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2. Revolution zwischen Aufbruch und Kontinuität

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„Schicksalswende! Die Zeit ist aus den Fugen. Es bricht alles um uns herum zusammen. Wir durchleben diese Tage einer völligen Umwälzung in Deutschland wie in einem Taumel; so schnell überstürzen sich die Ereignisse. […] es gibt keinen Zweifel mehr, dass die Revolution auf der ganzen Linie siegreich ist. Wir haben uns mit ihr als einer gegebenen Tatsache abzufinden.“ Mit Realitätssinn resümierte hier das bürgerlichliberale „Wiesbadener Tagblatt“ am 11. November 1918, zwei Tage nach dem unrühmlichen Abgang von Wilhelm II., die Lage.61 Wohin die Reise gehen sollte, hatte die „Volksstimme“, die Tageszeitung der Frankfurter SPD, am 9. November verkündet: „Voran zur deutschen Republik“.62 Der Weg sollte ein steiniger sein – und nicht wenige weigerten sich, ihn mitzugehen.

Das wilhelminische Reich stürzte an eben diesem 9. November in den Abgrund: Kaiser Wilhelm II. dankte notgedrungen ab, Prinz Max von Baden übertrug dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert die Reichskanzlerschaft, Eberts Mitvorsitzender Philipp Scheidemann rief vom Reichstag in Berlin die Republik aus. Damit stieß der Kasseläner das Tor in die neue Staatsordnung weit auf. Seine Tat kann daher in ihrer Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden.63

Einen Tag später machte sich eine SPD-Delegation aus der nordosthessischen Kreisstadt Eschwege in die Provinzhauptstadt Kassel auf, um „nähere Aufklärungen einzuholen“ und um sich der „Bewegung, die sich gegenwärtig im Reich vollziehe“, anzuschließen.64 Die „Bewegung“ – damit waren die sich überall bildenden Arbeiter- und Soldatenräte gemeint, die in den größeren und mittleren Städten schon die Macht übernommen hatten, auch im hessischen Norden. Doch die Eschweger wandten sich nicht an den einen Tag zuvor in Kassel gebildeten Arbeiter- und Soldatenrat als der nun entscheidenden Instanz, sondern – beinahe pflichtgemäß und obrigkeitstreu – an den noch amtierenden königlich-preußischen Regierungspräsidenten Percy Graf von Bernstorff. Der Staatsdiener, der sich bereits den neuen Gegebenheiten angepasst hatte und sich tags darauf dem Revolutionsorgan in Kassel unterstellte, erläuterte die Lage, entließ die sozialdemokratischen Kundschafter mit der Aufforderung, dass der zu bildende Arbeiter- und Soldatenrat in Eschwege für den dortigen Kreis zuständig sein müsse und dem (zentralen) Arbeiter- und Soldatenrat in Kassel unterstehe. Wie aufgetragen, konstituierte sich am nächsten Tag in Eschwege ein Arbeiter- und Soldatenrat. Die Revolution hielt damit auch im Werrastädtchen Einzug, so ganz und gar nicht romantisch-revolutionär, nicht mit Donnerhall, sondern vollkommen unblutig, ruhig, eher wie ein verwaltungsmäßiger Akt. Es war eben keine Revolution „im alten romantischen Sinn der Barrikaden- und Straßenkämpfe, also der Gewaltsamkeit“.65 Sie blieb ohne dramatische Zuspitzung.

Die Revolution kam in Hessen wie im Reich nahezu lautlos daher und verlief ohne Blutvergießen. Kassels seit 1913 amtierender liberaler Oberbürgermeister Erich Koch-Weser notierte zum 9. November in sein Tagebuch: „Das also war der denkwürdige Tag, an dem die alte Ordnung hier so beschämend zusammengebrochen ist. Der Arbeiter- und Soldatenrat ist gegründet und hat die Herrschaft in der Stadt an sich genommen. Auch die militärischen Behörden haben sich gefügt. Die Sache ist in der Form vor sich gegangen, dass hier heute Morgen aus Köln Soldaten angekommen sind, die die Bahnhofswache, die angeblich aus zuverlässigen Leuten der Garnison bestand, entwaffnet haben, ohne auf Widerstand zu stoßen.[…] Inzwischen hat sich auch die hiesige Garnison und die hiesige Arbeiterschaft auf den gleichen Standpunkt gestellt.“66

Wie in Kassel, so geschah es auch andernorts in Hessen. In den Tagen um den 9. November herum übernahmen die spontan gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Der Anstoß war vielerorts von Seiten der stationierten oder von außen in die Städte einziehenden Soldaten gekommen. Ortsfremde Militäreinheiten im Lager Griesheim bildeten im nahen Darmstadt, Garnisonstruppen in Wiesbaden, und zwar dort im Kurbad (angefeuert von den am 9. November aus Köln angekommenen Marinesoldaten), erste Soldatenräte, denen sich alsbald Arbeiterräte anschlossen. Mit dem Einrücken der französischen Besatzungsbehörden am 13. Dezember 1918 endete in Wiesbaden die „kurze Revolution“, die Zeit des Soldatenrates, schon nach fünf Wochen: Vier Tage zuvor, am 9. Dezember, hatte das Revolutionsorgan die rote Fahne am Stadtschloss wieder eingeholt; die Franzosen lösten die Volkswehr auf.67

Nach Frankfurt gelangten zwei Trupps von meuternden Matrosen, die „Sturmvögel der Revolution“68 – die ersten am Abend des 7. November mit dem fahrplanmäßigen Zug aus dem Norden eintreffend –, und schürten das in der Mainmetropole nur schwach glimmende revolutionäre Feuer mächtig an. Wie sehr auch die linkssozialistische USPD von der Situation überrascht war, zeigte sich daran, dass ihr führender Mann Robert Dißmann just an diesem Tag zu einer Sitzung des USPD-Spitze nach Berlin gefahren war.69 Im militärischen Oberzentrum Kassel, in dessen Schloss Wilhelmshöhe die Oberste Heeresleitung (OHL) unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg am 14. November Quartier beziehen sollte70, gründete sich in der Nacht vom 8. auf den 9. November ein Arbeiter- und Soldatenrat unter mehrheitssozialdemokratischer Führung, der sich schon bald für ganz Kurhessen zuständig erklärte. Am 12. November wurde die Einsetzung einer parlamentarischen Vollversammlung aus je 300 Soldaten und Arbeitern beschlossen. In Darmstadt bildete sich nach einer Kundgebung der Arbeiterschaft am Vormittag des 9. November ein Arbeiter- und Soldatenrat. Auch in den anderen Städten stellten sich die weithin von der Revolution überraschten, in Kommunalpolitik erprobten und erfahrenen sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Funktionäre umgehend an die Spitze der Bewegung, um ein drohendes Chaos zu vermeiden. In Frankfurt konstituierte sich nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen den sich befehdenden sozialdemokratischen Lagern SPD und USPD ein von beiden Parteien gebildeter Revolutionsrat. Vergeblich verweigerte sich Dißmann einer Zusammenarbeit mit den als „Kaisersozialisten“ abgestempelten Mehrheitssozialisten. Der Ruf der Straße und aus den Betrieben nach gleichberechtigter Vertretung beider sozialdemokratischer Parteien übertönte solche Animositäten und sorgte für Parität in der Besetzung des Vollzugsausschusses (je sieben Mandate) als der Exekutive des Arbeiterrats. So blieb es die nächsten zwölf Monate. Im benachbarten hessen-darmstädtischen Offenbach, wo die Revolution auf innere Impulse zurückging, erklärte sich am Abend des 8. November ein von SPD und Gewerkschaften getragener Arbeiter-Aktionsausschuss umgehend zur neuen Macht in der Lederwarenstadt. Tags darauf fanden sich SPD, USPD und auch Liberale zu einem Arbeiter- und Soldatenrat zusammen, der sich dann ab dem 11. Dezember nach Abzug der Garnison in Richtung Butzbach „Volksrat“ nannte.71

In den flächendeckend gebildeten neuen Revolutionsorganen dominierte die SPD. Die mittelgroße Industriestadt Hanau stellte insofern eine Ausnahme dar, als in dem bereits am 8. November geschaffenen Arbeiterrat die dort von Beginn an überaus starke USPD die Führung innehatte, darunter mit Georg Handke ein späterer Minister der DDR. In Gießen vereinigten sich ein Soldatenrat und ein im Gewerkschaftshaus paritätisch von je drei SPD- und USPD-Männern gebildeter Arbeiterrat sogleich am Abend des 9. November zum Arbeiter- und Soldatenrat. Hier in der oberhessischen Universitätsstadt sammelte sich wie auch an anderen Orten das Bürgertum mit einiger Zeitverzögerung in sogenannten „Bürgerräten“ zur Wahrung ihrer Interessen gegenüber den Arbeiter- und Soldatenräten.

Im zehnköpfigen Wetzlarer Revolutionsrat saßen neben drei Soldaten zunächst vier Vertreter der USPD und drei der SPD. Er sah keine Notwendigkeit zur Kooperation mit dem am 22. November zur Bündelung der Interessen des Bürgertums gebildeten Bürgerrat, was zu einer Beeinträchtigung des Verhältnisses mit den städtischen Behörden führte. Als erstes hatte sich am 10. November ein Soldatenrat zu Wort gemeldet, der tags darauf mit Männern der Arbeiterschaft zum Arbeiter- und Soldatenrat erweitert wurde, der drei Tage später mit einer Volksversammlung am Domplatz an die Öffentlichkeit trat.72

Im katholischen Fulda dominierten in dem am 13. November von einer Volksversammlung von etwa 2.500 Köpfen im Schlosshof gewählten Arbeiterrat die bürgerlichen Vertreter gegenüber jenen aus dem sozialistischen Lager, das es nur auf etwa ein Viertel brachte. Das Ergebnis wurde bei den nächsten Wahlen im April 1919 bestätigt, zu denen nur Arbeitnehmer „beiderlei Geschlechts mit einem Jahreseinkommen unter 10.000 Mark zugelassen“ wurden: Die SPD erhielt nur fünf Sitze, die Bürgerlichen aber neun. Die USPD ging leer aus.73 Wie hier so arbeiteten auch in Marburg74 und in zahlreichen weiteren Klein- und Mittelstädten von Anfang an sozialdemokratische und bürgerliche Kräfte Hand in Hand. Die Revolution wurde auch in den Klein- und Mittelstädten nur als „ein fernes Feuerchen“ wahrgenommen.75 Jenseits der Großstädte verlief der Umsturz, wie für Fulda und das Umland festgestellt worden ist76, ohne Aufregungen. Alles bewegte sich in den geordneten Bahnen; ohne Störungen nahm das platte Land, wo sich bald auch Bauernräte formierten, das Ende der Monarchie zur Kenntnis, auch wenn einige junge Soldaten „innerhalb der Dorfgemeinschaft ein wenig ‚Revolution zu machen‘“ versuchten und neben der gewählten Vertretung der Bauern noch eine für Soldaten installieren wollten.77

Die organisierte Arbeiterbewegung setzte sich in den Kommunen an die Spitze der Bewegung, die ihre Kraft aus der katastrophalen Lage im fünften Kriegsjahr gewann. Dagegen mochten die politischen Schritte der alten Gewalten hin zu den längst überfälligen Reformen nichts mehr ausrichten. Denn wie im Reich die Oktoberreformen so fanden auch die Zugeständnisse des Großherzogs in Sachen Demokratisierung in einer kriegsmüden, sich nach Frieden, Freiheit und Brot sehnenden Bevölkerung kaum noch Widerhall. Die von den Seehäfen ausgehende revolutionäre Welle erreichte in Windeseile Hessen und spülte dort wie überall im Reich die fürstlichen Kronen fort. Dabei war die Revolution, so betonte die SPD immer wieder, nicht von irgendjemandem gemacht worden, schon gar nicht von Sozialdemokraten, sondern für sie war es das Produkt einer fortschreitenden politischen, geistigen und wirtschaftlichen Entwicklung. Derartige Erklärungen, wie sie der Offenbacher Georg Kaul vor dem Landtag im November 1920 lieferte, entsprachen dem stets wiederholten Credo der SPD: Sie verstand sich im Grunde zwar als eine revolutionäre, aber eben keine revolutionsmachende Partei.78 Der Kasseler Revolutionsführer Albert Grzesinski, ein Mann von Tatkraft und mit klarem Blick für Notwendigkeiten und Realisierungschancen, wehrte sich noch in seinen Memoiren entschieden gegen den Vorwurf einer planmäßig vorbereiteten Revolution: „Im Gegenteil, nichts war vorbereitet, und nichts kam erwartet. Mit dem Umsturz des Systems hatten auch die sozialdemokratischen Parteispitzen in Berlin nicht gerechnet. Infolgedessen war jeder von uns auf sich allein gestellt. Ich musste mit meinen Parteiund Gewerkschaftsfreunden ganz nach eigenem Ermessen handeln.“79 Blaupausen für die Revolution lagen nicht in den Schubladen der sozialdemokratischen Parteibüros. Gewiss war zunächst nur eines: Die Fürsten mussten weichen.

Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein musste gehen. Abzudanken war er aber nicht bereit. Der neue starke Mann in Hessen (-Darmstadt), der sozialdemokratische Führer Carl Ulrich, riet ihm am 9. November, dem Thron zu entsagen. Doch Ernst Ludwig verweigerte sich diesem Ratschlag. Die Massenbewegung setzte ihn faktisch ab. Dabei sollte es dann auch bleiben, wie Ulrich gegenüber dem Revolutionsrat deutlich machte80, der damit die Sache für endgültig erklärte. Keine Hand rührte sich, um die Regentschaft zu verteidigen. Sicher – er als Person war wegen seiner Liberalität, seines Engagements für die Kunst und seiner sozialen Aufgeschlossenheit weithin beliebt, auch in Teilen der Arbeiterschaft. Das Volk, so der Vorsitzende des Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrates Wilhelm Knoblauch, hege gegen den „Bürger Ernst Ludwig“ keinen Groll: „Aber die Uhr des Gottesgnadentums sei nun einmal abgelaufen.“ Daher sei Ernst Ludwig als „Bürger des freien, republikanischen Hessens“ willkommen.81 Monarch und Monarchie waren überlebt, auch das großherzogliche Haus verlor die Macht, mochte es durchaus selbstkritisch die Zeitentwicklung registrieren und sich als eine politisch aufgeschlossene Dynastie bewiesen haben.82 Mit Ernst Ludwig wäre möglicherweise unter anderen Zeitumständen eine allmähliche Parlamentarisierung realisiert worden. Die Nagelprobe blieb ihm erspart. Ungeachtet dessen: „Als alle Throne in Deutschland stürzten, konnte der Darmstädter nicht stehen bleiben.“83 Die Besonderheit, dass der Großherzog der einzige Fürst war, der in der Revolution nie abdankte, war Zufälligkeiten der Novemberereignisse geschuldet.

Um das Vermögen der großherzoglichen Familie sollte sich ein über die Zeit der Republik erstreckendes Problem ergeben. Das 1919 ausgehandelte Abkommen zwischen der neuen republikanischen Regierung und dem ehemaligen Herrscherhaus um die Abfindung war durch die rasante Geldentwertung vier Jahre später Makulatur geworden. Die Ausgleichszahlungen waren auf einen Nennwert von zwei Dollar Monatsrente zusammengeschmolzen. Die vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen wurden konjunkturell zu einem immer wieder im Parlament und in der Öffentlichkeit diskutierten Politikum, das in der Republik schließlich nicht mehr definitiv gelöst werden sollte.84 Dazu später mehr85 – hier nur so viel: Wenn der Großherzog, der seinen Titel behielt, auch die politische Macht verloren hatte, so war ihm ein fürstlicher Lebensstil bis zu seinem Tod 1937 gesichert.

Auch der seit 1893 regierende Fürst Friedrich von Waldeck und Pyrmont, der gerade im Frühjahr 1918 sein 25-jähriges Thronjubiläum gefeiert hatte – angesichts des Krieges jedoch ohne herrschaftlichen Pomp, sondern lediglich mit einem Gottesdienst –, weigerte sich beharrlich, freiwillig zurückzutreten. Der von etwa 30 Soldaten in Waldeck gegründete Soldatenrat wählte einen vorläufigen Ausschuss aus fünf Vertretern, der beauftragt wurde, vom Fürsten die Einwilligung zu einer Volksabstimmung einzuholen, die darüber befinden sollte, ob er Thronverzicht leisten müsse oder nicht. Da wollten die Revolutionäre wohl in überzogener Ehrfurcht vor dem Landesherrn ganz unrevolutionär die Entscheidung dem Bürger überlassen. Der siebenköpfige Arbeiterrat schloss sich dem Vorschlag an. Als Albert Grzesinski als Vorsitzender des Kasseler Arbeiter- und Soldatenrats am 12. November bei Hofe nachfragte, ob Friedrich bereit sei, zurückzutreten, reagierte seine Entourage mit klarer Ablehnung, so dass dann der Waldecker Arbeiter- und Soldatenrat in Arolsen am 13. November unter Weisung des sich für Nordhessen zuständig fühlenden Kasseler Rates kurzerhand die Absetzung des Fürsten verkündete. Dieser bestätigte den Erlass bürokratisch knapp: „Kenntnis genommen. Friedrich.“86 Der Arbeiter- und Soldatenrat Arolsen hatte bereits am 11. November mit Militärführung und Staatsregierung die Übereinkunft erzielt, dass der Revolutionsrat die Aufsicht über die Regierung und der Soldatenrat gemeinsam mit dem Garnisonskommando die militärische Gewalt innehatte.87

Wenn nun Friedrich wirklich von der Hoffnung getragen wurde, mit Rückendeckung seiner Untertanen das Unvermeidliche, das Ende der seit dem 13. Jahrhundert regierenden Dynastie, abwenden zu können, so irrte er sich. Dass die Absetzung die „übergroße Mehrheit der Waldecker schmerzlich“ berührt habe88, scheint ein zweifelhaftes Urteil im Rückblick zu sein: Denn wenn dem so gewesen wäre, hätte sich wohl öffentlicher Protest artikuliert. Dieser aber war nicht zu vernehmen, auch wenn konservative Blätter und aus Waldeck stammende Professoren sowie Geschichtsvereine, Kriegerverbände und Schützengesellschaften, die unter Schirmherrschaft des Fürsten standen oder deren Mitglied er war, das Klagelied anstimmten. Die veröffentlichte Meinung war in den Händen der Monarchisten, die so das Bild vom weitreichenden Bedauern der Waldecker über den Abgang des Fürsten prägten, das manche Historiker in geschickter Wahl der Quellen weiter pflegten.89 Wie die Haltung derer war, die über kein Sprachrohr verfügten, lässt sich nicht herausfiltern. Wie auch immer: Im Fürstentum fand sich niemand, der eine auf Beibehaltung der Monarchie zielende Bewegung anführen wollte. Von einer militanten Opferbereitschaft für das Fürstenhaus war wie im Großherzogtum Hessen nichts zu spüren.90 Die Monarchie war Vergangenheit.

Dagegen brachten die Arbeiter- und Soldatenräte allerorten ihre Anhänger zu Massenversammlungen auf die Straße, um ihre neue Kraft zu zeigen und zu unterstreichen, dass der weitere Weg in eine neue Ordnung führen musste: in die Republik. Am 9. November, als in den Mittagsstunden Philipp Scheidemann vom Reichstag in Berlin die Republik proklamierte und damit dem in Agonie liegenden Kaiserreich den Todesstoß versetzte, verkündete eine Extraausgabe des SPD-Blattes in Darmstadt die Machtübernahme durch den „Hessischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat“ in großen Lettern: „Hessen sozialistische Republik.“91 Nun – das war mehr Wunsch denn Wirklichkeit. Denn die Monarchie war zwar abgeschafft, aber das Neue noch keineswegs strukturiert. Ohnehin ging es zunächst einmal darum, die Ordnung aufrecht zu erhalten und den vielfältigen Problemen am Ende eines verlorenen vierjährigen Weltkrieges Herr zu werden.

Ohne großen Widerstand unterstellten sich die örtlichen Behörden – die städtischen und regionalen Verwaltungen sowie auch, zu aller Überraschung, die militärischen Kommandozentralen – den neuen revolutionären Machthabern. In der Tat waren die in der Heimat stationierten Ersatztruppen, so wird die kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres noch 1939 feststellen, vollkommen zermürbt und ohne Kraft.92 Alles verlief ohne Gewalt. „Kein Tropfen Blut ist geflossen“, hieß es in einem Aufruf des Darmstädter Arbeiter- und Soldatenrates an die Soldaten, der zudem zum Gehorsam gegenüber den jetzt selbstgewählten Vorgesetzten aufforderte.93 Nicht nur der kommissarische Landrat in Hanau begab sich rasch „auf den Boden der durch die Revolution geschaffenen Tatsachen“94 und erkannte die Macht des Revolutionsrates an, der ihn im Gegenzug für sein Stillhalten im Amt bestätigte. In Kassel blieben Oberpräsident August von Trott zu Solz und Regierungspräsident Percy Graf von Bernstorff, Polizeipräsident Alexander Freiherr von Dalwigk zu Lichtenfels und der Landeshauptmann des kurhessischen Bezirkskommunalverbandes, Reinhard von Gehren, auf ihren Posten und ordneten sich dem Revolutionsorgan unter95, dem Oberbürgermeister Erich Koch-Weser sogleich Räumlichkeiten im Rathaus in der Oberen Königstraße zuwies. Auch das stellvertretende Generalkommando als zentrale überregionale militärische Instanz und die Garnison unterwarfen sich der neuen Macht. In Kassel kooperierten die Revolutionäre mit dem Generalkommando, mit dem man gemeinschaftlich die militärische Gewalt ausübte96, später sogar mit der nach Kassel zurückkehrenden Obersten Heeresleitung.

Die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt, wo sich der seit sechs Jahren im Amt befindliche liberale Oberbürgermeister Georg Voigt bereits in der Nacht zum 9. November den neuen Revolutionsorganen zur Verfügung stellte, erkannte am 12. November den Arbeiter- und Soldatenrat, wie von diesem gefordert, „als höchste Vertretung der Stadt“ an.97 Das war in Hessen durchweg der Fall. Der liberale Offenbacher Oberbürgermeister Andreas Dullo verpflichtete sich zwei Tage später vor den Stadtverordneten, der provisorischen Revolutionsregierung von Carl Ulrich Folge zu leisten. So beschränkten sich die örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte zumeist auf Aufsicht über die städtischen Körperschaften, ohne wesentlich in deren Verwaltungshandeln einzugreifen. Das gilt auch für das katholisch geprägte Limburg, wo Bürgermeister Philipp Haerten zu Ruhe und Besonnenheit aufrief und versicherte, dass der Dienst der Behörden „in geordneter Weise weitergehe“. Hier endete die Arbeit des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates, der die kommunalen Körperschaften lenken wollte, schon nach einem Monat.98 In Fulda wies der amtierende Oberbürgermeister Georg Antoni sein Rathaus an, die Kooperation zwischen Verwaltung und Arbeiterrat nicht zu torpedieren. Er überstand so den Umbruch und trat erst 1930 nach 36 Amtsjahren in den Ruhestand.99

Die Verwaltung musste laufen und sie lief in den bisherigen Bahnen, auch wenn mancherorts am Rathaus nun die revolutionäre rote Fahne wehte. Einige zentrale Ämter wurden neu besetzt. So wurde in Frankfurt der nach Ausbruch des Krieges vom Linksliberalismus zur Sozialdemokratie gestoßene Hugo Sinzheimer, der Vater des deutschen Arbeitsrechts100, neuer Polizeipräsident; auch ein neuer Kommandeur der Garnisonstruppen wurde ernannt. Doch solche Neubesetzungen blieben eher die Ausnahme, betrafen allenfalls einige wenige Schlüsselpositionen in einigen Groß- und Mittelstädten.

Mit der Anerkennung der revolutionären Organe durch die alten zivilen und militärischen Instanzen und dem Ausbleiben einer Gegenrevolution gab es kein Zurück mehr. Zugleich ergriffen die neuen Machthaber Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung, bauten Sicherheits- oder Volkswehren auf, die die neuralgischen Punkte wie Lebensmitteldepots und Verkehrsadern kontrollierten. Daneben formulierten die Räte mit unterschiedlicher Intensität Forderungen nach politischen und wirtschaftlichen Reformen. SPD und weite Teile der USPD waren sich einig in dem Ziel einer parlamentarischen Demokratie, wobei die Unabhängigen die Wahlen hinausschieben und zuvor Reformen umsetzen wollten, während die SPD baldmöglichst demokratische Organe aufbauen und diesen den weiteren Reformprozess überlassen wollte. Dabei galt vor allem für die SPD die anzustrebende, bald zu wählende „Nationalversammlung als Bollwerk der Demokratie und des Sozialismus“.101

Eine Herrschaft der Räte, gar eine von vielen befürchtete dauerhafte Diktatur des Proletariats stand nicht auf der Agenda. Vielmehr sah sich die überwiegende Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte als Treuhänder der Macht, wollte Sicherheit und Ordnung auf dem Weg in die Demokratie gewährleisten, nicht permanent die Macht an sich reißen. Viele der Soldaten wollten schlichtweg nach Hause. Sie wollten das Grauen des Schützengrabens hinter sich lassen und wieder zurück zur Familie und an den Arbeitsplatz, wieder zurück in das zivile Leben. Dass die Mehrzahl der Soldaten „nach Hause, nach ihren Familien strebte“, mussten auf der anderen Seite auch die militärischen Kommandozentralen registrieren, die Mühe hatten, die von ihnen zu bildenden Ersatztruppen, die Freikorps wie „Hessen“ oder „Hessen-Nassau“, personell aufzufüllen, denn viele der Bereitwilligen erschienen als „ungeeignete Elemente“, die man wieder entlassen musste.102 In der Tat sammelten sich in den Freikorps viele Entwurzelte und für rechtes Gedankengut empfängliche Kräfte.


Aufstellen zum Erinnerungsfoto: der Marinesicherungsdienst in Frankfurt während der Revolutionszeit.

So wird man in Bezug auf die revolutionären Räte festzustellen haben, dass eine permanente Politisierung der Soldaten die absolute Ausnahme blieb. So gab der Darmstädter Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat bereits am 10. November seine Macht im Grunde genommen an die Volksvertreter zurück, als er die SPD-Fraktion beauftragte, eine neue Landesregierung zu bilden. Und die SPD setzte auf Einbindung der bürgerlichen Kräfte. Anders als im Kaiserreich sollte die neue Republik allen politischen Parteien Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte geben. Es ging nicht darum, eine neue Klassenherrschaft – unter anderen Vorzeichen – zu errichten. Die Sozialdemokratie wollte die unsägliche Trennung in Reichstreue und Reichsfeinde überwinden. Sie strebte dies in der Erkenntnis an, dass die neue Republik nur dann wirklich lebensfähig war, wenn sozialdemokratische Arbeiterschaft und demokratisches Bürgertum kooperieren und – politisch gesehen – koalieren würden. Die neue Regierung sollte sich auch auf „das Vertrauen der nichtsozialdemokratischen Bevölkerungskreise“ stützen können.103 Hinzu kam die Notsituation, die nach Ansicht der SPD eine Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften erforderte und die es in ihren Augen unmöglich machte, durchgreifende Strukturreformen in der Linie ihres eigenen Parteiprogramms sofort in Angriff zu nehmen. Von daher entsprach es politischer Weitsicht, in dem Moment, als die SPD die Führung in der Revolution übernommen hatte, auch den bürgerlichen Parteien ein Angebot zur Mitarbeit zu unterbreiten. Darauf gingen allerdings die rechten Parteien – die spätere Deutsche Volkspartei (DVP) und der (im Vergleich zu dieser noch radikalere) Hessische Bauernbund – nicht ein, was den Sozialdemokraten sicher recht war, setzten sie doch auf das demokratische Bürgertum. Die Linksliberalen, die sich bald in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) formierten, und die katholische Zentrumspartei wollten konstruktiv mit der SPD in der provisorischen Regierung zusammenarbeiten. Eine der ersten Maßnahmen Carl Ulrichs war die Aufhebung des Staatsrates, wogegen die Mitglieder protestierten, allerdings vergeblich.104 Nach der Entmachtung der alten großherzoglichen Regierung von Carl von Ewald am 11. November füllte die nun von Ulrich angeführte provisorische Regierung das Machtvakuum.105


Nach dem Waffenstillstand zurück in der Heimat: Dichtgedrängt verfolgt die Bevölkerung vor dem Rathaus in Kassel am 26. November 1918 den Einzug des zurückkehrenden Infanterieregiments 83 – eine Szene, die sich in allen Orten mit Garnisonen so abspielt.

Einen anderen Weg schlug Preußen ein: Hier bildeten nach dem Vorbild des Reiches, wo sich ein sechsköpfiger Rat der Volksbeauftragten aus SPD und USPD formierte, die beiden Arbeiterparteien die revolutionäre Übergangsregierung unter Paul Hirsch (SPD), allerdings mit einigen nicht zum engeren Kabinett zählenden bürgerlichen Fachministern.

Hessen(-Darmstadt) nahm mit seiner Regierung in gewisser Weise das vorweg, was im Reich im Februar 1919 nach den Wahlen zur Nationalversammlung realisiert werden sollte: die Weimarer Koalition. Im Darmstädter Kabinett des Übergangs saßen neben Regierungschef Carl Ulrich drei weitere Sozialdemokraten (Heinrich Fulda, Georg Raab und Hermann Neumann), zwei Vertreter der DDP (Konrad Henrich und Otto Urstadt) und mit Justizminister Otto von Brentano auch ein Zentrumspolitiker, seit 1896 Mitglied des Landtags und von 1919 bis 1924 der Nationalversammlung und des Reichstags. Bis auf den erst 1918 als Nachrücker in den großherzoglichen Landtag gewählten Neumann besaßen alle langjährige parlamentarische Erfahrung: Ulrich seit 1885, Brentano seit 1897, Fulda seit 1905, Henrich und Urstadt seit 1911. Man kannte sich also, die beiden führenden Köpfe Ulrich und Brentano seit 1895, als sie gleichzeitig in das Offenbacher Stadtparlament gewählt worden waren. Nach Brentanos Einzug in den Landtag kreuzten sie auch hier des Öfteren die Klingen, denn der Zentrumsmann erblickte seinerzeit in der Sozialdemokratie eine Bedrohung der monarchischen Ordnung. Jetzt nach dem Zusammenbruch taten sich das Zentrum und auch Brentano persönlich schwer, mit der SPD zusammenzuarbeiten.106 Aber aus dem Gegeneinander von einst wurde ein Miteinander für die Demokratie. Gleichwohl gab es auch Kritik aus den Reihen des Bürgertums wie von Seiten des Freisinn-Liberalen und späteren Ministers Adolf Korell, der drei Wochen nach dem Umsturz meinte, dass „ein demokratisches Hessen unter unserem Großherzog“ mindestens genauso gut gewesen wäre wie die „jetzige Regierung des Arbeiter- und Soldatenrats“.107 Das mochte sein, aber der Großherzog hatte alles verspielt.


Die revolutionäre Macht: der 18-köpfige Vollzugsausschuss des „Hessischen Landesvolksrats“ im Garten des Ständehauses in Darmstadt – Sitz des Landtages – im Dezember 1918, darunter der Vorsitzende Wilhelm Knoblauch (sitzend 4. v. l.), der spätere Bürgermeister von Darmstadt Heinrich Delp (sitzend 3. v. l.) und der Offenbacher Georg Kaul (stehend 4. v. l.).

Die Regierung war geschaffen. Die Rolle des Ersatzparlaments übernahm der durch Ergänzungswahlen in den umliegenden Gebieten erweiterte Arbeiter- und Soldatenrat in der Landeshauptstadt, der sich am 9. Dezember 1918 als „Volksrat für die Republik Hessen“ konstituierte. Am 14. November hatten sich die Arbeiter- und Soldatenräte aus 23 Städten und Gemeinden aus allen drei Provinzen des Volksstaates zu einer ersten Zusammenkunft in Darmstadt versammelt108, dabei einige Forderungen erhoben wie den baldigen Zusammentritt der Nationalversammlung und die Einführung des Acht-Stunden-Tages, den die Regierung sogleich für die Staatsbetriebe verfügte. Nach einer Rede Ulrichs wurde der Regierung das Vertrauen ausgesprochen. Die Hessen des vormaligen Großherzogtums wehrten sich gegen den sich wohl anscheinend als südhessische Zentrale gebärdeten Frankfurter Revolutionsrat. Die Mainstädter leiteten ihren Führungsanspruch auch aus der in den Mauern ihrer Stadt am 19. November stattgehabten Zusammenkunft der Arbeiter- und Soldatenräte im Bezirk des XVIII. Armeekorps ab, der u. a. das ehemalige Großherzogtum und südliche Teile der Provinz Hessen-Nassau sowie Wetzlar umfasste.109 Mochten dort auch Offenbacher USPD-Vertreter für Frankfurt als Zentrale plädieren, so wandten sich die gemäßigten Sozialdemokraten im ehemaligen Großherzogtum mit Georg Kaul als ihrem Wortführer gegen die „Diktatur des Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrats“.110 In diesem Sinne mahnte die dortige Landesregierung in der dritten Revolutionswoche die nachgeordneten Behörden, keine Weisungen von außerhessischen Arbeiter- und Soldatenräten, explizit des sich radikaler gebenden Frankfurter, zu befolgen. Dieser sei überhaupt nicht befugt, in die „hessische Verwaltung einzugreifen“.111

Der provisorischen Regierung Ulrich ging es neben der Krisenbewältigung vor allem darum, möglichst bald die mit dem Umsturz geschaffenen Verhältnisse durch allgemeine Wahlen demokratisch zu legitimieren, um so den Weg zur Republik zu bahnen. Dazu mahnte Ulrich auch die Berliner Revolutionsregierung an und forderte sogleich, die Einzelstaaten bei der Neuordnung einzubeziehen.112 Doch wie sollte das Neue denn aussehen? Die künftige Staatsordnung war nicht am Reißbrett zu entwerfen, es gab Vorbelastungen und mentale Dispositionen, die die Handlungsmöglichkeiten der Verantwortlichen mitbestimmten. Gerade unter dem Druck der Ereignisse wurde eine von den Kräften der Linken umfassende Demokratisierung von Heer, Verwaltung und Justiz nicht durchgeführt. Und es ergab keinen Sinn, in einem kleinen Land wie Hessen irgendwelche Spielarten der Sozialisierung ad hoc umzusetzen. Das Reich war intakt, so dass es kaum eine Legitimation gab, im hessischen Raum wirtschaftspolitische Strukturreformen umgehend in Angriff zu nehmen. Denn dann wäre das kleine Land eine sozialisierte „Oase“ gewesen, die wohl mit Sicherheit kurzerhand ausgetrocknet worden wäre. Der an die SPD gerichtete Vorwurf, mit den Bürgerlichen kooperiert und nicht mit der USPD Sofortmaßnahmen eingeleitet zu haben, um die Republik stabiler zu machen, geht fehl. Das ist Rückblick, vom schmachvollen Ende der Republik her gedacht, kein adäquater Blick auf Zeit und Zeitumstände der mit vielschichtigen Problemen belasteten Revolutionsphase.

Jedes Denken in Richtung einer reinen Arbeiterregierung, einer Verbindung der alten SPD mit der USPD, die mitunter als natürlicher Bündnispartner der in Hessen klar dominierenden Mehrheitssozialdemokratie gesehen wird, ignoriert, dass diese neue Linke sich erst 1917 von der Mutterpartei abgespalten hatte und dass beide Seiten einen erbitterten Kampf um das sozialdemokratische Erbe – um Parteizeitungen und -organisationen – ausgefochten hatten. Die im Parteistreit geschlagenen Wunden waren längst noch nicht verheilt. Im Reich hielt die Kooperation der beiden Parteien im Rat der Volksbeauftragten, der am 10. November gleichberechtigt aus je drei Vertretern von SPD und USPD gebildeten revolutionären Zentralregierung, nicht einmal sieben Wochen, als die USPD wegen eines von der SPD angeordneten militärischen Einsatzes gegen die meuternde Volksmarinedivision austrat. Und über eine Mehrheit verfügten die beiden sozialdemokratischen Parteien in Hessen(-Darmstadt) eben nicht, denn die USPD war gerade hier eine nahezu unbedeutende Gruppierung, wie die Landtagswahlen im Januar 1919 überdeutlich zeigen sollten, als sie magere 1,5 Prozent einfuhr. Ein wirkungsvoller Partner wäre die nahe der politischen Bedeutungslosigkeit rangierende USPD für die SPD nicht gewesen, hätte auch keine erhebliche Verstärkung des Regierungslagers bedeutet. Die von der SPD gewünschte Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien wäre erschwert, vielleicht sogar gänzlich unmöglich gemacht worden. Die bürgerlichen Parteien wären wohl kaum mit den Unabhängigen an einen Tisch gebracht worden. Und auch der Vorwurf in Richtung Sozialdemokratie, zu wenig auf die (vermeintliche) Schubkraft einer außerparlamentarischen Bewegung gesetzt zu haben113, spiegelt nicht die Zeit und die Machtkonstellationen wider, da eine solche „außerparlamentarische Bewegung“ mit einem dauerhaften politischen Machtanspruch und hohem Mobilisierungsgrad der „Massen“ nicht existierte. Die Arbeiter- und Soldatenräte sahen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit als Treuhänder der Macht bis zum Zusammentritt demokratisch konstituierter Körperschaften.

Als Sachwalter mit inhaltlich und zeitlich begrenzter Legitimation verstand sich auch die Zentralregierung in Berlin. Dem dortigen Rat der Volksbeauftragten aus SPD und USPD, dem „sechsköpfigen Reichskanzler“114, gehörte auch Philipp Scheidemann an. Im Zentralrat der Republik, dem auf dem ersten Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 gewählten Ersatzparlament, das nur aus Mehrheitssozialdemokraten bestand, waren die Hessen mit dem Kasseler Gewerkschaftsfunktionär Albert Grzesinski (für Hessen-Nassau) und dem Darmstädter Redakteur des „Hessischen Volksfreund“ Wilhelm Knoblauch (für Hessen) mit zwei Männern vertreten, die sich in der Revolutionszeit an ihren Heimatorten nicht nur als Vorsitzende der Arbeiter- und Soldatenräte besonders hervorgetan hatten.115 Beide repräsentierten die auf parlamentarische Demokratie ausgerichteten Kräfte der Revolutionszeit und verkörperten so die überwiegenden Mehrheit der Deutschen – und der Hessen. Denn von der Diktatur der Räte nach russischem Vorbild träumte im revolutionären Deutschland nur eine von der zum Jahreswechsel 1918/19 gegründeten Splitterpartei KPD angeführte Minderheit, die in Hessen nahezu bedeutungslos war. Erst später gewann die KPD an Kraft, überholte aber schon früh in ihrer Hochburg Hanau die SPD. Hier war im April 1919 die USPD, die 3.000 Mitglieder umfasst haben soll, fast geschlossen zur KPD gewechselt. Die Landkreisorganisation folgte.116 Bis 1933 blieb die KPD stärkste Fraktion im Hanauer Stadtparlament.117

Wenn auch die Angst vor einem „Bolschewismus“ während der Revolution im Nachhinein als überzogen gewertet wurde, so stand sie den Akteuren – vor allem im politischen Hexenkessel Berlin, aber auch in Teilen des Reiches – real vor Augen. Das, was sich im revolutionären Russland abgespielt hatte, als die vom Wählerzuspruch herb enttäuschte bolschewistische Minderheit offen den Putsch gewagt und das frisch gewählte Parlament auseinandergetrieben hatte, konnte durchaus auch in Deutschland passieren. Der Januar-Aufstand in Berlin 1919, an dessen Spitze sich nach Ausbruch die KPD mit Karl Liebknecht als Anführer stellte, zeigte doch mehr als deutlich, dass eine Minderheit zum putschistischen Vorgehen bereit war. Dass die junge KPD keineswegs nur eine zu vernachlässigende Randerscheinung in der deutschen Revolution war, offenbarte spätestens diese als Spartakus-Aufstand in die Geschichte eingegangene Berliner Januar-Revolte, als die Radikalen unter der Dominanz der Kommunisten den Weg zu den Wahlen der Nationalversammlung stoppen und die Diktatur des Proletariats verwirklichen wollten. Sie zielten darauf ab, die parlamentarische Demokratie zu zerstören, bevor diese überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Eine solche hochdramatische Zuspitzung erlebte Hessen nicht, wenn es später auch nicht ohne Blutvergießen abgehen sollte.

Für Hessen (und darüber hinaus) galt, was die in Stuttgart ansässige Ikone der sozialistischen Frauenbewegung und KPD-Vorkämpferin Clara Zetkin für das linksdominierte Hanau schon 1919 schreiben sollte: „[…] das revolutionäre Hanau gehörte zu den wenigen Inseln im Ozean der Klassenunreife. Es war ein vorgeschobener Vorposten der proletarischen Revolution, der zurückgezogen werden musste, weil die breiten, starken Heersäulen nicht folgten.“118 Epischer konnte nicht die Enttäuschung der selbsternannten revolutionären Speerspitze darüber umschrieben werden, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung auch in Hessen eben nicht der kommunistischen Avantgarde mit ihren rätedemokratischen oder gar rätediktatorischen Ideen folgte, sondern die demokratisch-parlamentarische Republik wollte.

Ob in der konfliktreichen Gemengelage vielleicht doch ein Mehr an Reformen möglich gewesen wäre, mag sein, ob eine umfassendere Neuordnung oder ein breiter Elitenaustausch die Demokratie stabiler gemacht und den Ansturm sowie den Sieg der Nationalsozialisten 1933 verhindert hätte, bleibt eine hypothetische Frage. Möglicherweise hätten tiefe und breite Neuerungen nicht nur zum Stillstand des öffentlichen Lebens in einer Extremsituation geführt – mit ungewissen Folgen –, sondern schon früh einen gegenrevolutionären Schlag provoziert und die Republik abgewürgt, bevor diese überhaupt so richtig ans Laufen gekommen wäre. Aber auch das ist Hypothese. Nicht hypothetisch ist die Feststellung, dass die Verantwortlichen in Reich und Ländern auch Erfolge vorzuweisen hatten. In einer Umbruchsphase, wie sie die deutsche (und hessische) Geschichte in solcher Wucht noch nicht erfahren hatte, wurde das Chaos vermieden: Die Verwaltung funktionierte im Großen und Ganzen; die allseits angesichts der dramatischen Versorgungslage erwartete Hungerepidemie blieb aus – wenngleich die Ernährungslage angespannt und viele Familien noch lange Hunger litten. Die vom Schlachtfeld zurückströmenden Truppen, die nach dem Waffenstillstandsvertrag hinter den Rhein, also auch auf hessisches Gebiet verbracht werden mussten, wurden einigermaßen geordnet repatriiert und auf ihren Zwischenstationen versorgt, bevor sie in ihre Heimatort zurückkehrten; die Soldaten wurden nachfolgend weitgehend in die abrupt und kurzfristig von der Kriegs- auf Friedensproduktion umgestellte Wirtschaft integriert; die durch den Wegfall der Rüstungsproduktion von einem auf den anderen Tag arbeitslos gewordenen Arbeiter und Arbeiterinnen (allein in Frankfurt 70.– 80.000) erhielten neue Arbeit, obwohl ganze Branchen, die eben nicht zur Kriegsproduktion zählten, zusammenbrachen wie dauerhaft die Darmstädter Möbelindustrie; die dennoch von Arbeitslosigkeit Betroffenen erhielten eine umgehend eingeführte staatliche Erwerbslosenfürsorge. Wenn also in den Monaten am Ende des vierjährigen Weltkrieges mit all seinen Opfern und bis dahin nie da gewesenen Folgen wie Zerstörung und Desintegration der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung abgewendet und zudem die Weichen in Richtung Demokratie gestellt wurden, so waren das beachtliche Leistungen. Damit war jedoch nicht sogleich Alltag eingekehrt; denn als die Waffen endlich schwiegen, hatte das Leid noch kein Ende gefunden. Lag die Sterblichkeitsrate in Frankfurt im Vergleich zu 1913 im zweiten Kriegsjahr 1915 um 2,2 Prozent höher, so stieg sie 1917 um 17 Prozent, 1918 um 31 Prozent gegenüber den Werten des letzten Friedensjahres. Den Höhepunkt erreichte die Rate aber erst 1919 mit 44,4 Prozent gegenüber 1913.119


Unruhige Zeiten: Protestversammlung der mit Streik drohenden Belegschaft der chemischen Fabrik E. Merck in Darmstadt am Vormittag des 17. März 1919.

Wenngleich die Ergebnisse des Umsturzes vom November 1918 von einigen linksorientierten Zeitgenossen (und rückschauenden Historikern) vielfach kritisiert, die Basiskompromisse als zu weitgehend bewertet, die Chancen für einen radikalen revolutionären Umsturz als verpasst angesehen wurden, so hatte die Umbruchssituation unter den Handlungszwängen am Ende eines mehr als vierjährigen Krieges doch die Möglichkeit eröffnet, eine stabile Demokratie zu gründen und diese auszubauen. Die Monarchie war abgeschafft, die Demokratie installiert. Nicht die Basiskompromisse in der Revolutionszeit waren die tieferen Gründe, warum die 1918/19 aus der Taufe gehobene Staatsordnung nur ein so kurzes Dasein erfahren sollte.

Hessen in der Weimarer Republik

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