten Moment nicht, was gemeint war. Der Radfahrer trat voll in den Rücktritt, die Reifen quietschten, das Rad kam direkt vor Gerd zum Halten. Erwin schlug Gerd auf die Schulter.
„Gell, du kommst doch!“
Als Gerd nicht antwortete, fügte Erwin hinzu: „Na, zum großen Fest in der Festhalle. Gell, du kommst, alle gehen hin.“
Gerd nickte.
„Klar, da schau ich vorbei.“
Erwin schlug ihm nochmals auf die Schulter.
„Ich lad dich auch ein, auf ein Bier oder ein Gläschen Sekt an der Bar oder einen Wodka mit 'ner Kirsche drin, was du willst.“
Gerd drehte sich um, sah, dass der Bus schon in die Hauptstraße eingebogen war, drückte Erwin am Arm.
„Bis heut Abend dann.“
Gerd spurtete los.
Erwin, mit seinem runden Gesicht, den kurzen Haaren, hoch rasiert, die Ohren frei geschoren. So eine Frisur hatte Gerd auf seinem Kommunionbild auch. Erwin trug immer eine dunkelblaue, schmierige Kappe, schwere Feldschuhe, eine Arbeitshose und oft eine grüne Schürze. Erwin arbeitete bei der Gemeinde, Mädchen für alles, wie er stolz sagte. Wenn die Kanalisation verstopft war, wenn es galt, den Rathausvorplatz zu säubern, weil ein festlicher Anlass bevorstand, wenn der Rasen vorm Schulhaus gemäht werden musste, Erwin mit seinem runden Gesicht und seinem breiten Lachen war zur Stelle.
„Mondgesicht, Mondgesicht“, schrien die Dorfkinder hinter Erwin her. Gerd hatte früher auch mitgeschrien.
„Balla, balla, tickt nicht richtig.“
Erwin drehte sich dann immer um und winkte den Kindern zu. Erwin war genauso alt wie Gerds Mutter. Er war mit ihr in die Schule gegangen.
„Der Erwin hat jede Klasse doppelt gemacht, in der vierten Klasse wurde er aus der Schule entlassen“, wusste Gerds Mutter.
„Der ist halt zurückgeblieben, aber ein herzensguter Mensch ist er.“
Vor zwei Jahren war Erwins Mutter gestorben, sein Vater schon Anfang der fünfziger Jahre.
Am Tag nach der Beerdigung seiner Mutter radelt Erwin durchs Dorf, schwankt von einer Seite auf die andere, kippt um, rappelt sich mühsam wieder hoch. Dass Erwin betrunken ist, ist nichts Ungewöhnliches. Das kommt manchmal vor, meistens am Samstagabend. Dass er am Tag nach der Beerdigung betrunken durchs Dorf radelt, ist für die strengen Dorfbewohner Grund genug, hinter den Vorhängen den Kopf zu schütteln. Aber das Schlimmste, das Ungeheuerlichste, das ist Erwins Aufmachung. Auf dem Kopf trägt er den blauen Sommerhut seiner Mutter mit zwei Stoffblumen an einem roten Bändchen und mit einem hauchdünnen hell-blauen Schleier, der normalerweise nach hinten geschlagen wird, den Erwin aber übers Gesicht gezogen hat. An den Füßen seine Feldschuhe, dreckig und lehmverschmiert, dann dicke dunkelbraune Strümpfe, selbst gestrickt. Die Wollstrümpfe endeten kurz über dem Knie. Aber die absolute Krönung das fleischfarbene Korsett seiner Mutter, in das er sich hineingezwängt hat, den Busen dick ausgestopft. So präsentierte er sich den Augen der empörten Dorfbewohner.
„Am Tag nach der Beerdigung!“
„Das ist natürlich schon eine Sauerei“, regte sich auch Gerds Mutter auf, „aber der Erwin hat so an seiner Mutter gehangen, der hat ihren Tod noch nicht verkraftet.“
Andere Dorfbewohner zeigten sich weniger verständnisvoll, zumal Erwins Auftritt keine einmalige Vorstellung blieb. Auch an den kommenden Tagen machte er in seinem abenteuerlichen Aufzug die Runde im Dorf. Konsequenzen wurden gefordert.
Untragbar!
„So einer ist bei der Gemeinde angestellt! In die Klapsmühle gehört der!“
Gerd kam atemlos an der Haltestelle an. Der Fahrer öffnete gerade die Tür. Gerds Hände waren rot angelaufen, er spürte die Kälte nicht mehr.
Erwin wurde nicht in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, auch nicht von der Gemeindeverwaltung entlassen. Gerd wunderte sich, dass keine Maßnahmen gegen Erwin ergriffen wurden.
„Die wissen schon warum“, gab sich Mutter kurz angebunden. Erwin wurde lediglich angewiesen, seinen Jahresurlaub zu nehmen, mitten im März. Die Korsettauftritte wurden seltener, hörten schließlich ganz auf. Erwin wohnte noch einige Zeit im Haus seiner Mutter, dann zog er zu einer alten Frau am Dorfrand, mit der er über ein paar Ecken verwandt war und die sich bereit erklärt hatte, für ihn zu sorgen. Auch diese Entwicklung bot im Dorf genügend Gesprächsstoff.
„Was, zu der Alten im Hexenhaus, die noch nie die Kirche von innen gesehen hat! Das wird nicht gut gehen!“
Es ging gut. Erwin versah seine Arbeit ordnungsgemäß. Jeden Samstag war er betrunken, zog mit seinem Fahrrad von Kneipe zu Kneipe, fiel aber nicht weiter auf, weil er dann noch gutmütiger als ohnehin war.
Zu Gerds Mutter hatte Erwin Vertrauen, er kannte sie seit der ersten Klasse. Sie blieb bei ihm stehen, wenn sie ihn traf, redete einige Worte mit ihm, Belanglosigkeiten, aber Erwin hatte das Gefühl, dass sich da jemand mit ihm abgab. So hatte er Gerd eines Tages angesprochen, unten an der Hauptstraße, morgens auf dem Schulweg. Es musste im Januar oder im Februar gewesen sein. Erwin senkt den Kopf, läuft rot an, fängt an, „Gerd, du“, bricht wieder ab, drückt mit der linken Hand aufgeregt seine rechte, „du musst mir helfen“, bricht wieder ab. Gerd ermuntert ihn, sagt, natürlich wolle er ihm helfen, hat Angst, dass der Bus kommt, denkt, hoffentlich rückt er bald raus. Unter Stottern bringt Erwin heraus, dass er mit einem Kollegen Streit gehabt hat, dass er zu Unrecht beschuldigt worden sei.
„Na, und wo du doch auf dem Gymnasium bist, da hab ich gedacht, der Gerd ist doch gescheit, der kann dir bestimmt was schreiben.“
„Klar, mach ich, kein Problem, komm heute Mittag bei uns vorbei“, ruft Gerd noch und spurtet zum Bus. Am Nachmittag hat Gerd schon alles wieder vergessen, als es klingelt. Erwin steht vor der Tür.
Gerd ist verlegen, wohin mit Erwin, am besten in die Kühe. Erwin setzt sich vorsichtig auf die Stuhlkante. Also, es geht um den Jesus im Ährenfeld.
Als Erwin Gerds fragendes Gesicht sieht, fängt er von neuem an.
„Um den Schreiner Schorsch geht es, also, der hat nämlich behauptet ...“
Gerd ist unkonzentriert, hört nicht genau zu, denkt an seine Hausaufgaben, an das Buch, das er gerade liest. Nach anfänglichem Zögern legt Erwin los, redet wie ein Wasserfall, ohne Pause. Gerd staunt nicht schlecht. Das hat er nicht erwartet. Es geht um verschiedene Figuren, aus Holz geschnitzte Figuren, soviel versteht Gerd, eben um eine Gruppe Figuren, die „Jesus im Ährenfeld" heißt. Die, so versichert Erwin, habe er, niemand anders, nur er, geschnitzt. Gerd erinnert sich, dass die Weihnachtskrippe, die jedes Jahr in der Adventszeit in der Kirche aufgestellt wird, auch von Erwin stammt.
„Nichts im Kopf“, sagt Gerds Vater, „aber begnadete Hände.“
Und dieser Schreiner Schorsch, Gerd kommt, so sehr er sich auch anstrengt, nicht darauf, wer das sein soll, dieser Schreiner Schorsch soll nun behauptet haben, öffentlich, wie sich Erwin erregt, dass diese Figurengruppe nicht von ihm, von Erwin, sondern eben von diesem Schreiner Schorsch stamme.
An dieser Stelle wird Erwin etwas lauter, zieht einen kleinen Zettel, mehrmals gefaltet, aus der Hosentasche, faltet ihn sorgfältig auseinander, streicht ihn
glatt, schiebt ihn Gerd hin. Gerd nimmt den Zettel, es handelt sich um eine Rechnung aus einer Gaststätte, „Jost-Bräu, schmeckt immer vorzüglich, 1.70, 1.10, 3.90, 6.80, Summe: 13.50."
„Auf diesen Zettel schreibst du mir was drauf.“
Gerd nickt, besorgt sich einen Kugelschreiber und wartet.
„Los, warum schreibst du nicht?“
„Was soll ich schreiben?“
„Na ja, ich dachte, du weißt das, wo du doch im Gymnasium bist. Eben, dass die Figuren von mir sind und so.“
Gerd findet keinen Anfang. Nach mehreren zaghaften Anläufen, verworfenen Formulierungen, etlichen Schreibversuchen, wieder durchgestrichen, auf einem anderen Blatt natürlich, ist Erwins Zettel endlich vollgeschrieben.
„Ich, unterzeichneter Erwin Lager, erkläre hiermit die Aussagen des Schreiner Schorsch als unwahr. Die Gruppe „Jesus im Ährenfeld" stammt von mir und nicht vom Schreiner Schorsch. In verlange, dass der Besagte seine Aussagen öffentlich zurücknimmt.
Erwin Lager.“
Gerade als Erwin unterschreibt, geht unten die Tür. Das kann nur Mutter sein.
„Ach, Erwin, du, was machst du denn hier?“
Ihr freundlicher Tonfall, nicht frei von einem gewissen Unterton. Gerd bemerkt erst jetzt Erwins Feldschuhe.
„Ich hab für den Erwin was aufgesetzt. So, Erwin, hier, alles klar?“
„Was hast du denn aufgesetzt?“
„Ach, nichts von Bedeutung.“
„Ja, Gerd, alles klar. Und vielen, vielen Dank. Das vergesse ich dir nie.“
Erwin beeilt sich, verabschiedet sich schnell, knüllt seine Mütze zusammen und drückt sie an die Brust.
Der Busfahrer schloss die Tür. Nach seinem Spurt kam Gerd der Bus überheizt vor.