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4. Verfassungen als Fundamente

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Mit der Beseitigung von Monarchie und Monarchen waren die konstitutionellen Ordnungen zusammengebrochen und die Verfassungen außer Kraft gesetzt worden. So war die Erarbeitung neuer staatlicher Grundlagen vordringliche Aufgabe der ersten demokratischen Parlamente im Reich und in den Ländern. Hier unterschieden sich die Vorgehensweisen im Reich, in Preußen und im Volksstaat nicht: Wahlen, Zusammentritt der Verfassunggebenden Versammlungen, Verabschiedung von knappen Organisationsstatuten als vorläufige Verfassungen, schließlich Ausarbeitung einer endgültigen Verfassung. Lediglich zeitlich klaffte die Entwicklung weit auseinander.

Die Hessen im Darmstädtischen arbeiteten zunächst auf der Basis einer provisorischen Verfassung, dem nur zehn Artikel umfassenden „Gesetz über die vorläufige Verfassung für den Freistaat (Republik) Hessen“ vom 20. Februar 1919. Die Übergangsverfassung formulierte wie auch das für das gesamte Reich geltende „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ vom 10. Februar oder das in Preußen verabschiedete „Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt“ vom 20. März 1919 lediglich Eckwerte.154 Das hessische Gesetz beschränkte sich – unter Verzicht auf Grundrechte – auf Regelungen zur staatlichen Organisation, der Gesetzgebung und der Regierung („Staatsleitung“). Aber schon in Artikel 1 war die künftige Staatsform festgeschrieben: „Der Freistaat (Republik) Hessen ist ein selbständiger Bundesstaat des Deutschen Reiches.“155 Damit war der politische Wandel vom November 1918 verfassungsrechtlich bestätigt. Auf der Basis von Artikel 6 der vorläufigen Verfassung wurde Carl Ulrich am 21. Februar 1919 mit 46 von 57 abgegebenen Stimmen zum ersten Ministerpräsidenten der Republik gewählt. Er berief anschließend in Fortsetzung der bisherigen Koalition sein Kabinett, das (mit ihm) aus vier regelrechten Ministern – erneut den bisherigen Ressortleitern Heinrich Fulda (SPD/Inneres), Konrad Henrich (DDP/Finanzen) und Otto von Brentano (Zentrum/Justiz) sowie den Leitern von vier Landesämtern bestand, die „Stimmrecht in Angelegenheiten ihres Ressorts“ besaßen. Diese waren die Ministerialdirektoren Reinhard Strecker (DDP) für Bildungswesen, Hermann Neumann (SPD) für Ernährung, Georg Raab (SPD) für Arbeit und Wirtschaft und Philipp Uebel (Zentrum) für Landesschulden.156 Nach den Wahlen vom November 1921 verloren die Direktoren der Landesämter den Kabinettsrang; das Landesamt für Arbeit und Wirtschaft wurde zum Ministerium für Wirtschaft mit Raab an der Spitze.157


Der erste demokratische Regierungschef in Hessen und sein Nachfolger: Carl Ulrich (Mitte) und Bernhard Adelung (l.) mit dem Reichsvertreter in Hessen, Eduard David.

Das vorläufige Grundgesetz sollte bis zur Verabschiedung einer Landesverfassung Gültigkeit besitzen, spätestens aber zum 1. Januar 1920 außer Kraft gesetzt werden (Art. 10). Die hessischen Verfassungsschöpfer hatten also Zeit und sie nahmen sich diese auch.158 Wie bei der Verfassungsschöpfung in den meisten Ländern in Deutschland nach dem Krieg wurde diese auch in Hessen von „oben“ initiiert und dirigiert. Ein erster Verfassungsentwurf lag im April vor, entwickelt durch eine von der Regierung am 5. März 1919 eingesetzte Kommission aus Experten der Ministerialbürokratie. Hierzu lieferte der Gießener Staatsrechtler Hans Gmelin159 ein Gutachten, das in Teilen Berücksichtigung fand. Die Hessen orientierten sich an den bereits vorliegenden Verfassungen der südlichen Nachbarländer Baden und Württemberg, so dass „wenigstens die süddeutschen Staaten in den Grundlagen ihrer Existenz möglichste Übereinstimmung“ zeigen würden.160 Erst am 9. Oktober 1919, kurz vor dem Ende der parlamentarischen Sommerpause, ging der Entwurf der Landesregierung an die Volkskammer. Die Regierung wollte erst die Verabschiedung der Reichsverfassung abwarten – dies geschah durch die Nationalversammlung in Weimar am 31. Juli –, um dann zu entscheiden, was man im Hessischen mit Blick auf die bereits erfolgten Regelungen in der Reichsverfassung nicht mehr aufzunehmen brauchte. So verzichteten die Hessen auf eine Verankerung dort bereits niedergelegter Grundätze. Es fand daher nichts Berücksichtigung, was Grundrechte und Grundpflichten betraf. Dies alles stand ja in der die Ländergrundgesetze überwölbenden Reichsverfassung. Der Verfassungsausschuss der Volkskammer nahm nur noch wenige Änderungen am Regierungsentwurf vor.161 So fiel die vorgesehene, sich an badische und württembergische Regelungen orientierende Bestimmung, nur „Staatsangehörige“ Hessens seien bei Wahlen stimmberechtigt. Denn die Reichsverfassung legte in Artikel 17 fest, dass die Landtage von allen reichsdeutschen Männern und Frauen des Gebiets zu wählen waren, nicht nur von den Landeskindern.

Der vom Ausschuss entwickelte Entwurf wurde dann in drei Tagen, beginnend am 4. Dezember, im Plenum beraten.162 Die wenigen Diskussionen drehten sich um das Alter für das aktive und passive Wahlrecht, das auf 20 bzw. 25 Jahre festgelegt wurde. Die Rechtsparteien brachten zudem aus überzogener Furcht vor einer Parteienherrschaft über das Parlament nochmals eine berufsständisch zusammengesetzte Zweite Kammer ins Spiel, wofür sich die Mehrheit aber nicht begeistern konnte. Das Prinzip der absoluten Volkssouveränität sollte nicht über das Hintertürchen einer Zweiten Kammer beschnitten werden. Es blieb beim Einkammersystem. Allein das demokratisch gewählte Organ – der Landtag – sollte bestimmen.

Obwohl die Mehrzahl der Artikel ohne Kontroversen das Plenum passierte, verweigerten DVP und Hessische Volkspartei (die lokale Variante der DNVP) letztlich die Zustimmung, und dies aus einem wahrlich nichtigen Grund. In beinahe trotziger Haltung quittierten beide das Abschmettern ihrer Forderung, nicht erst in zwei Jahren, also im November 1921 – wie Artikel 64 bestimmte –, sondern schon im Frühjahr des kommenden Jahres einen neuen Landtag wählen zu lassen, mit Ablehnung der Gesamtverfassung. Man begründete das Verlangen nach baldigen Neuwahlen damit, dass das erste Landesvotum im Januar 1919 „unter der Einwirkung der Revolution“ stattgefunden hatte.163 Unausgesprochen verbarg sich dahinter die Erwartung, dass man als bürgerlich-konservative Parteien nun besser abschneiden würde, nachdem sie sich seinerzeit noch in der Findungsphase befunden hatten und das eigene, dem Untergang der Monarchie lange nachtrauernde Klientel über den Umbruch politisch konsterniert und apathisch gewesen war.


Veröffentlichung der Verfassung des Volksstaates vom 12. Dezember 1919 im Hessischen Regierungsblatt.

Da sie mit einem früheren Wahltermin im Jahre 1920 nicht durchdrang, votierte die rechte Seite des Hauses mit Nein.164 Ungeachtet der Ablehnung durch die Rechtsliberalen und Konservativen trat die am 9. Dezember verabschiedete Landesverfassung drei Tage später in Kraft. „Die Hessische Verfassung vom 12. Dezember 1919“, unterschrieben vom „Gesamtministerium“, also von Ulrich und den Ministern Henrich, Fulda und Brentano165, gliederte sich in neun Abschnitte, wobei der letzte lediglich Übergangsbestimmungen umfasste. Artikel 1 erklärte den „Volksstaat“ Hessen als selbständiges Land zu einem „Bestandteil des Deutschen Reichs“. Man bekannte sich zum Prinzip der Volkssouveränität und schuf eine voll ausgeprägte parlamentarische Demokratie ohne blockierende Nebeninstitutionen. Der 70-köpfige Landtag war alle drei Jahre zu wählen.

Die hessische Verfassung kannte kein ausgeprägtes Notverordnungsrecht wie die Reichsverfassung (Art. 48 WRV) oder die preußische Verfassung (Art. 55), durch das die Exekutive direkte gesetzesvertretende Verordnungen erlassen konnte. Die volkstaatliche Verfassung erlaubte es der Regierung jedoch, solange der Landtag nicht versammelt war, Anordnungen zu erlassen, wenn aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse ein „sofortiges Eingreifen“ notwendig erschien (Art. 9). Diese Maßnahmen durften aber nicht der Verfassung zuwiderlaufen und waren dem Landtag nach dem Zusammentritt umgehend zur Bestätigung vorzulegen – und bei dessen Ablehnung unverzüglich aufzuheben. Nach der Landesverfassung gab es in Hessen kein Verfassungsorgan, das, wie im Reich der Reichspräsident (Art. 25 WRV), das Recht besaß, das Parlament einfach und eigenmächtig aufzulösen. Hierfür schufen die Hessen hohe Hürden: Dazu war eine Volksabstimmung notwendig (Art. 24).

Der allgemeinen Stimmung der Zeit entsprechend, räumte die hessische Verfassung der Bevölkerung über Wahlen weitere direkte Mitbestimmungsrechte ein, setzte für den Erfolg eines Referendums jedoch nicht so hohe Hürden wie die Reichsverfassung. Auch die erst im November 1920 beschlossene Verfassung Preußens eröffnete Möglichkeiten zur direkten Demokratie über das Plebiszit. Nach Artikel 12 der hessischen Verfassung hatte ein Referendum stattzufinden, wenn fünf Prozent der Wahlberechtigten in einem Volksbegehren, dem ersten Schritt, dieses unterstützen würden – das galt als sachgerechtes Quorum.166 Die Reichsverfassung (Art. 73 WRV) sprach hingegen von zehn Prozent. Zur Annahme eines einfachen Gesetzes in einem dann folgenden Volksentscheid war die Beteiligung der Hälfte aller Stimmberechtigten erforderlich (Art. 75 WRV). Handelte es sich um einen Gesetzentwurf verfassungsändernden Charakters war die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten notwendig (Art. 76 WRV). In Hessen reichte im Normalfall die einfache Mehrheit der Abstimmenden, bei verfassungsändernden Gesetzen war jedoch eine Zweidrittelmehrheit der Wählenden erforderlich (Art. 15). Nach der preußischen Verfassung (dort Art. 6) mussten Volksbegehren im Falle von einfachen Gesetzen von fünf Prozent der Stimmberechtigten gezeichnet werden; bei Verfassungsänderungen oder bei einem Begehren zur Landtagsauflösung mussten 20 Prozent zustimmen, damit eine Volksabstimmung anberaumt werden konnte. Diese war nur dann rechtswirksam, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten daran teilnahm. Ging es um Anträge, die Verfassung zu ändern oder den Landtag aufzulösen, war die Mehrheit der Stimmberechtigten vonnöten; bei einfachen Gesetzen reichte die Majorität der abgegebenen gültigen Stimmen. Wie im Reich, so sollte auch in Hessen und Preußen keine Volksabstimmung erfolgreich sein.

In der hessischen Verfassung fanden mit Blick auf die Regelungen in der Reichsverfassung Grundrechtsbestimmungen keine Erwähnung. Auch nicht aufgenommen wurden die von dem einzigen USPD-Vertreter Alfred Kiel schon bei der Notverfassung eingeforderten wirtschaftspolitischen Sofortmaßnahmen wie die Sozialisierung von Industrieunternehmen. Insgesamt, so ist zu Recht geurteilt worden, umging die hessische Verfassung in der Sogwirkung der bereits gültigen Reichverfassung jede bedeutende Akzentuierung „und vermied jeden denkbaren Konflikt“.167 Andererseits wies sie daher auch keine irgendwie gearteten Konstruktionsfehler auf wie etwa die Reichsverfassung, die im Lande zu einer Untergrabung der Demokratie durch demokratisch konstituierte Organe, die die Verfassung gegen ihren eigentlich Sinn missbrauchen, hätten führen können.

Die Verfassung wurde später in drei wichtigen Punkten (neben einigen weniger bedeutungsvollen) geändert. 1924 erhielt der Landtag das Recht und die Pflicht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. Das entsprach Artikel 35 der Reichsverfassung bzw. Artikel 25 der preußischen Verfassung.168 1930 wurde die Möglichkeit der Landtagsauflösung durch Zweidrittelmehrheit im Landtag eingeführt. Gleichzeitig dehnte das Parlament die Legislaturperiode von drei auf vier Jahre aus. Dahinter verbarg sich politisches Kalkül. Wir werden darauf zurückkommen.169


Der Friedensvertrag interessiert die Bevölkerung weit mehr als die Verfassungsschöpfung: Protestversammlung auf dem Marktplatz von Butzbach im Juli 1919 gegen den kurz zuvor von der Nationalversammlung angenommenen, von den meisten Deutschen als unerträglich abgelehnten Versailler Vertrag. Ein Redner steht auf einem kleinen Podest vor dem Rathaus.

Insgesamt legte die Verfassung die staatsrechtliche Grundlage für die Entwicklung Hessens zu einem demokratischen Volksstaat. In Zusammenarbeit von demokratischer Arbeiterbewegung und demokratischem Bürgertum wurde ohne fundamentale Auseinandersetzungen der Grundstein für die Republik gelegt. Dazu trug sicherlich auch bei, dass das Großherzogtum vor dem Krieg nicht von solchen Klassenspannungen geprägt war wie andere Territorialstaaten und schon eine feste konstitutionelle, wenn auch unvollendet gebliebene demokratische Tradition besaß.

Die Verfassung wurde jedoch nicht der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt, vielleicht vor dem Hintergrund der Erfahrung in Baden, wo die im März verabschiedete Landesverfassung am 13. April 1919 als einziges Staatsgrundgesetz seiner Zeit über einen Volksentscheid – dem ersten in Deutschland überhaupt – angenommen wurde, und zwar mit überragenden fast 95 Prozent, allerdings bei einer geringen Beteiligung von nur 34 Prozent, so dass nicht einmal ein Drittel der Wahlberechtigten seine Zustimmung gegeben hatte.


Die Empörung über Versailles schlägt sich auch in der Alltagskultur nieder: Beim Kirmesfestzug in Homberg (Efze) 1919 steht US-Präsident Woodrow Wilson am Pranger, dessen 14 Punkte, u. a. mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, nicht die – wie von deutscher Seite erhofft – Grundlage für den Friedensschluss bilden.

In Hessen wusste man zudem, dass die Verfassungsschöpfung draußen im Lande auf mäßiges Interesse gestoßen war. Der Bevölkerung erschien anderes wichtiger, weil es als existentieller begriffen wurde. An erster Stelle belastete die französische Besatzung. Der als Knebelung empfundene Versailler Vertrag dominierte den öffentlichen Diskurs, wo die Arbeit an der Verfassung des Reiches mehr als die an der des Landes auf Aufmerksamkeit stieß. So erfüllte sich die von der Regierung mit der Publizierung des Entwurfs im Mai verknüpfte Hoffnung auf eine intensive Verfassungsdiskussion der Bevölkerung auch später nicht.170 Auch für die hessische Verfassung galt, dass sie „im Schatten des großen Werks der Nationalversammlung“ stand.171

Hessen lehnte wie jedes andere Land einen rein auf repräsentative Funktionen ausgerichteten Staatspräsidenten neben einem Ministerpräsidenten ab. Man wählte aber als Amtsbezeichnung für den Regierungschef „Staatspräsident“ (Art. 37), „um sein Ansehen und seine Würde in der Bevölkerung zu heben“.172 Ulrich wurde dann am 16. März 1920 als Staatspräsident auf die Verfassung vereidigt. Die Minister benötigten zu ihrer Bestätigung das Vertrauen des Landtages. Dieser konnte auch dem Gesamtministerium oder einzelnen Ressortchefs das Misstrauen aussprechen und sie so zum Rücktritt zwingen. Ein zur Demission genötigtes Gesamtministerium blieb so lange geschäftsführend im Amt, bis der Landtag den Staatspräsidenten neu gewählt haben würde (Art. 38). Zweimal amtierten geschäftsführende Regierungen über längere Zeiträume: einmal nach den Dezemberwahlen 1924 für drei Monate und nach den Novemberwahlen 1931 dauerhaft bis zum Ende Republik. Die Zahl der von Staatspräsidenten berufenen Mitglieder der Regierung war nicht festgeschrieben. Zunächst gab es die drei herkömmlichen klassischen Ressorts (Finanzen, Inneres, Justiz), zu denen 1921 das Wirtschaftsministerium (später: für Arbeit und Wirtschaft) und dann 1928 das für Kultur- und Bildungswesen, das der neue Staatspräsident Adelung mit übernahm173, hinzukamen.

Auch im bisherigen Fürstentum Waldeck-Pyrmont, nunmehr zum Freistaat erklärt, wollte man eine neue Verfassung entwerfen. Diese kam aber angesichts der immer stärker diskutierten Angliederung an Preußen nicht zustande. Die linksliberal-sozialdemokratische Mehrheit in der am 4. April 1919 gewählten 21-köpfigen verfassunggebenden Landesvertretung strebte einen baldigen Anschluss an Preußen an und hielt daher eine Verfassung für entbehrlich. So reichte es nur zu einem im April 1919 rasch verabschiedeten, sechs kurze Paragraphen umfassenden „Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt“.174 Damit wurde die Verfassung von 1852 in der Weise geändert, dass die dem Fürsten zustehenden Hoheitsrechte einem dreiköpfigen Landesausschuss zu übertragen waren. Dieser wiederum wurde von der verfassunggebenden Landesvertretung gewählt, war dem Parlament gegenüber verantwortlich und von ihm abhängig. Der verfassungs- und staatsrechtliche Schwebezustand dauerte an.175

Noch ein Jahr länger als im Volksstaat Hessen dauerte es in Preußen mit der Verfassung; hier wollte man wie in Hessen auch die Reichsverfassung abwarten und arbeitete zunächst auf der Basis des im März 1919 verabschiedeten „Gesetzes zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt“. Zudem sorgte der rechtsradikale Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 für Verzögerungen. Erst im November des Jahres wurde die preußische Verfassung beschlossen.176

Mit den Verfassungen im Rücken galt es nun, die Republik auszuformen und zu festigen. Wie die Weimarer Verfassung vom August 1919, so waren auch das hessische und das preußische Staatsgrundgesetz solide Fundamente der Demokratie. Die beiden Landesverfassungen boten nicht wie die Reichsverfassung antidemokratischen Kräften die Chance, die Republik unter geschicktem Missbrauch der Verfassungsbestimmungen aus den Angeln zu heben. Doch wie jede staatsrechtliche Grundlage bildeten auch diese lediglich den Rahmen, in dem die gesellschaftlichen Kräfte zu agieren hatten – oder von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet: Verfassungsrechtliche Grundlagen, mochten sie Artikel für Artikel auch noch so klug ausgehandelt sein und ein in sich geschlossenes Konzept ergeben, konnten nur dann volle Wirkkraft entfalten, wenn die politischen Akteure den demokratischen Willen dazu besaßen. Genau hierauf spielte der Präsident der Volkskammer Bernhard Adelung (SPD) an, als er bei der Verabschiedung der Verfassung mahnte, dass man zwar eine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen habe, diese aber nun mit Leben zu erfüllen sei: „Eine Form ist geschaffen. Ihr den rechten Geist und die rechte Kraft zu geben, das muss Aufgabe des Volkes und seiner Vertreter sein. Das Volk ist souverän und der alleinige Träger der Staatsgewalt. Möge es die Gewalt in gutem Sinne und für es segensreich gebrauchen.“177 Die Republik auszubauen und zu festigen, war Auftrag der demokratischen Organe. Eine jede Verfassung ist nur so gut, wie die, die mit ihr arbeiten. Entscheidend für die Entfaltung einer Verfassungsordnung bleibt es dabei immer auch, ob sie im Volk und von seinen Organen akzeptiert wird. Und daran mangelte es in der Weimarer Republik. Es bildete sich kein weitgehend akzeptierter verfassungsrechtlicher Grundkonsens auf demokratischer Basis heraus. Es fehlte der unbedingte klassen- und milieuübergreifende Verfassungspatriotismus. Hessen stellte in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Diese neue Republik fand nicht die uneingeschränkte Zustimmung der Bevölkerung, die in weiten Teilen noch Glanz und Gloria der Monarchie nachtrauerte. Zusätzlich schränkte die dauerhafte oder temporäre Besatzung durch die Siegermächte in Teilen des hessischen Raumes die Entfaltung einer demokratischen Verfassungskultur ein.

Hessen in der Weimarer Republik

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