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Der Staumauersturz
ОглавлениеAn einem kühlen Sommermorgen im Oberbergischen, seit dem Vorabend hatte es nicht mehr geregnet und die Sonne wärmte das Wäldchen um die Bruchertalsperre auf, lag ein leichter Dunst über den Baumwipfeln und über dem Abfluss zur Wipper schwankten durchsichtige Nebelschwaden wie Elfen in weißen, durchsichtigen Kleidern.
Heidi Wolfslust schlenderte auf der nur wenig befahrenen Straße von der Staumauer abwärts und beobachtete ihren Schäferhund, der fröhlich mit zurückgelegten Ohren Kurven rannte. Als er die Talsohle erreicht hatte, blieb er plötzlich am Straßenrand stehen und bellte. Als Heidi Wolfslust neben ihn trat, sah sie einen am Kopf blutenden jungen Mann mit zerrissenen Jeans und blauem Pullover im Schatten unterhalb der Talsperre im Gras neben dem Wasserauslass am Boden liegen. Er bewegte noch die Beine und schien etwas sagen zu wollen. Sie kniete neben ihm nieder und beugte sich zu ihm hinunter. Er flüsterte etwas, was sie kaum verstand und verlor dann das Bewusstsein. Rasch zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte 110.
„Am Fuß der Brucherstaumauer liegt ein Verletzter. Er sagt, soweit ich es verstanden habe, er sei hinuntergestoßen worden.“ Nach etwa zehn Minuten kamen mit einer Staubwolke, Blaulicht und Martinshorn Polizei und Krankenwagen.
In der Polizeidirektion musterte Kommissarin Waltraud Rausch den schlanken, etwa dreißig Jahre alten Mann in blauen Jeans, weißem T-Shirt und brauner Sportjacke, der unsicher um sich blickend das Büro betrat.
„Was führt Sie hierher“, fragte sie.
„Ich bin der Neue, Hinrich Schulte, aus Dortmund hierher beordert“, antwortete er und reichte ihr die Hand.
„Erwarten wir für die Polizeiwache einen Neuen?“ Sie blickte sich fragend um, aber da war niemand außer ihr und Hinrich Schulte.
„Nach meinem Zusatzstudium der Kriminologie wurde ich nach Gummersbach versetzt, um bei der Kripo anzufangen.“
„Ach, bei uns! Ich hatte jemanden aus Köln erwartet. Bei der Kripo können wir Verstärkung gut gebrauchen. Es geht drunter und drüber, seit die Zahl der Einbrüche so zugenommen hat.“
Sie schüttelte ihm die Hand, zeigte auf einen kahlen Schreibtisch am Fenster. „Dort können Sie Ihre Zelte aufschlagen. Ich habe Ihnen schon einen Ausdruck hingelegt. Einen Bericht des Streifendienstes, über einen Selbstmordversuch an der Bruchertalsperre. War das Erste, was heute reinkam. Vielleicht können Sie sich damit beschäftigen. Ich muss noch Akten aufarbeiten.“
Hinrich Schulte stellte seine Tasche ab, nahm das Blatt hoch und las es aufmerksam. Aus dem Bericht ging hervor, dass eine Zeugin angerufen und behauptet hatte, es sei jemand von der Bruchertalsperre gestoßen worden. Als sie ankamen, war der Verletzte tief bewusstlos. Sein Personalausweis befand sich in der Jackentasche, Maximilian Gummelang, 18 Jahre alt. Der Notarzt hielt es aufgrund der Kopfverletzung für unwahrscheinlich, dass er noch habe sprechen können. Spuren für Fremdeinwirkung hätten sie nicht finden können, deshalb seien sie von einem Selbstmordversuch ausgegangen. Das habe es dort schon öfter gegeben. Einige ausgedruckte Fotos vom Ort des Geschehens lagen dem Bericht bei. Hinrich Schulte zog einen Notizblock aus seiner Jackentasche und machte einige Einträge.
„Alles in Ordnung?“, fragte Waltraud Rausch.
„Ich werde mir alles anschauen, mit der Zeugin und den Angehörigen sprechen.“
„Zweifel am Bericht?“
„Ja!“
Hinrich Schulte musterte die Stelle, an der Maximilian Gummelang gelegen hatte und kritzelte etwas in seinen Block. Dann ging er die Straße hoch zu der Stelle an der Staumauer, von der der junge Mann hinuntergestürzt sein musste. Langsam ging er den Mauerrand ab und fand Wollfasern des blauen Pullovers sowohl auf der Mauer als auch an der Außenkante. An der Innenkante fand sich der Abrieb einzelner roter Fasern. Er packte alles mit der Pinzette in kleine Plastiktüten und machte sich auf den Weg zu der Zeugin Heidi Wolfslust und anschließend ins Krankenhaus.
Heidi Wolfslust wohnte in Rodt in einer Mietswohnung, Am Struckey, und war gerade dabei, die Wohnung zu saugen, als er klingelte, sodass sie erst nach mehrfachem Läuten öffnete. Sie berichtete ihm, dass sie mit dem Hund spazieren war und dabei den Verletzten gefunden habe. Der Verletzte sei noch ansprechbar gewesen und habe etwas wie: „Ich bin gestoßen worden“, gehaucht und sei bewusstlos geworden. Sie habe sofort angerufen und ansonsten nichts bemerkt. Im Krankenhaus erfuhr er vom Stationsarzt, dass das Veilchen um das linke Auge des Verletzten schon vor dem Sturz entstanden sein musste und nur die Prellmarke unter dem Haaransatz rechts durch den Aufprall erklärt werden könne. Zudem habe er sich beide Unterarme gebrochen. Sprechen konnte er mit Maximilian Gummelang nicht, da dieser schläfrig und verwirrt war.
„Er wird es zum Glück überleben“, sagte der Stationsarzt der Intensivstation.
Auch Hinrich Schulte hatte Glück. Er traf die Mutter an, die ihren Sohn besuchte und konnte kurz mit ihr sprechen.
„Wenn man nur wüsste, was passiert ist“, sagte Dora Gummelang, putzte sich die Nase mit einem Papiertaschentuch und steckte es in den Ausschnitt ihres geblümten Sommerkleides. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Selbstmordversuch war. Er war immer so fröhlich und in letzter Zeit so erfolgreich in der Handball-Jugendmannschaft des VFL. Er hat gehofft, in eine Bundesligamannschaft wechseln zu können.“
„Kennen Sie in ihrem oder dem Bekanntenkreis Ihres Sohnes jemanden mit dem Namen Klaus?“
„Wieso Klaus?“
„Eine Zeugin meinte, diesen Namen im Flüstern ihres Sohnes gehört zu haben.“
„Klaus, Klaus? – Ja, da ist einmal Klaus Neubart, ein Freund der Familie. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der etwas damit zu tun hat. Maximilian und er sind seit Jahren ein Herz und eine Seele. Sie waren sogar schon mehrfach zusammen zelten und Herr Neubart hat das Handballtraining unterstützt.“
„Gab es in letzter Zeit zwischen den beiden Unstimmigkeiten?“
„Nein, Nein! Sie waren immer noch gute Freunde. Es gibt noch einen anderen Klaus, Klaus Grimmelung, einen gleichaltrigen Klassenkameraden. Mit diesem hatte Maximilian in der letzten Zeit häufiger Streit. Es ging um eine Freundin, Lotte, zwei Klassen tiefer, glaube ich. Sie haben sich beide um sie bemüht. Lotte war auch schon mal bei uns zu Hause, ein nettes Mädchen.“
„Kennen Sie die Adresse von Klaus Neubart, Klaus Grimmelung und der Freundin? Ich möchte mehr über die Hintergründe wissen.“
„Klaus Neubart, ja, Klaus Grimmelung, nein. Letztere könnten Sie über die Schule erfahren.“
Er hielt ihr sein Notizbuch mit dem Stift hin, und sie trug ihm die Adresse ein.
„Wissen Sie, ob Ihr Sohn Drogen nimmt?“
„Auf keinen Fall. Er ist so sportlich und aktiv, kein Junkie, der nur rumhängt.“
„Sie haben mir sehr geholfen“, sagte Hinrich Schulte, „Gute Besserung für Maximilian.“
Er ging nochmals zum Stationsarzt: „Sie wollten ein Drogenscreening machen. Hat das etwas ergeben?“ Der Stationsarzt schob ihm einen Zettel hin. Er blickte kurz darauf, notierte etwas auf seinem Block und verabschiedete sich.
Hinrich Schulte saß vor dem Computer und versuchte, in einer Tabelle alle beteiligten Personen zu ordnen nach Aufenthaltsort, Aufenthaltszeit und Beziehung zum Opfer.
Waltraud Rausch stand hinter ihm: „Zweifel ausgeräumt?“
„Ja, es handelt sich um einen Mordversuch.“
„Nicht Selbstmordversuch?
„Kein Selbstmörder schlägt sich erst mit der Faust auf das linke Auge, um dann über die Staumauer zu robben und vornüber hinunterzufallen. Er hat sich die Arme und nicht die Beine gebrochen. Zudem waren an der Staumauer außer den Faserspuren vom blauen Pullover des Opfers noch andere Faserspuren.“
„Und wer soll der Täter sein?“
„Am meisten verdächtig ist der Klassenkamerad Klaus Grimmelung. Sein Motiv wäre Eifersucht, da beide sich um dasselbe Mädchen bemühten. Er hat jedoch ein Alibi. Das Verbrechen muss in den frühen Morgenstunden am Mittwoch stattgefunden haben. Im fraglichen Zeitraum war er zu Hause und saß beim Frühstück. Seine Mutter bezeugt das.“
„Weshalb war das Opfer so früh unterwegs.“
„Er wollte joggen, sagen seine Eltern, um für den Handball fit zu sein.“
„Gibt es niemanden, der sonst noch in Frage kommt?“
„Alle anderen haben kein Motiv und ein Alibi. Wenn Maximilian Gummelang nicht bald vernehmungsfähig wird, werden wir Wochen brauchen, bis wir alle Spuren abgeglichen haben.“
„Braucht das Opfer keinen Polizeischutz?“
„Solange er auf der Intensivstation liegt, ist er ausreichend abgeschirmt. Es gibt aber eine neue Erkenntnis. Der Stationsarzt hat mir einen Befund mitgegeben, aus dem hervorgeht, dass beim Drogenscreening Spuren von Methamphetamin im Urin gefunden wurden.“
„Du denkst, er könnte als Folge einer Halluzination von der Mauer gesprungen sein?“ Waltraud Rausch schaute ihn nachdenklich an.
„So weit würde ich nicht gehen, zumal es Spuren von einer zweiten Person gibt. Es könnte aber ein Hinweis sein, dass Drogen als Tötungsmotiv in die Überlegungen einbezogen werden sollten und damit ein Unbekannter als Täter in Frage kommen kann. Wir sollten diesen Neubarth, die Freundin und Klassenkameraden befragen.“
Klaus Neubarth wohnte unweit des Finanzamtes in einem hübschen Einfamilienhaus. Er war ein smarter, sportlich angezogener Mann, etwa Mitte vierzig. Das Einzige, was Hinrich Schulte störte, waren die fünf Piercingringe am linken Ohr, sonst erinnerte er ihn an seinen Physiotherapeuten. Er führte sie in ein modern ausgestattetes Wohnzimmer mit einer Wohnlandschaft aus winkeliger Couch und Sitzblöcken, in deren Mitte ein Glastisch mit verchromten Beinen stand. Sie setzten sich auf die glatte, schwarze Ledercouch.
„Sie kommen sicher wegen Maximilian“, begann er freundlich und rutschte etwas nervös auf dem Sitzblock hin und her. „Wir kennen uns schon lange aus dem Sportverein und sind befreundet. Maximilian ist ein guter Handballspieler, der Chancen hat, als Profi in die Bundesliga aufzusteigen. Seine Stärke im Handball ist das Werfen. Er trifft das Tor zu neunzig Prozent. Ich würde ihn gerne weiter fördern.“
„Wissen Sie, ob er Drogen nimmt?“, unterbrach Waltraud Rausch seinen Redefluss.
„Maximilian? Auf keinen Fall. Er ist ein absoluter Drogengegner.“
„Wo waren Sie am Donnerstagmorgen?“, meldet sich jetzt Hinrich Schulte, der bis dahin schweigend zugehört hatte und Klaus Neubarth beobachtete.
„Morgens hole ich immer Brötchen und nutze das, um dabei von hier bis in die Stadt und zurück zu joggen. Das hält fit!“
Klaus Neubarth lächelte ihn dabei freundlich an.
Sie bedankten sich und verließen das Haus.
„So ganz gefällt er mir nicht“, bemerkte Hinrich Schulte, „er wirkt so seifig.“
„Ich habe einen ähnlichen Eindruck“, antwortete Waltraud Rausch.
Sie fuhren weiter zum Gymnasium und suchten den Direktor Ullrich Nather auf, ein höflicher, leicht adipöser Mann im grauen Anzug, der Zurückhaltung ausstrahlte. Hinrich Schulte schätzte ihn auf Mitte fünfzig. In seinem einfach möblierten Büro wies er ihnen zwei Stühle an einem runden Tisch in einer dunkleren Ecke zu, abseits des Schreibtisches, der am Fenster stand.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Herr Nather reserviert.
„Ein Schüler Ihrer Schule, Maximilian Gummelang, stürzte von der Brucherstaumauer und liegt im Krankenhaus. Wir haben die Aufgabe, die Umstände zu klären. Dazu benötigen wir Informationen zum Umfeld. Können Sie uns etwas über den Schüler sagen?“ Hinrich Schulte bemühte sich um einen sachlichen Ton.
Herr Nather dachte kurz nach, bevor er antwortete: „Er ist Schüler der 12. Klasse, in der ich den Mathematik-Leistungskurs unterrichte, an dem er teilnimmt. Seine Leistungen sind gut. Auch sonst erscheint er mir unauffällig.“
„Wir haben die Information, dass er mit der Schülerin Lotte Lieberhausen, zwei Klassen darunter, befreundet sei. Mit dem Klassenkameraden Klaus Grimmelung soll er Streit gehabt haben.“
Herr Nather zog die Augenbrauen hoch und mimte einen erstaunten Blick: „Von der Freundschaft mit der Schülerin Lotte habe ich keine Kenntnis. Auseinandersetzungen zwischen Klassenkameraden gehören zum Alltag einer Schule. Mag sein, dass er auch einmal mit Klaus Grimmelung einen Zwist hatte. Sie werden doch nicht auf die Idee kommen, Klaus zu verdächtigen, er habe etwas mit Maximilians Sturz von der Staumauer zu tun. Ich kann mir das nicht vorstellen.“
Hinrich Schulte nahm die Antwort ohne Regung zur Kenntnis und bat höflich um die Adressen der beiden Schüler.
„Meine Sekretärin wird sie Ihnen geben.“ Herr Nather stand auf, um zu signalisieren, dass das Gespräch für ihn beendet war.
Draußen fragte Hinrich Schulte seine Kollegin: „Du hast die ganze Zeit geschwiegen?“
Waltraud Rausch antwortete verschmitzt: „Ich wollte nicht, dass der Schlagabtausch unhöflich wird. – Warum hast ihn nicht nach Drogen in der Schule gefragt?“
„Aufgrund seines Verhaltens wusste ich die Antwort schon.“
Lotte Lieberhusen wohnte in Bernberg, einer Hochhaussiedlung, im fünften Stock. Natürlich war der Aufzug außer Betrieb, sodass sie die Treppe hochkeuchten und außer Atem waren, als sie klingelten. Die Mutter öffnete mit fragendem Blick die Wohnungstür. Hinrich Schulte stellte sich und seine Kollegin vor und sagte dann, noch nach Luft ringend: „Wir wollten Ihre Tochter Lotte sprechen.“
„Ich habe von dem Staumauersturz in der Zeitung gelesen und dann gehört, dass Maximilian das Opfer war. Eine schlimme Geschichte. Lotte müsste in fünf Minuten zurück sein. Möchten Sie so lange warten?“
Als sie nickten, führte sie die beiden Beamten in ein mit Ikea-Möbeln hübsch eingerichtetes Wohnzimmer. Sie nahmen auf der Couch Platz.
Sie stellte unaufgefordert Tassen auf den Couchtisch: „Sie trinken doch eine Tasse Assamtee?“ Sie schenkte Schwarztee ein und stellte Zucker und ein kleines Kännchen Milch dazu. Hinrich Schulte blickte Waltraud Rausch an und nahm dann höflich einen Schluck des anregenden Tees.
Etwa zehn Minuten später stand Lotte mit geröteten Wangen in der Tür. Das hübsche Gesicht mit blauen Augen war von einer Fülle von blonden Locken umgeben. Sie trug eine blaue, strassbesetzte Jeansbluse und die unvermeidliche wasserblaue Jeans mit den künstlich aufgerissenen, ausgefransten Löchern an Knien und Oberschenkeln. Bei der Begrüßung blickte sie die Polizisten erstaunt an, setzte sich aber artig auf einen Stuhl.
„Du bist mit Maximilian Gummelang befreundet?“, begann Waltraud Rausch freundlich.
„Ja“, antwortete Lotte knapp.
„Und Klaus Grimmelung?“
„Das ist ein Blödmann, der mich immer anmachen wollte.“
„Gab es Streit zwischen den beiden?“
„Es gibt kaum jemanden, der mit Klaus nicht in Streit gerät. Er macht häufig zynische Bemerkungen, was die Anderen reizt.“
„Gab es irgendetwas Besonderes in der letzten Zeit, das Hinweise auf den Staumauersturz geben könnte?“
„Es war wie immer. Ich kann mich nicht an etwas Besonderes erinnern.“ Lotte schüttelte den Kopf.
„Wird in der Schule mit Rauschgift gehandelt?“
„In den großen Pausen tauchen manchmal Typen auf, die sonst am Bahnhof herumlungern und verticken was. Das weiß jeder. Ich halte mich da fern.“
Waltraud Rausch reichte ihr eine Visitenkarte: „Wenn Dir noch etwas einfällt, das zur Aufklärung beitragen kann, ruf mich einfach an.“
Klaus Grimmelung fanden sie in einem Mietshaus, Am Hepel. Er war alleine zu Hause. Beide Elternteile waren bei der Arbeit. Mit etwa 1,90 m Größe überragte er sie. Er hatte einen blass-roten Trainingsanzug an und roch nach Schweiß. Einzelne Barthaare standen ihm vom Kinn. Als sich die Beamten vorstellten, grinste er spöttisch: „Bullen im Haus! Auf dem Land nichts Ungewöhnliches.“
Hinrich Schulte überging die Respektlosigkeit und fragte direkt: „Sie hatten mit Maximilian Gummelang Streit. Können sie uns sagen, worum es ging?“
„Ich sehe, worauf Ihr hinauswollt. Bei dem Streit ging es um eine Lappalie! Denken Sie, ich würde so einen Frosch anfassen. Er wäre mir zu glitschig. Wenn ich ihn von der Staumauer geworfen hätte, dann auf die andere Seite in den Stausee. Dort gehört ein Frosch hin.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ Hinrich Schulte blickte ihn ernst an.
„Ach so, ich habe seine Schlampe angemacht, da ist er ausgerastet. Ich habe ihn eine Armlänge weggehalten, da hat er in seiner Wut gezappelt und ich habe mich köstlich amüsiert. Das war alles.“
Mit einer Eingebung fragte Hinrich Schulte: „Kennen Sie Klaus Neubart?“
„Den Trainer vom Sportverein? Klar kenne ich den. Hat hohe Ansprüche an die Leistung seiner Sprösslinge, die man allenfalls durch Dopen erreichen kann. Max war ganz eng mit ihm. Ich war mal dort. Er war mir aber zu anstrengend. Ich gehe lieber ins Fitnessstudio oder arbeite mit Gewichten, so wie kurz bevor ihr gekommen seid.“ Er grinste erneut und zeigte ihnen seinen Bizeps, der eine beachtliche Wölbung erzeugte.
„Wo waren Sie am letzten Donnerstagmorgen?“
„Ach, jetzt kommt diese Frage! Zuerst habe ich meinen Eltern das Frühstück gemacht und bin dann kurz vor acht mit dem Moped in die Schule gefahren.“
Als sie gingen, rief er hinter ihnen her: „Tschüss, ihr beiden!“, und schloss die Wohnungstür.
„Ein frecher Kerl“, bemerkte Waltraud Rausch, nachdem sie zunächst schweigend das Haus verlassen hatten.
„Ich glaube nicht, dass er Maximilian Gummelang von der Staumauer gestoßen hat“, sagte Hinrich Schulte nachdenklich. „Wir müssen uns etwas Anderes ausdenken“,
„Die Idee mit dem Rauschgift?“
„Vielleicht.“
Wenig später rief der Stationsarzt aus dem Krankenhaus an, der junge Mann sei jetzt ansprechbar. Hinrich Schulte nahm seine Jacke und eilte ins Krankenhaus. Er fand Maximilian Gummelang auf einer unfallchirurgischen Pflegestation noch etwas angeschlagen, aber völlig klar. An die Frau, die ihn gefunden hatte, konnte er sich nicht erinnern. Die Vorfälle bis zum Sturz von der Staumauer konnte er jedoch in allen Einzelheiten berichten.
Zwei Stunden später nahm Hinrich Schulte zusammen mit zwei Polizisten des Streifendienstes Klaus Neubart fest und brachten ihn in das Polizeipräsidium.
Waltraud Rausch sah in mit großen Augen an: „Wie kam es zu der schnellen Festnahme?“
„Maximilian Gummelang hat mir im Krankenhaus berichtet, dass er sich in den letzten Wochen immer wieder mit Klaus Neubarth gestritten habe. Er hatte herausbekommen, dass Klaus Neubarth seinen Zöglingen heimlich Doping-Mittel in die Getränke gemischt hatte. Er hatte sich schon immer gewundert, warum die von ihm trainierten Jugendlichen immer erfolgreicher waren, als die Gruppen anderer Trainer. Klaus Neubarth war ehrgeizig und hoffte, in eine höhere Liga berufen zu werden. Er habe zunächst versucht, ihn zur Vernunft zu bringen und ihm klargemacht, dass Doping schon an sich und erst recht ohne das Einverständnis der Betroffenen kriminell sei. Neubarth habe kein Einsehen gehabt und darauf beharrt, dass das, was er tat, legitim sei. Daraufhin habe er beschlossen, zur Polizei zu gehen, um Anzeige zu erstatten. Aus Fairness habe er dies Klaus Neubarth mitgeteilt. Dieser habe versucht, ihn unter Druck zu setzen. Er sollte schriftlich versichern, dass die Dopingvorwürfe üble Nachrede seien. Dies habe er abgelehnt. An jenem Mittwochmorgen habe Klaus Neubart ihn mit dem Auto abgepasst und zum Einsteigen veranlasst. Er wolle nur noch einmal über die Sache sprechen und habe zunächst vorgegeben, Einsicht zu haben. Dann sei er zur Bruchertalsperre gefahren. Dort habe Klaus Neubart ihn aus dem Auto gezerrt, niedergeschlagen, über die Staumauer gewuchtet und hinuntergeworfen. Natürlich hat Neubart bei der Festnahme die Vorwürfe geleugnet. Ich habe die Spurensicherung auf sein Auto angesetzt und wir müssen jetzt alles durchsuchen mit der Frage, ob wir irgendwo Vorräte der Medikamente finden. Bei seinen Zöglingen sollten wir nach Spuren der Doping-Mittel suchen.“
„Wie erklärt sich die Spur Methylamphetamin im Urin Maximilian Gummelangs?“ Waltraud Rausch strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte Hinrich Schulte in die Augen.
„Als Stimulanz kann es beim Doping zur Leistungssteigerung eingesetzt werden. Es kann aber auch auf dem Schulhof erworben worden sein.“
„Nur drei Tage bis zur Festnahme. Das war für den Start in Gummersbach eine flotte Aufklärung“, sagte Waltraud Rausch mit leichtem Spott.
„Der Junge hätte auch nicht mehr aufwachen können“, antwortete Hinrich Schulte nachdenklich und wandte sich seinem Computer zu.