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Ein ganz normaler Tag mit Arne
ОглавлениеArne Feddersen war ein hagerer, blasser Mann mit ausdruckslosen, graublauen Augen; ein grauer Nadelstreifenanzug umschlotterte ihn. Sein Leben war ausgesprochen wohl geordnet. Er richtete sich nach der Uhr. Jeden Morgen stand er um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit ins Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen. Sein Büro war ein schmuckloser Raum mit einem zweckmäßigen hellgrauen Stahlschreibtisch, einem einfachen Schreibtischstuhl und einem offenen Regal, das sich rechts an der Wand vom Boden bis zur Decke reckte und Akten, Kataloge und anderen wohlgeordneten Krimskrams beherbergte. Das helle Neonlicht ließ die kahlen, weißen Wände und den mausgrauen Kunststoffboden kalt erscheinen. Der Schreibtisch, die Wohnung, der Garten, die Beziehung, worauf immer er auch Einfluss hatte, mussten geordnet und aufgeräumt sein. Das Einzige, was davon abwich, war sein Sarkasmus, der immer dann herausbrach, wenn er in seiner Ordnung gestört wurde.
Dennoch gab es in seinem Leben eine Abweichung. Er hatte Dora geheiratet. Dora war das genaue Gegenteil. Sie war ein lebenslustiger Wirbelwind, die einmal durch das Haus ging und alles war in Unordnung. Überall stellte sie Blumen auf, hing romantische Bilder an die Wände und zündete sich abends eine Kerze an. Gerade deshalb hatte er sich in sie verliebt, weil er dies alles nicht konnte. Als er sie kennenlernte, hatte sie wasserblaue Augen und blondes Haar mit etwas dunklerem Ansatz. Später wusste er dann, dass ihr Haar dunkel war wie Ebenholz, sodass er sie sein Schneewittchen nannte. Sie war für ihn die schönste Frau der Welt. Dora fand ihn intelligent, bewunderte seine Ordnung, mochte seine zynischen Bemerkungen, aber sonst erschien er ihr ein wenig langweilig, da er nicht unternehmungslustig war. Was sie zunächst hielt, war seine Liebe zu ihr gewesen.
Irgendwann ließ diese Bindungskraft nach. An einem Donnerstag im August, drei Tage nachdem Dora ausgezogen war, verließ Feddersen sein Büro pünktlich um 17 : 30 Uhr, innerlich in Unruhe, äußerlich gefasst. Bevor er das Deckenlicht ausschaltete, kontrollierte er noch mit prüfendem Blick den Schreibtisch. Es war alles in Ordnung. Die Stifte lagen parallel neben der Schreibtischauflage, der Rechner war ausgeschaltet und kein einziges Blatt Papier lag auf dem Tisch. Er nahm die braune Aktentasche und fuhr mit dem Aufzug in das Erdgeschoss.
Der Pförtner in der Empfangshalle rief: „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen. Heute wird wieder demonstriert. Seien Sie vorsichtig.“
Feddersen hob die linke Hand zum Gruß und sagte emotionslos: „Jeder äußert Meinungen auf seine Weise. Nicht alles, was wir produzieren, gefällt.“
„Stimmt schon! Auf Wiedersehen!“ Der Pförtner lächelte freundlich.
Feddersen verließ das Gebäude durch die Drehtür, ohne zu lächeln, und winkte dem Häuflein Demonstranten zu, die vor dem Zaun an einer Straßenlaterne trotz der aufziehenden Gewitterwolken flatternde Plakate in die Windböen hielten: „Kein Gift für Afrika!“ Er hatte eine gewisse Sympathie für sie, seit er wusste, dass die Phosphorsäureester, Chlorhexane und das Chlorphenotan, für die er Aufträge schrieb, in großen Mengen in Entwicklungsländer verkauft und dort großzügig über das Land versprüht wurden. Er hatte Berichte gelesen und sich im Internet Filme sowie Fotos angesehen von den Missbildungen der Kinder, Nervenschäden und Tumoren, die als Folge der Insektizide interpretiert wurden. Dies hatte zunehmend seine Einstellung zu seinem Arbeitgeber, dem Chemiekonzern Reyab, verändert, dem er über Jahre loyal verbunden war. Dies und der Verlust von Dora hatten ihn mehr aufgewühlt, als er dies in seinem bisherigen Leben erlebt hatte. Seine starre seelische Stabilität drohte zu zerbrechen. Von außen war ihm dies nicht anzusehen. Er hielt sich an seine festen Tagesabläufe, sodass er seinen Arbeitskollegen unverändert zuverlässig und schweigsam erschien. Er setzte seinen Weg zur Bushaltestelle fort.
Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Feddersen in einen Bus der Linie 60. Dabei sprach er ein paar Worte mit dem Busfahrer Willy Otremba. Der fuhr schon immer Bus, kannte Feddersen gut und hielt ihn für einen skurrilen, aber harmlosen Menschen.
„Schöner Abend heute“, bemerkte Feddersen.
„Soll aber noch regnen“, gab Otremba zurück.
„Dabei hatten wir doch in letzter Zeit genug Regen“, sagte Feddersen.
„Da haben Sie recht.“
Feddersen setzte sich auf eine freie Sitzbank im hinteren Teil des Busses und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Es donnerte und eine Druckwelle erschütterte den Bus. Feddersen lächelte zum ersten Mal seit Monaten. Otremba blickte in den Rückspiegel, sah eine Staubwolke und brummelte kopfschüttelnd: „Ein trockenes Gewitter!“, und setzte die Busfahrt unbeeindruckt fort.
Zu Hause angekommen schaltete Feddersen den Fernseher ein, um die 18-Uhr-Nachrichten im dritten Programm zu sehen. Er blickte sich um. Es lagen keine Zeitschriften herum, er war nicht über Stöckelschuhe gestolpert, alles sah wieder kühl und geordnet aus. Er vermisste Dora, auch wenn er sich über ihre Unordnung aufgeregt hatte. Jetzt fehlte sie ihm, nachdem sie ihn verlassen hatte. Er hatte Mühe diese Realität zu akzeptieren.
Seine Aufmerksamkeit wurde auf den Fernseher gelenkt.
„Wie wir soeben erfahren haben, gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil des Chemiekonzerns Reyab“, sagte die Fernsehsprecherin, „wir schalten um zu unserem Lokalreporter vor Ort.“
Im Bild erschien der Lokalreporter Friedhelm Meyer, der mit hochgeschlagenem Kragen und Schirm vor dem Gebäudekomplex des Chemiekonzerns stand. Im Hintergrund brannte es. Das Blaulicht der Feuerwehr- und Polizeiwagen erhellte die Mauern der Gebäude im Vordergrund gespenstisch. Männer rannten scheinbar planlos hin und her.
„Können Sie sagen, was passiert ist“, fragte die Sprecherin.
„Soweit ich bis jetzt in Erfahrung bringen konnte“, berichtete Friedhelm Meyer, „gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil, in dem Insektizide und Unkrautvernichtungsmittel hergestellt werden. Über das Ausmaß des Schadens kann man noch nichts sagen. Auch ist noch unklar, ob es sich um eine Spontanexplosion der Chemikalien oder um einen Anschlag handelte. In letzter Zeit randalierten immer wieder Demonstranten vor der Firma. Hier könnte ein Zusammenhang gesehen werden. Ein Polizeisprecher ging davon aus, dass derzeit keine Gefahr für die Bevölkerung bestünde, empfahl aber, die Fenster in der Umgebung geschlossen zu halten.“
Feddersen lächelte und schaltete den Fernseher aus. Es hatte geklappt. Dora wäre stolz auf ihren Langweiler, dachte er. Er nahm den vorbereiteten schwarzen Rollkoffer, der sein ganzes Vermögen enthielt, blickte sich nochmals um. Alles war in Ordnung. Er löschte das Licht und schloss sorgfältig die Wohnungstür ab. Er stieg in das wartende Taxi zum Flughafen und überlegte, wie jetzt wohl das Wetter in Santiago de Chile sein würde. Es war dort jetzt Winter.