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Drittes kapitel

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Nach Süden lief die Parkmauer von Schloß Duderstedt neben der Chaussee her und verlor sich schließlich in den Wald. Sie hörte auf, weil Park und Wald ineinandergingen. Bald kam dann Preußen, und das Besitztum der Tiedebülls fing an. Man konnte es an der Ausholzung erkennen, die in Duderstedt nach strengen Grundsätzen vorgenommen wurde, während die Tiedebülls sich von jeher nach ihren Spielschulden richten mußten.

Nach Osten aber ging die Mauer quer über die Felder, fügte sich den Bodenwellen genau an, umschloß den kleinen Schloßteich, den sogenannten Duderstedter See, und bog dann zum Herrenhaus zurück.

Mallon richtete sich an der Chausseeseite ein. Maschine, Wasserwagen und Aufreißer ließ er auf der Straße, den Wohnwagen aber zog er dicht an die Mauer, dorthin, wo eine Riesenkiefer sich herüberlehnte, mit den untersten Ästen gerade das Wagendach streifte und mit spiralenartig übereinanderliegenden Zweigen genügenden Regenschutz bot.

Mallon kletterte zur Orientierung gleich hinauf und saß wie ein Specht am schwankenden Stamm. Von oben sah man über Bäume und Büsche weg, über einen Rasenplatz das Herrenhaus. Es war das gewöhnliche Gutshaus, ein langgestreckter, an den Seiten ebenerdiger Bau, über dessen Mitte sich ein ziemlich niedriges Dachgeschoß erhob. Mallon kannte das aus seiner Heimat genau. Bestimmt war es hier dasselbe: in der Mitte das Speisezimmer, das Spielzimmer dann, Herrenzimmer und Schlafzimmer des Herrn auf der einen Seite, Boudoir, Teesalon, Schlafzimmer der Frau auf der andern Seite. Oben drüber die Kinder und die Gäste, links davon (natürlich, da stand es) ein Dienerhaus mit Leuteküche. Nur daß die Mutter Mallons hier nicht Leuteköchin war und vor allem nicht ehemalige Herrschaftsköchin mit dem unehelichen Kind.

Nein, Gott sei Dank, er war nicht in Dittersberg. Hier gab es nicht den Gutspächter und nicht den Inspektor, den Lehrer nicht und nicht den Pfarrer, um die er immer trotzig und aufmerksam herumschlich, denen er auswich und die er nie grüßte, sooft ihn die Mutter das Hutabnehmen lehren wollte. Sollte sie ihm erst sagen, wer von den vieren sein Vater war. Dann wollte er die drei andern gern grüßen. Mallon schwenkte seufzend seine Mütze gegen Schloß Duderstedt. Er hatte es nie erfahren.

Im Dunkelwerden machte sich ein Wind auf, schob den Baum langsam hin und her. Die Lichter von Himmelang schienen herüber. Auch im Schloß wurden drei Fenster hell, im Boudoir, im Herrenzimmer und im Kinderzimmer. Das Kinderlicht löschte aus, und gleich darauf tauchte eine Stallaterne auf, ging immer dicht über dem Boden hin, wurde von den Gebüschen zuweilen verdunkelt, kam wieder zum Vorschein und glitt gedoppelt über die blanke Dunkelheit des Sees. Vom Schloß her rief eine dunkle, harte Stimme, eine helle, zirpende antwortete. Hunde bellten laut und lustig.

Mallon wurde abenteuersüchtig. Am ersten Tage — das war die Erfahrung seines Wanderlebens — mußte man die seltsamen Dinge beginnen. Später stellten sie sich als gewöhnlich heraus, oder sie waren nicht zu bekommen.

Er stieg schnell ab, glitt das letzte Stück am Stamm hinunter in den Park. Tastete sich in der Dunkelheit des Gebüsches zurecht, das nach faulendem Laub und nach Spinnweben roch, fand den Weg und ging eilig, im großen Bogen das Herrenhaus meidend, zum See hinunter. Die Hunde rasten ihm entgegen, sprangen an ihm hoch, wollten ihn vielleicht beißen. Aber weil er ganz ruhig stand, sie nicht abwehrte und nicht anlockte, wurde es ihnen langweilig. Das Boot kam näher. Ein Pfiff und der Ruf der zirpenden Stimme. Die Hunde stürzten sich kopfüber ins Wasser, schwammen keuchend die paar Meter, wurden ins Boot gezogen.

Gleich darauf landete Eva, Baronesse Camphausen, sprang, mit einer Hand auf das Ruder gestützt, in der andern Hand die Laterne schwingend, ans Ufer und erschrak, als sie feststellen mußte, daß der Mann am Ufer weder der Diener war, noch der Gärtner, noch ein Knecht.

„Warum bellen die Hunde nicht?“ rief sie ärgerlich und sah den Fremden vorwurfsvoll an.

Mallon fand sie reizend. Solche Chinesenaugen, schräg gestellt über dicken Backenknochen, mochte er gern. Sicher hatte sie Sommersprossen. Auch das liebte er.

„Hunde mögen mich eigentlich“, sagte er stolz.

Die Baronesse ging nicht darauf ein. Ihr war es etwas ängstlich zumute und trotzig aus Ängstlichkeit. Sonst bewachte man doch jeden ihrer Schritte. Sonst konnten Onkel Tiede und die Mama nicht genug betonen, daß sie als Achtzehnjährige vielen Gefahren ausgesetzt sei und jedenfalls die stundenlangen Märsche ins Luch und die Kahnfahrten auf der Rühe wegen der Vagabunden und Schiffer aufhören müßten. Und hier stand sie nun verlassen, kaum fünfhundert Meter vom Schloß. Kein Mensch kümmerte sich um sie, und Hektor und Stenz, die dummen Hunde, umschwänzelten den Fremden.

„Sie sind doch, bitte, kein Bummler“, sagte Eva schließlich und zog die Schultern zaghaft hoch.

„Doch, ich bummle hier“, antwortete Mallon, „ich bin heute angekommen. Ich wollte mich ein wenig umsehen.“ Er legte die Hände auf die Hüften und lachte. Eva Camphausen seufzte erleichtert.

„Bummler“, sagte sie, „nannten Ingo und ich die Pennbrüder, die in den Park stiegen, um zu übernachten. Meist aber riechen die schrecklich nach Schnaps ... Na und überhaupt.“

Mallon berichtete nun höflich, daß er der Führer der Dampfwalze sei, die das Fräulein sicher vor zwei Stunden habe pfeifen hören. Dampfwalze? Nein, sie hatte nichts gehört. Aber man konnte schon eine ganze Zeit mit dem Auto nicht mehr nach Himmelang. Man mußte reiten oder den Krümperwagen nehmen, wenn was zu besorgen war. Man konnte nun auch nicht mehr nach Gerstedt „zu meinem Onkel Tiedebüll — aber eigentlich ist es nur ein entfernter Onkel —“, überall aufgehackte Chaussee. Nein, sie hatte noch keine Dampfwalze gesehen. Nun wurde also die Landstraße gewalzt. Einen Wohnwagen? Nein, auch keinen Wohnwagen. Oder doch einen mit Zigeunern, „wo zu jedem Fenster die gestohlenen Kinder herausgucken und die bunten Lumpen“.

Sie nahm die Laterne auf und leuchtete Mallon ins Gesicht. Er gefiel ihr.

„Ein bißchen klein sind Sie“, sagte sie mißbilligend.

Der Maschinist konnte es nicht leugnen. Ein Familienfehler! Seine Mutter war auch so zierlich. Er zeigte knapp bis zu Evas Schultern.

„Es lag nicht am Essen“, entschuldigte er sich, „meine Mutter ist Leuteköchin. Da gibt es immer genug und mehr als genug. Aber mein Sohn ist auch so klein. Vier Jahre und noch winzig.“

Die Baronesse lachte: „Sie sind verheiratet?“

Mallon wurde rot. Was hatte er da erzählt.

„Verheiratet nicht gerade“, gestand er verlegen.

Nun war das Rotwerden an Eva. Aber sie unterdrückte es tapfer.

„Ach so ...“, sagte sie, „ja Gott, ja, ein natürliches Kind.“

„Riesig natürlich“, lachte Mallon erleichtert, „riesig natürlich. Nicht mal von seiner Mutter zu beeinflussen. Selbständig, daß wir uns alle ein Beispiel nehmen könnten.“

Eva gab das Gespräch auf. Sie waren auch schon nahe am Schloß.

„Links das Licht ist das Boudoir meiner Mutter, rechts das Herrenzimmer. Eigentlich steht es leer, jetzt wohnt manchmal Herr von Tiedebüll drin.“

Sie bog scharf ab, sie begleitete den Herrn Maschinisten noch ein Stück. Mallon nahm die Laterne. Die Hunde trabten voran. Man betrat den unbewohnten Teil des Parkes, den „Indianerteil oder die Kinderreservate“, wie Tiedebüll sie nannte. Dahin kam die Baronin nie. Rechts mußten die Wigwams sein, die Eva mit ihrem Bruder Ingo gebaut hatte, und mehr an der Mauer die feindlichen des Vetters Felix von Specht.

Mallon leuchtete mit der Laterne in die Büsche. Man sah eine kleine Hütte aus Latten, mit draufgelegten Rasenstücken. Eva kniete sich davor, riß die morsche Tür auf, versuchte sich hineinzuzwängen. Aber sie blieb mit den Schultern stecken. Sie ruckte und stemmte sich. Aber sie kam nicht vorwärts.

„Es geht nicht“, sagte sie leise und stand auf.

Sie verabschiedete sich von Mallon. Sie versprach, bald zu kommen. Maschinen machten ihr Spaß. Den Dynamo zum Beispiel liebte sie, der die Wasserpumpe von Duderstedt trieb und das elektrische Licht erzeugte. Auch ein Radio hatte sie, einen Dreiröhrenapparat.

Während Mallon schnell bis zur Mauer kam und in seinen Wagen kletterte, ging die Baronesse langsam zurück. Mochten sie ruhig noch ein bißchen mit dem Skat warten. Merkwürdig, vor einem Jahr hatte sie noch im Wigwam gesessen. Was war das jetzt? Warum wuchs sie so schnell? Was hatte sie davon? Bis jetzt nur, daß dies und jenes zu eng wurde, daß vieles klar wurde, was ihr besser verborgen geblieben wäre, und daß alles verborgen blieb, was sie gern gewußt hätte.

Vor dem Hause zögerte sie ein bißchen. Sie schrie überlaut nach den Hunden, spielte lärmend mit ihnen, während ihr Gesicht immer trauriger wurde, ging langsam und pfeifend über den Sandsteinboden des Flurs und klopfte am Boudoir.

Die Baronin hatte schon die Karten in der Hand. Sie sah ihre Tochter forschend an und schüttelte den Kopf. Die langen Ohrringe, die immer in zitternder Bewegung blieben, selbst wenn die Baronin ganz still saß — Tiedebüll nannte sie das Nervometer —, die Ohrringe flogen um ihren Kopf.

„Ich war auf dem See“, sagte Eva zuvorkommend und kniff die Augen zusammen.

Immer noch las Tiedebüll an Seite eins der Kreuz-Zeitung!

„Merkwürdiges Jahr“, brummte er jetzt, schob das kleine, hochmütige Gesicht über die Zeitung weg und nahm das Monokel ab, „die Spinnweben auf dem See, Altweibersommer im Frühjahr ...“

Alle drei lachten jetzt, die Baronin glucksend und dunkel, Eva überhell und glatt, Tiedebüll spitz und stöckerig. Danach putzte er sein Einglas und fuhr mit einem Finger den Scheitel entlang, der seit Jahrzehnten in der Mitte gezogen, sich nun am Kopfende zu einem Rondell erweiterte.

Dann konnte das Spiel beginnen. Die Pechsträhne lag an diesem Tage bei der Baronin. Sie spielte auch sehr unaufmerksam. Waren ihre Augenlider wirklich rot, oder irrte sich Eva? Jedenfalls machte Tiedebüll überhaupt keine Pausen zwischen den Zigaretten. Frau von Camphausen rauchte gar nicht. Kopfweh?

Die Baronin lächelte dankbar und spielte falsch aus. Schellenunter war doch im Spiel! Natürlich wußte sie es; sie hatte aber eine besondere Taktik. Herrn von Tiedebüll geriet der Rauch gleichzeitig in die Kehle und ins monokelfreie Auge. Er hustete und weinte, daß er die Karten aus der Hand legen mußte. Er legte sie versehentlich offen auf den Tisch. Eva schrie empört: Das Spiel hätte sie gewinnen müssen.

„Nein, man kann heute nicht mit euch spielen“, seufzte sie, machte ein Fenster auf und klingelte nach dem Abendgrog. Der Diener Louis brachte das Tablett mit den zwei Gläsern, der Rumflasche, dem Zucker, der Zitrone und dem elektrischen Kocher. Er empfahl sich. Sein Tag war zu Ende.

Eva kämmte das glatte, seidenzarte Haar ganz zurück. Es lag dicht dem gutgerundeten Schädel an. Dann saß sie noch eine Weile und horchte auf das Gequarre der Frösche, das Summen des Wassers im Kocher und das Knistern des Zigarettenpapiers.

„Bald trinkt ihr wieder Weißwein“, sagte sie traurig, „dann ist der Winter vorbei.“

Sie tippte Herrn von Tiedebüll leicht auf die Schulter, legte der Mutter die Hand auf die Stirn, küßte sie überraschenderweise auf beide Schläfen und ging hinaus. Sie wollte eigentlich noch eine Fratze zur Tür hinein schneiden, aber nachdem das Gesicht schon in clownsmäßige Falten gelegt war, hatte sie keine Lust mehr. Sie drehte sich um, ging mit kleinen, unsicheren Schritten schnell durch den kalten Flur, in dem es noch nach Winter roch, sprang die Treppen hinauf und konnte erst oben wieder das Gesicht vernünftig bekommen.

Tiedebüll und die Baronin tranken schweigend den Grog. Die Frösche ärgerten sie. Nun bellten auch noch die Hunde wie rasend. Mutter und Tochter riefen gleichzeitig aus den Fenstern nach ihnen, mußten lachen, bogen sich hinaus und winkten einander zu. Tiedebüll zog heftig den Vorhang vor.

„Maria“, sagte er ernst und fragend.

Aber Maria Camphausen schüttelte den Kopf. Sie legte ihre kleine Hand auf den Arm des Freundes, eine Hand, die schon älter war als ihre Trägerin, greisenhaft fast und ein wenig verweichlicht.

„Sicher ist es nur die gewöhnliche Albernheit des Frühlings. Man weiß nicht, woran man ist. Halb lebt man draußen, halb im Zimmer.“

Tiedebüll antwortete nicht. Maria Camphausen machte eine lange Pause.

„Die einen fühlen sich im Herbst alt“, schloß sie dann die Unterhaltung, „und die andern bekommen im Frühling Sterbeangst. Einmal im Jahr ist jede Frau verrückt, weil sie älter wird.“

Herr von Tiedebüll schüttelte ärgerlich den Kopf. Er fand solche allgemeinen Betrachtungen überflüssig.

„Unsinn“, sagte er und näherte sein Gesicht lächelnd dem traurigen Gesicht der Baronin.

Frühling in Duderstedt

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