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Gegen Ende des Jahres 1923 richtete sich die Aufmerksamkeit der Familie v. Kranebitter auf die jüngste der Baronessen Schell, auf die kleine, wegen ihres langen, blonden Haares berühmte Irma. Egbert dachte natürlich die ganze Zeit, dass allein seine Aufmerksamkeit erregt sei, dass er allein den Gedanken an eine Verheiratung mit allen Fürs und Widers erwäge. In Wirklichkeit hatten zunächst Mutter und Tante in ausführlichen Gesprächen der langen Vormittage jede Einzelheit hin und her überlegt. Es war dann schliesslich die alte Baronin Schell, eine fortwährend hüstelnde, Bonbon lutschende, asthmatische Dame („offen gesagt,“ meinte Tante Lisa Holl, „ein scheussliches, altes Weib“) hinzugezogen worden, und man hatte sich schliesslich nach langem Hin und Her auf die Formel geeinigt, dass man „den Dingen ihren Lauf lassen wolle“. Das bedeutete, man würde auf jede Weise eine Verbindung fördern, an der unter den gegebenen Umständen nichts auszusetzen war, und es kam wirklich in dem Kranebitterschen Haushalt zu häufigen Hinweisen auf das leichtere Los des Ehemannes und die Vorzüge der Baronesse Irma.

Egbert konnte diese Vorzüge eigentlich nicht entdecken. Gewiss: das königinblonde Haar war sehr stark und übermässig lang. Man hatte sogar einmal auf einem Jourfix der Irma die Haare gelöst, obwohl sie sich heftig dagegen sträubte. Da konnte man sehen, dass die Haare wirklich fast bis zu den Hacken reichten und genügend dicht waren, um die kleine Person ganz einzuhüllen. Egbert hatte damals eher Mitleid als Bewunderung empfunden.

Ja und sonst? Sehr reizvoll war eigentlich nur noch ihr zartes, dünnes Stimmchen. Sie sprach immer ganz leise und so hoch, dass man stets fürchten musste, die nächsten Töne würden abbrechen. Mancher hätte wohl noch die Hände und Füsse bewundert, die, obwohl ein wenig leblos, eine ungemein feine Gliederung zeigten. Gesicht und Körper waren klein und unbesonders. Die Haut blieb meist grau und schlaff. Kurz, sie war eines jener Zuchtprodukte, die am Ende der Zuchtreihe stehn, an denen aber das Gesamtresultat nicht mehr stimmt. Diese Art Mensch ist fast immer zu grosser, persönlicher Leistung oder zu frühzeitigem Untergang bestimmt. Rassemässig ist keine Leistung mehr möglich.

Etwas gab es übrigens doch, wodurch Egbert angezogen wurde. Das war eine melancholische Heiterkeit, ein lächelndes und leichtes Sichfügen, das sich wohltätig gegen alle die verschrobene und verschluckte Bitterkeit abhob, die man sonst naturgemäss unter den Emigranten fand.

Es schien ihm doch sehr erregend, dass da jemand war, der auch die unangenehmsten Dinge als gegeben ansah und aus unscheinbaren Vorkommnissen Freuden zog, ohne sofort Jetziges mit Früherem zu vergleichen.

Damit begann seine Zuneigung, und damit war alles andre für ihn gegeben. Das war natürlich nichts Aufregendes, nichts Gigantisches, ja nicht einmal etwas Beunruhigendes oder Zwangsmässiges. Aber er hatte auch nie geglaubt, dass die Liebe Ähnlichkeit habe mit den Gebilden der Dichter oder mit dem Gerede der Menschen. Das würde ja wohl ebenso ein Schwindel sein, wie alles, was er auf dem Wege von der Kindheit zur Mannbarkeit in die Hände bekommen hatte, anders war, kühler, einfacher, zuweilen auch tiefer, als man es ihm gesagt hatte. Jedenfalls vollzogen sich Verlobung, Brautzeit und die ersten Ehemonate, was die beiden Nächstbeteiligten betraf, nahezu ohne Phrase und ohne jede überflüssige Tüftelei. Es war natürlich merkwürdig, dass nun in der Kammer Egberts, am Ende seines Diwans, ein Bett stand, in dem „sehr viel Haar und ein bisschen Frau“ lagen, es war komisch, dass zuweilen in der Nacht sich ein kleines warmes Körperchen an den Riesenkerl schmiegte, und es war für Egbert auch manchmal beunruhigend, wenn er inmitten seiner nächtlichen Grübeleien plötzlich einen prüfenden Blick auf sein Gesicht gerichtet fühlte oder an dem unterdrückten Husten merkte, dass er einmal wieder das Zimmer bis zur Unerträglichkeit vollgedampft hatte. Es konnte dann natürlich vorkommen, dass er ein wenig ungeduldig wurde, das Licht schnell auslöschte oder das Fenster heftig aufriss und sich einzureden versuchte, dass es eben doch ein Unsinn sei, unter solchen Umständen zu heiraten, ja, dass er es besser gehabt habe, als er in seiner Kammer noch unumschränkt herrschte. Aber dann musste er sich doch wieder über das Lächeln seiner Frau freuen, wenn sie ihn von unten anblinzte, oder über ein Streicheln, das zaghaft an den Rippen anfing, um ihm blitzgeschwind über Gesicht und Wuschelkopf zu fahren.

Gesprochen wurde von den Eheleuten sehr wenig, und ihre Beziehungen hätten sie untereinander gar nicht zu benennen vermocht. Manchmal lachte Irma, wenn sie allein war, lachte leise und herzlich darüber, dass man Egbert und sie nun allgemein als Mann und Frau ansah, ansprach, ja respektierte. Wie merkwürdig: Nach so viel „vorläufig“, „einstweilen“, und „als noch“ sollte das Gegenwärtige schon etwas bedeuten!

Das Leben ging so seinen Gang. Das Frühjahr 1924 brachte zu der unerträglichen Kälte, die weit bis in den April hinein dauerte, auch noch die Angst um v. Kranebitters Stellung. Es fanden überall sehr weitgehende Entlassungen statt, und am fünfzehnten jeden Monats fassen die drei Frauen angstvoll in ihren engen Zimmern umher und warteten auf den heimkehrenden Egbert. Aber der kam immer mit derselben gleichmütigen Undurchdringlichkeit (die nun mal zu den Berufsmännern gehört), hängte seinen Hut an den Haken, streifte sorgsam die Handschuhe ab, zog den Mantel langsam aus und setzte sich sofort zu Tisch. Manchmal konnte es dann die alte Frau v. Kranebitter nicht mehr aushalten und fragte, ob alles in Ordnung sei. Meist aber warteten alle drei geduldig, bis Egbert mit der Sprache herausrückte.

Nun, man kam um alle diese Klippen herum. Merkwürdigerweise wurde Kranebitter sogar in eine bessere Stellung versetzt, eine Tatsache, die niemanden mehr erstaunte als ihn selbst. Unerfindlich, wie man darauf kam! Er hatte jetzt eine Art Repräsentationsposten inne, zu dem ihn wohl sein Name, aber nicht seine Kleidung und auch nicht sein etwas stöckriges Benehmen befähigte.

Er fühlte sich zuerst sehr unbehaglich dabei, war ein paar Tage zu Hause grenzenlos gereizt und unliebenswürdig und gewöhnte sich dann. Er machte seine Sache sogar vorzüglich. Aber er wusste das nicht. Wer hätte ihm das auch wohl sagen sollen? Die Direktoren hüteten sich, ihn zu loben, weil sie glaubten, sie würden die ausgezeichnete Kraft dann nicht so billig behalten können, und die Frauen zu Hause verstanden und wussten von seiner Tätigkeit so viel wie ein Deutscher von Politik.

In den Oktober 1924 fiel v. Kranebitters Reise nach Zürich. Das kam ganz plötzlich. Von heute auf morgen musste er reisen. Pass und Visum waren durch die Empfehlung des Werkes in einem Tage besorgt worden, und Kranebitter fuhr abends mit einer Aktentasche der Direktion, in einem binnen vierundzwanzig Stunden auf Geschäftsunkosten gefertigten Anzug und Mantel, mit einem bis ins Kleinste durchgesprochenen Auftrag, ab.

Wie er so am Fenster des Zweiterklasseabteils lehnte, den schwarzen, kleinen Hut etwas schief in die Stirn gedrückt, den Kragen so hoch geschlagen, dass gerade noch die ewige Zigarette hinausschauen konnte, ähnelte er, wie Frau v. Kranebitter gerührt feststellte, ganz genau seinem seligen Vater. Tante Lisa, die gleichfalls voll Stolz auf den „fixen Jungen“ sah, blieb auch in diesem Augenblick dabei, dass das lange schmale Gesicht der Hollschen Familie zuzuschreiben sei, während die kleine Irma, die heute zum ersten Male ein kleines, schwarzes Seidenhütchen aufhatte, um das sich einige sparsame Reiherfedern in bizarren Linien sträubten, ihr Gesichtchen angestrengt zu ihrem Mann aufgeschlagen hielt und ihn in der seltsamen Mischung aus Frage und Bereitschaft, aus Lächeln und Fremdheit anschaute, mit der sie immer bei ihm war.

Seltsamerweise stieg Egbert, als die Schaffner bereits mit den Türen zu klappen begannen, noch aus dem Wagen, hob Irma hoch und hielt sie lange und sanft an seiner Brust. Das war bei diesem Menschen, der jede Zärtlichkeit in Gegenwart Dritter verabscheute, ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Tante Lisa wandte sich auch errötend ab und vergass beinahe zu winken. Ihr Taschentuch begann erst zu flattern, als der Zug sich um die erste Ecke krümmte.

Die drei gingen dann zu Fuss nach Hause. Erstens sparte man Geld. Dann aber war dieser Abend von sommerlicher Milde. Bei Josty sassen die Menschen dicht gedrängt im Freien, und in der Tiergartenstrasse schnurrten die offenen Autos über den blanken Asphalt, klapperten die alten Spazierfahrtdroschken, schob sich eine Schlange von Menschen in die Alleen, die nach warmem Nebel und erstem Laubfall rochen.

Irma fühlte sich zum ersten Male in ihrem Leben glücklich. So war also doch mehr an der Liebe dran, als sie vermutet hatte! Wie warm konnte ein Herz klopfen! „Nun fährt er schon“, murmelten die beiden Alten andächtig und nahmen Irma in die Mitte.

Zu Hause zog sich Irma sofort zurück. Sie legte sich aus Spass heute nicht in ihr Bett, sondern richtete mühsam Egberts Lager her, legte sich ihr Kissen noch auf Egberts Kissen und lag so, den Kopf sehr hoch gestützt, eine ganze Weile im Hellen. Sie konnte beim besten Willen nicht schlafen. Es war so wehmütig allein und doch wieder auch schön. Es fehlte etwas, aber es war auch etwas da, was sonst fehlte. Sie konnte so richtig vor sich hinlieben, ohne Gefahr, den grossen Mann bei seinem Lesen, Rauchen oder Starren zu stören. Als sie gegen zwölf noch immer nicht schlafen konnte, wurde es ihr ungemütlich. Es war auch so heiss. Schliesslich kroch sie beschämt in ihr Bett zurück, löschte das Licht und steckte sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst selten, und es schmeckte ihr nie. Aber es schien ihr nun schön zu sein, auf den Glutkern zu starren, und ausserdem verbreitete sich bald jene Luft im Zimmer, die ihr die Schlafluft zu sein schien.

v. Kranebitter, für den diese Reise die erste Unterbrechung seines fast fünfjährigen Berliner Aufenthaltes war, verbrachte die Reisenacht ausserordentlich erregt und unruhig. Gut nur, dass er seinen Platz an der Gangtür hatte. Denn sonst hätte es bestimmt einige heftige Proteste gesetzt, die sich bereits bald hinter Wittenberg in einem scharfen Knurren seines Gegenübers ankündigten.

Egbert brachte daraufhin die meiste Zeit stehend am Gangfenster zu. Es tat ihm unbeschreiblich wohl, dass da Bäume waren und Gärten, Wälder und ein Fluss, Häuser, einzeln und in kleinen Rudeln. Gott ja, dachte er, es gibt eine Welt! Es standen Tränen in seinen Augen. Der Mond kam mit grossem Nebelhof über einem unbekannten, schwarzen Wald herauf. Die Landschaft blieb eine Weile zwischen rotem und silbernem Licht in undurchsichtiger Dämmerung. Dann schoben sich die Schatten unter dem zunehmenden Mondlicht zusammen. Es gab den milden Gegensatz zwischen Dunkel und Licht, in dem die Farben verschwimmen und die Töne besonders gut durchdringen. Einmal hörte Kranebitter ein Pferd, das dicht an der Eisenbahnschranke stand, durch das Klirren und Stampfen der Räder schnauben.

Das erschütterte ihn ganz unmittelbar. Nicht – wie man denken sollte – als Jugenderinnerung, sondern vielmehr, weil da gar nicht zusammengehörige Sachen auf ihn zustiessen, Landschaft, Mond und Pferd, das alles stillstand, und Egbert, Zug und Wunsch, das alles davonlief. So – meinte es ganz jungenhaft in ihm – müsste das Leben sein. Gleichzeitig: Zusammenstoss ganz fremder Dinge und Vorbeistreifen an dem stets ganz anderen. Und dann (aber das blieb natürlich ganz innen bei ihm, und er hätte es, wie immer, nicht benennen können) müsste, da das Fremde ja heransauste mit dem Willen, den Menschen zu zersprengen, müsste eine Kraft da sein, Fremdes und Eigenes (wir hätten gesagt: Welt und ich) zusammenzufügen. Woher diese Kraft kommen sollte, hätte er nicht sagen können. Kraft im Menschen selbst, das hatte er nicht erfahren und wusste nichts davon.

Es kam jedenfalls in dieser Nacht der einfache Gedanke nicht mehr zur Ruhe, dass er eiligst „etwas erleben“ müsse, gleichgültig was. Er dachte dabei gar nicht an seine Frau. Im Gegenteil: ihm als „verheiratetem Manne“ lag derlei traditionsgemäss sehr fern. Einige seiner Kameraden bekannten sich zwar zu „modernen Ideen“ und lebten danach, aber die ganze Betrügerei, das Heimlichtun, das er da immer sich entwickeln sah, war nichts für Egbert. Eine Frau? Das war nun Irma. Punktum!

Gegen vier Uhr schlief er für eine halbe Stunde ein. Aber die Welt, um Gottes Willen die Welt! dachte er, als er bei einer Weiche aufwachte. „Die Welt,“ murmelte er und stampfte wieder im Gang auf und ab, „die Welt wartet nicht auf dich.“ Der Mond draussen war im Untergehen. Es wurde noch einmal dunkel zwischen Mond und Sonne.

Der Eine und der Andere

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