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Am anderen Morgen war Nebel. Hemmsteet verließ das Haus schon früh. Er hatte fast zwei Stunden zu klettern, bis endlich die Wolken lichter wurden, bis er endlich aus dem Nebel herauskam.

Es war oben ganz still. Kein Wind wehte, kein Baum seufzte. Kein Vogel sang, kein Tier rief. Sonne und Schnee, soweit man sah, und darunter die seltsame Jagd der grellweißen Wolken. Er legte sich auf seine Bretter. Er wollte nachdenken. So hatte er sich das vorgenommen. Hinauffahren ins Engadin und über alles klarwerden. Das letztemal war er vor sechs Jahren mit Brigitte dagewesen. Auf der ersten Reise, die sie zusammen machten. Hier, in der Nähe waren sie bestimmt gewesen. Er erkannte es jetzt an der Form des Berges, der die Hochebene überzackte. Brigitte hatte ein buntes Skikostüm an, wie man es damals trug, ein hellgelbes Halstuch. Sie sah herrlich aus in der Sonne, hell, schattenlos. Komisch, nicht wahr, daß der erste Ausflug ihn auf die Spuren der Vergangenheit brachte? Sechs Winter lang war Schnee gefallen, sechs Sommer lang war Wasser den Berg hinunter gestürzt. Aber dies Bild, Brigitte in Sonne und Schnee, war unversehrt. Nicht zugeschüttet, nicht zerschmolzen, nicht zerflossen. War dies Bild etwa die Wahrheit, das Bild der sorglosen, lachenden, kräftigen und schönen Frau? Oder war sie so, wie sie sich in den letzten Jahren gab: dunkel, unverständlich und zerstörerisch?

Hemmsteet faltete die Hände unter dem Kopf und blinzelte in die Sonne. Hier oben, in der leichten und klaren Luft begriff er die letzten Jahre weniger als je. Er dachte an sein kleines Haus in Düsseldorf, draußen in einer Villenstraße. Er dachte an sein Atelier, das so schlecht gebaut war, daß in jedem November der Regen durch die Decke tropfte, daß bei jedem Sturm die Teppiche auf dem Fußboden sich aufhoben. Er sah sich über seine Zeichnungen und Entwürfe gebeugt, einen fremden, überanstrengten, traurigen Herrn mit eisgrauen Haaren über einem jungen Gesicht. Er sah erstaunt zu, wie Jahr um Jahr, Arbeit um Arbeit, Kummer um Kummer wolkenhaft über den Mann Hemmsteet da unten hinzog. Er hörte, wie die Treppe knarrte. Er sah Brigitte Hemmsteet eintreten, die eine Schulter, die eine Hüfte leicht vorgezogen, etwas männlich gekleidet, mit Sweater und einem knappen hellen Rock. Er spürte sie näherkommen und sich über die Schulter jenes fremden Ingenieurs Hemmsteet beugen. Er hörte sie seufzen. Wie sie die Zahlen und Zeichnungen haßte! Wie sie die „sture“ Arbeit verabscheute! Hemmsteet konnte in den letzten Jahren nicht mehr arbeiten, wenn Brigitte hinter ihm stand. Das war nicht verwunderlich. Davon mußte man sich befreien. Gut. Das war schon ein Ergebnis. Weiter ... Nein, er kam nicht weiter. Mit einemmal hatte ihn die Müdigkeit gepackt, das Gefühl der vollkommenen Leere, in die er einschlafend hineinfiel.

Als er aufwachte, saß Anna Favetti neben ihm. Sie hockte auf ihren Brettern und sah ihn gespannt an. „Hier darf man doch nicht schlafen“, sagte sie vorwurfsvoll. „Sie hätten jämmerlich erfrieren können.“

„Sicherlich“, lächelte Hemmsteet, „wenn Sie nicht gekommen wären. Aber Sie sind ja gekommen.“

„Zufall“, sagte Anna etwas ärgerlich.

Hemmsteet schüttelt den Kopf. „Man kann nicht mehr zufällig umkommen, wenn der Krieg einen übriggelassen hat“, sagte er etwas lehrhaft. „Oder meinen Sie doch?“

Anna nickte. Ja, das meinte sie natürlich. Wieso bedeutete es ein Privileg, daß man übriggeblieben war?

Hemmsteet richtete sich etwas mühsam auf. Die Knochen schmerzten ihn. „Es ist wirklich ein gefährlicher Unsinn, hier zu schlafen“, sagte er. Und nach einer Pause, als spräche er von einer ganz anderen Sache: „Vielleicht ist doch eine Kraft da, die noch etwas mit uns vorhat.“

„Vielleicht“, sagte Anna leise. Sie wandte sich um und zeigte auf die Sonne, die schon ziemlich schräg über den Westgipfeln stand. Es war Zeit, abzufahren. Aber Hemmsteet war noch nicht fertig mit seinen Gedanken. Er mußte das Fräulein Favetti noch etwas fragen. Vielleicht war es eine Kleinkinderfrage oder eine Jungmädchenfrage. Aber hier oben hörte sie niemand, und so konnte er sie vielleicht doch fragen.

„Sie müssen sich nicht immerfort entschuldigen“, lachte Anna Favetti. „Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht. Da ist es noch leicht und bequem, miteinander zu sprechen. Später ist es nicht mehr so einfach.“

Hemmsteet sah das junge Mädchen erstaunt an. „Woher wissen Sie das?“ fragte er. „Sie waren doch nie verheiratet?“

Anna lachte. Nein, sie war nicht verheiratet. Oder ob der Herr Hemmsteet denn glaube, daß man durch Heiraten Wissen und Einsichten einsammle? Ihre wenigen Freundinnen jedenfalls seien durch die Ehe nicht gescheiter geworden, sondern nur ein bißchen ängstlicher innen und ein bißchen selbstbewußter außen. Und nach dieser langen Unterhandlung sollte der Herr Ingenieur endlich mit seiner Frage herausrücken. Sie sei schon ganz gespannt.

Sie hatte die Skistöcke unter die Schultern geklemmt und lächelte den Fremden an. Dieses Lächeln war überaus anmutig, aber sehr von oben herab, sehr von fern her, wie Hemmsteet abwehrend feststellte. Eigentlich war für ihn diese Unterhaltung beendet. Trotzdem fragte er endlich: „Meinen Sie, daß das Leben einen Sinn hat?“

Anna schüttelte den Kopf. „Weiter“, sagte sie, „was wollten Sie noch fragen?“

„Nichts weiter“, antwortete Hemmsteet, „das wollte ich fragen. Das heißt, ich wüßte gern, wie Sie darüber denken. Schließlich, nicht wahr, haben Sie ja viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken.“

„Ja, ich habe Zeit gehabt“, sagte Anna ernst.

Hemmsteet fing an, weiterzugehen. Er stemmte die Stöcke gut in den Boden und zog mit großen Schritten davon.

Anna hielt sich dicht neben ihm.

„Sie brauchen nicht gleich so finster dreinzuschauen“, sagte sie, „das ist doch Unsinn. Sie haben natürlich nie Zeit gehabt. Man merkt es an Ihrer Ungeduld.“

Sie gingen schweigend nebeneinander her. Der Nebel schob sich vom Tal herauf. Es wehte plötzlich eiskalt. Sie standen schon mitten zwischen zierlichen dünnen Wolkenfetzen.

„Wenn das Leben keinen Sinn hätte“, sagte die junge Frau mit der dunklen Stimme, „wenn das Leben keinen Sinn hätte ... Aber ich bitte Sie, wie kann ein Mann mitten im Leben so etwas denken? Das ist ja ganz schrecklich!“

Hemmsteet zuckte die Achseln. „Vielleicht ist es schrecklich. Vielleicht ist es aber trotzdem so. Das ist doch möglich, nicht wahr?“

„Wir müssen jetzt abfahren“, schloß Anna Favetti, „es wird ganz schnell dunkel. Passen Sie genau auf. Wir fahren erst hier am Hang, dann an den ersten Tannen rechts über den Abhang weg. Halten Sie sich immer dicht hinter mir. Es ist wirklich fast nichts mehr zu sehen. Übrigens ... wenn das Leben keinen Sinn hätte ... nein ... nein ... unmöglich ...“

Nach dieser etwas diktatorischen Antwort begann die schnelle Abfahrt. Anna Favetti lief ausgezeichnet, leicht, gleichgewichtig und federnd. Hemmsteet hatte Mühe, ihr zu folgen. „Sie müssen aufpassen, daß ich Sie nicht umrenne“, schrie er einmal; aber sie war immer so weit voran, daß er sie nicht erreichen konnte.

Als sie unten ankamen, setzte der Schneefall ein. Der Hund, Lio mit Namen, begrüßte sie freudig. Bertha, die Haushälterin, sah mürrisch zur Seite, als sie zusammen die Diele betraten.

Hemmsteet fand in seinem Zimmer ein Telegramm seines Anwalts. Es war nicht möglich gewesen, einen Termin vor dem zehnten Januar zu bekommen. Bis dahin sollte sich Hemmsteet in Geduld fassen. Und ein Eilbrief war da, der nicht länger gebraucht hatte als das Telegramm, das vierundzwanzig Stunden postlagernd auf Hemmsteet gewartet hatte. Was man sechs Jahre getragen habe, schrieb der Anwalt, könne man auch noch vierzehn Tage tragen, wenn man die Sache überstürzte, kämen nur unsinnige Forderungen von Brigitte heraus. Außerdem habe Hemmsteet ja oben im Engadin jetzt in dieser herrlichen Schneezeit nichts auszustehen. Ob er übrigens erklären könne, warum Kingston (England) im Schnellauf gesiegt habe statt Liteinen (Finnland). Ihm, dem Anwalt, sei das ein völliges Rätsel. Der kleine Liteinen sei doch dem langen Kingston um Klassen überlegen.

Hemmsteet wollte sich nicht über den Scheidungstermin ärgern, aber er ärgerte sich doch sehr. Es schien ihm ungeheuer wichtig, diesen Lebensabschnitt zu beenden. Er wollte frei sein. Er wollte etwas Neues anfangen können. Ja ... was wollte er denn anfangen? Das wußte er allerdings nicht. Vielleicht wirklich nur anfangen aufzuatmen und sich frei zu fühlen. Weiter nichts? Nein! Zunächst weiter nichts.

Er hörte sich wieder fragen: Hat das Leben einen Sinn? Und die dunkle Stimme Anna Favettis antwortete. Nein, sie antwortete nicht. Sie wich aus in einen Wennsatz. „Wenn das Leben keinen Sinn hätte ... Nein ... nein ... unmöglich ...“

Licht im dunklen Haus

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