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Abends saßen Hemmsteet und der alte Favetti wieder über ihrer Partie Schach. Sie hatten sich in eine verzwickte, fast unlösbare Aufgabe verrannt. Frau Favetti strickte an einem Riesentuch. Die Nadeln klapperten gleichmäßig. Anna saß neben ihrem Vater und rieb ein paarmal ihren Kopf an seiner Schulter wie ein junges schwarzes Füllen. Die Herren dampften gewaltige Wolken aus ihren Pfeifen. Bertha brachte ab und zu frischen Glühwein. Es war draußen wieder ganz still. Der Schnee fiel unablässig und lautlos in großen Flocken. Es war dabei recht kalt, man spürte es, wenn die alte Bertha hereinkam.

Anna spielte gut mit ihrem Vater gegen Hemmsteet. Um elf Uhr war er matt. Die Damen gingen schlafen. Herr Favetti aber holte noch einen alten Burgunder aus dem Keller. Er müsse seinen Sieg feiern. Er sei nicht wenig stolz, da Hemmsteet ein prachtvoller Spieler sei.

Hemmsteet gab die Schmeicheleien verdoppelt zurück. Der Alte, das merkte man, war durstig nach Anerkennung. Wahrscheinlich hatte er in seinem Leben zu wenig gearbeitet und zu viel Geld verloren.

„Sie waren im Kriege?“ fragte der alte Favetti dann unvermittelt.

Hemmsteet nickte. „Natürlich“, sagte er. „Fast alle Männer meines Alters in Deutschland waren im Kriege.“ Er sagte es abweisend. Er hatte wie die meisten Kriegsteilnehmer keine Lust mehr, viel darüber zu sprechen.

Aber Favetti ließ nicht locker. An welcher Front er gewesen sei? So, so ... Nur an der Westfront? Niemals an der italienischen Front? Nein, niemals! Herr Favetti war enttäuscht. Die Alpenflüge, meinte er geistesabwesend, seien doch gewiß für einen Flieger interessante aviatische Probleme gewesen.

Hemmsteet nickte. Sicherlich. Er sei aber nur an der Küste und in der Ebene geflogen. Gebirgsflüge kenne er nicht und werde sie leider auch nicht kennenlernen. Seit fünf Jahren habe er nicht mehr in einer solchen „Kiste“ gesessen. Es konnte sein, daß die Beine plötzlich einmal versagten, gerade dann, wenn sie nicht versagen durften. Hier, er zeigte auf seine Knie, und hier seien die Kugeln durchgeschlagen. Ein andermal vielleicht werde es sich ergeben, daß er dem Herrn Favetti die aufregende und seltsame Geschichte seiner Rettung erzählte.

„Ein andermal“, sagte Herr Favetti abweisend, „jetzt im Augenblick wollte ich Sie etwas anderes fragen. Sie wissen ja als Flieger auch, daß in Frankreich ein paar italienische Divisionen eingesetzt wurden. Und einmal, bei der großen Märzoffensive ist doch eine von diesen Divisionen fast ganz in Gefangenschaft geraten. Bitte, erinnern Sie sich!“

Hemmsteet erinnerte sich dunkel, und Herr Favetti nahm darauf hastig ein Amateurbild aus seiner Brusttasche. Er reichte es Hemmsteet hinüber. „Hier, das ist mein Junge“, sagte er. „Achtzehn Jahre alt. Jetzt ist er zweiunddreißig.“

Hemmsteet nickte. Er besah das Bild aufmerksam. Der Junge sah seinem Vater sehr ähnlich. Nur viel runder war das Gesicht. Die Augenbogen und die Wangenbogen waren bei ihm so romanisch gerundet wie bei Anna Favetti. „Sehr ähnlich“, sagte Hemmsteet und reichte das Bild zurück.

Der Alte beugte sich geheimnisvoll zu seinem Gast. „Es könnte doch sein“, sagte er, „es ist schließlich nicht unmöglich, daß Sie ihm begegnet sind.“

„Nein“, antwortete Hemmsteet bestimmt, „ich habe ihn ganz gewiß nie gesehen.“ Er sah das kummervolle Gesicht des alten Favetti prüfend an. Er überlegte, ob es einen Sinn hatte, ihn vielleicht zu belügen. „Nein“, wiederholte er nachdrücklich, „ich erinnere mich nicht.“

Der alte Favetti schien die Ablehnung nicht gehört zu haben. Auf seinem Gesicht stand ein eigensinniger Zug. Seine Augen erloschen, die noch eben gespannt und lebendig wie Jägeraugen geblickt hatten. Er stand auf, gähnte ein bißchen, entschuldigte sich mit großer Müdigkeit und ging hinaus. Er kam nach einer, zwei Minuten mit zwei großen Windlaternen aus dem Schuppen, marschierte durch den Schneegarten, durch den Schneewirbel, kam ohne Laternen wieder. Hemmsteet saß noch eine Weile am Kamin, trank langsam die Flasche Burgunder aus, starrte in die Flammen, die zusammenfielen, dachte gar nichts. Dachte, wie müde er sei. Eine halbe Stunde später kam Favetti im Skianzug die Treppe hinuntergeschlichen. Er vermied die knarrenden Stufen mit großer Behendigkeit. Lautlos ging er an Hemmsteet vorbei, als sähe er ihn nicht, und stapfte in den Schnee hinaus. Man hörte ihn leise ladinisch auf den Hund einsprechen. Augenscheinlich hatte er ihn von der Kette gelöst und nahm ihn mit sich. Das Bellen des Hundes erklang immer ferner. Die Rufe Favettis: „Gian, Gian“ verloschen. Der Schnee fiel weiter.

Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, als es an Hemmsteets Tür klopfte. Er hörte es wohl im Halbschlaf, konnte aber nicht antworten und wachte erst auf, als eine Hand nach ihm griff und ihn schüttelte.

„Bitte, wachen Sie auf!“ flüsterte Anna Favetti. „Sie müssen mir helfen.“ Sie hatte ihr Skikostüm an, die halblangen Haare trug sie offen. Ihre Augen waren müde, ihr Gesicht voll Angst und Bitterkeit. „Ich möchte Sie bitten, mir zu helfen“, sagte sie. „Stehen Sie auf, schnell!“

„Ihr Vater“, antwortete Hemmsteet, „er ging vorhin weg. Hätte ich ihn aufhalten sollen?“

Anna war schon aus dem Zimmer gegangen. Fünf Minuten später tastete Hemmsteet durch das dunkle Haus. Draußen wartete Anna Favetti schon auf Skiern. Sie hatte zwei große Laternen bei sich. Eine mußte Hemmsteet umhängen, eine nahm sie.

Es schneite immer noch. „Seit zehn Jahren“, sagte Anna, „hat es nicht mehr so geschneit. Der Schnee wird noch bis ans Dach wachsen und durch die Fenster hereinwehen wie damals.“

Ihre Stimme klang eher ungeduldig als unglücklich. Sie stand unschlüssig. Man sah nur noch eine schwache Spur der Skier Favettis. Bis Sonnenaufgang waren es fünf Stunden. Hatte es irgendeinen Sinn, in die Schneewüste hinauszuwandern?

Die beiden fuhren langsam an der Spur entlang. Sie zeigte zunächst scharf südlich, überquerte dann den See. „Er ist doch wieder nach Maloja hinüber“, nickte Anna, „es war ja klar.“

„Wieso war es klar?“ fragte Hemmsteet. Es machte ihn etwas ungeduldig, daß sie so viel voraus zu wissen schien und doch wohl nichts verhindern konnte.

Anna antwortete nicht. Sie sah ihren Begleiter erstaunt von der Seite an. Warum ärgerte er sich? „Es tut mir leid, daß ich Sie aus dem Bett geholt habe“, sagte sie. „Nach Maloja hinüber konnte ich auch allein fahren. Aber ich dachte, er würde diesmal auf den Berg hinaufgehen. Gian hat damals diese Volte geschlagen, um uns irrezuführen. Und bei Schneefall ist es da oben gefährlich.“

Sie liefen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Sie hatten die Laternen gelöscht und konnten sich schon ganz gut erkennen, so sehr hatten sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Der Weg führte über einen sanften Hang. Ein paar spärliche Lichter tauchten auf, ein paar Gestalten vor dunklen Häusern: Maloja.

Gleich darauf machte Anna halt. „Hier herunter geht der Weg nach Italien“, sagte sie. „Sie kennen die Chaussee. Wir schnallen besser ab.“

Sie gingen vorsichtig, die Laternen voran, weiter. Die Spur war hier ganz deutlich. Favetti war bis dicht an den Abgrund herangefahren. Sie leuchteten hinunter. Keine Spur eines Absturzes.

„Er hat hier gestanden wie immer“, sagte Anna. „Im Sommer fährt er an jedem Abend mit dem Rad hierher, um nach Italien hinunterzusehen. So hat er auch heute nacht hier gesessen. Sehen Sie? Hier. Und hier ist er wieder zurückgefahren. Kommen Sie! Hier.“

Auf der Straße in Maloja verloren sie die Spur. Sie fragten in einer Kneipe nach Favetti. Ja, er hatte gerufen wie immer. Man hatte beobachtet, daß er umkehrte und, vom Hunde begleitet, wieder den Weg nach Sils einschlug. Es blieb also nichts übrig, als zurückzufahren.

Sie stiegen einen Hügel hinauf. Der Wind pfiff ihnen ins Gesicht, schlug ihnen die Schneeflocken in die Augen. „Ist das alles um Ihren Bruder, den verschollenen Gian?“ rief Hemmsteet einmal. Und Anna rief zurück: „Ja ... alles um den Toten.“ „Wissen Sie genau, daß er tot ist?“ fragte Hemmsteet nach einer Weile. Er mußte lange auf Antwort warten. Nein, ganz genau wußte es Anna nicht. Sie hatte nur in zehn Jahren, in über viertausend Tagen und Nächten allmählich die Gewißheit bekommen, daß es unrecht war, drei Leben hinter einem herzuschicken. Dann war es schon besser, den einen endgültig aufzugeben, einerlei, ob er am Leben oder im Tode war.

Sie machten gerade hinter einem winzigen Hügel halt. Sie wischten sich den Schnee von den starren Gesichtern. Sie atmeten in der Windstille ein wenig auf. Immer noch fiel der Schnee eilig. Wenn man Licht machte, sah man ihn geradezu in Bündeln durch den Lichtkegel stürzen. Zwischen Anna Favettis Gesicht und dem Hemmsteets fiel es wie ein Schleier.

Hemmsteet versuchte weiter. Aller Wahrscheinlichkeit nach müsse Gian tot sein. Aber er scheue sich, jemanden zum Tode zu verurteilen, der vielleicht dennoch unter den Lebenden weilte.

Anna sah ihren Begleiter prüfend an. „Schließlich“, sagte sie ruhig, „muß man jeden begraben, der nicht wiederkommt.“

Ob es an jedem Tag so ging wie an diesem? forschte Hemmsteet.

Nein, es gab ruhige Zeiten und unsichere. Diese Woche, in der der Italiener aufgetaucht war, in der er sich des jungen Gian bemächtigte, in der er mit ihm fortging, war die schlimmste. Auch das Befinden des Vaters wechselte sehr. In diesen langen Nächten wurde sein Herz immer schwach. Er fiel leicht in Ohnmacht. Dreimal hatte sie ihn schon ohne Besinnung im Schnee gefunden. Jedesmal hatte sie das Gefühl, daß er den Tod gesucht hatte.

Hemmsteet wollte fragen, warum man denn den Alten nicht einfach gehen ließ. Aber Anna beantwortete die ungefragte Frage: „Schließlich ist sein Leben ja doch schön. Immer sieht er den Jungen wiederkommen, und es bleibt ihm die Gewißheit, daß er ihn eines Tages in den Armen halten wird.“

Gleich danach brachen sie wieder auf. Sie sprachen nichts mehr. Sie waren beide bei dem alten Favetti, der im Schneesturm aufgebrochen war, seinen Sohn zu suchen. Hemmsteet glaubte mit Sicherheit zu wissen, daß der Alte diesmal den Tod gefunden hatte.

Aber er täuschte sich. Als sie nach drei Stunden vergeblicher Suche in die Tannenallee zum Hause einbogen, leuchteten alle Fenster. Der Hund Lio raste ihnen bellend entgegen, und aus dem Hause trat Favetti, frisch und so heiter, wie ihn Hemmsteet noch nicht gesehen hatte. Es war wie nach einem Anfall.

Licht im dunklen Haus

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