Читать книгу Cloverlane Farm - Waltraud Batz - Страница 6
Tag 2
ОглавлениеAm nächsten Morgen war Hannah früh wach. Die erste Nacht in einem fremden Bett war immer seltsam. Sie kannte die Geräusche im Haus und in der Umgebung noch nicht, und meist wachte sie vor dem Wecker auf, so auch diesmal. Sie lag noch einen Moment still da und starrte an die Decke. Dann schwang sie mit einem Seufzen die Füße aus dem Bett.
Sie tappte angezogen, aber noch in Hausschuhen die Treppe hinunter und hörte schneller werdendes Pfotengetrappel und das Geräusch von Hundekrallen auf Steinboden. Der hellbraun-weiße, schlanke Hund wartete bereits am Fuß der Treppe auf Hannah und wedelte, was das Zeug hielt.
„Na du, guten Morgen, ja, ich komm ja, lass mich doch mal von der Treppe runter!“ begrüßte sie Arrow und streichelte ihn.
„Guten Morgen!“ sagte Colin aus der Tür neben der zum Kaminzimmer.
„Morgen!“ erwiderte Hannah und folgte dem Hund, der hinter Colin verschwunden war.
Als Hannah in den Raum trat, ging sie wie ferngesteuert zum Fenster. „Das ist wunderschön!“ sagte sie ein wenig zu laut.
„Wunderschön? Was? Die Gardinen?“ fragte es hinter ihr.
„Was?“ Hannah drehte sich um, in der Tür zur angrenzenden Küche stand Mary in einer hellblau-weiß karierten Schürze und hatte zwei Tomaten in der Hand.
„Nein, die Aussicht!“
„Ja“, sagte Mary nur und verschwand wieder in der Küche. Zwei Sekunden später erschien sie erneut im Türspalt. „Möchtest du Bacon und Rühreier?“
„Ja, gerne“, antwortete Hannah und schaute wieder aus dem Fenster. Man sah das Meer, einige Klippen und ein Stück Strand. Es war bewölkt und windig.
Sie setzte sich auf den ihr zugewiesenen Platz und Arrow legte ihr sofort seine Schnauze auf den Oberschenkel.
„Arrow, raus!“ herrschte Mary den Hund an, als sie einen Teller voller Baconstreifen und eine kleine Schüssel Rührei auf den Tisch stellte.
Die ersten Minuten des Frühstücks waren angespannt und geprägt von Höflichkeiten. Das Frühstück an sich war köstlich, neben den warmen Sachen gab es auch diverse, nach Marys Aussage selbstgemachte Marmeladen, sowie knusprig aussehendes Brot und eine kleine Auswahl Wurst und Käse. Mary schlitzte mit Hingabe an einer gebratenen, glibberigen Tomate herum.
„Reitest du zu Hause auch?“ fragte Colin in die Stille hinein.
„Ja, ich hatte fünfzehn Jahre lang ein eigenes Pferd, aber er musste vor drei Jahren eingeschläfert werden.“
„Oh, tut mir leid.“
„Schon gut.“
„Und wo kommst du her aus Deutschland?“ fragte Mary beiläufig.
„Aus der Nähe von Frankfurt.“
„Wo ist das? An der Küste?“ fragte Mary. Hannah wusste nicht, ob Mary ernsthaft an einer Antwort interessiert war oder ob sie nur aus reiner Höflichkeit gefragt hatte.
„Nein, es ist eher in der Mitte von Deutschland. Also nicht am Meer.“
Mary nickte. „Möchtest du noch etwas Tee?“
Hannah konnte die Konsequenzen einer Ablehnung nicht einschätzen und hielt Mary ihre Tasse hin.
„Was reitest du?“ fragte Colin weiter und nahm sich eine weitere Scheibe Brot, während Hannah ihre nun sehr volle Teetasse und das passend geblümte Untertellerchen zurückbalancierte.
„Dressur und bisschen raus. Springen ist nicht so meins.“
„Und wie kommst du dann zu einem Cross-Country-Kurs hier?“ fragte Colin und sah Hannah an.
„Das ... ist eine andere Geschichte.“ Hannah nahm sich noch zwei Streifen Bacon, die die Tischdecke volltropften.
„Warum? Dafür kommen die Leute von weit her dorthin“, sagte Mary laut und fügte „Warum auch immer ...“ sehr leise hinzu.
„Ich hatte noch so viel Urlaub übrig dieses Jahr und mein Chef hat mich quasi gezwungen, den jetzt zu nehmen. Und Nora, meine Freundin oder eher Bekannte aus dem Stall hat mich vor drei Tagen überredet, diesen Reiturlaub zu machen. Das war alles ziemlich kurzfristig. Mir hat sie es als Ausreiturlaub verkauft. Dass sie uns zu einem Springkurs angemeldet hat, hat sie mir verschwiegen“, erklärte Hannah wahrheitsgemäß. „Sie wollte wohl nicht alleine fahren.“
„Oh“, sagte Mary nur und aß weiter.
„Vielleicht wird es ja trotzdem ganz interessant für dich“, sagte Colin nach einigen Minuten Stille. „Sie haben eine eigene Springstrecke.“
„Du kannst ja auch mit Colin mal ausreiten“, fügte Mary entschlossen hinzu, stand auf und erklärte damit das Frühstück inoffiziell für beendet. Hannahs Rückfrage „Ach, ihr habt auch Pferde?“ ging im allgemeinen Stühlerücken unter. Sie half beim Abräumen, durfte aber offensichtlich die Küche nicht betreten. Alles, was sie in die Küche bringen wollte, wurde ihr von Mary oder Colin an der Küchentür abgenommen.
„Ach ... brauchst du ein Lunchpaket?“ fragte Mary, als sie Hannah die Zuckerdose aus der Hand nahm.
„Ich weiß nicht. Angeblich ist ein kleines Mittagessen beim Reitkurs dabei.“
Colin schob sich an Hannah vorbei zur Küchentür und machte ein abwertendes Geräusch.
„Na, dann viel Glück“, sagte Mary und gab die Zuckerdose an Colin weiter, der sie in die Küche mitnahm. „Aber Abendessen möchtest du? Oder gehst du wieder mit deiner Freundin essen?“
„Abendessen wäre echt prima, ja“, sagte Hannah und freute sich schon jetzt darauf.
„Wie meinst du das? Und wie soll ich jetzt zu euch kommen?“ fragte Hannah ins Telefon. Sie saß bereits in Reitkleidung auf ihrem Bett und legte die Stirn in Falten. Nora blökte ihr sehr abgehackt etwas ins Ohr von wegen zugeparkt und dass Hannah leider laufen müsse, es sei ja nicht so weit. Na danke auch.
Sie packte ihre Sachen zusammen und zog unten im Flur ihre Reitschuhe an. Sie bekam kaum die Schnürsenkel zu, weil Arrow jede Chance nutzte, ihr quer durchs Gesicht zu lecken.
„Kommt deine Freundin dich abholen?“ fragte es hinter ihr. Mary stand in dunkelgrün-karierten Pantoffeln hinter Hannah, in den Händen ein Geschirrhandtuch und ein Glasschüsselchen.
„Nein, ich muss laufen, sie will nicht“, antwortete Hannah und konnte ihre Wut darüber nicht verbergen.
„Oh“, sagte Mary nur und trocknete weiter das Glasschälchen ab. „Dann hab trotzdem einen schönen Tag.“
Colin kam aus der Bürotür in den Flur. „Wenn sie dir das verrückte, schwarze Pferd andrehen wollen, lehn ab“, sagte er noch, bevor er im Esszimmer verschwand. Hannah nickte, atmete durch und öffnete die Haustür.
Während des zwanzigminütigen Marsches leicht bergauf zum Reitstall hätte Hannah rein theoretisch alle Zeit der Welt gehabt, sich wieder zu beruhigen, es funktionierte nur leider nicht. Es nieselte, es war kalt und sie wurde fast von einem Transporter voller Schafe überfahren. Immerhin konnte sie manchmal zwischen den Häusern und Bäumen hindurch das Meer sehen und die Luft roch würzig und frisch.
Als ihr die Beine und Füße schon wehtaten, kam sie endlich über die Hügelkuppe und das große, graue, gutshausartige Haupthaus der Reitanlage kam in Sicht.
Als Hannah die Einfahrt erreicht hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Noras Mietwagen stand an einer Stelle, an der es unmöglich war, ihn zuzuparken. Hannah ging an dem großen Gebäude vorbei, über den Hof und in Richtung Reithalle. Es war schon viel los, mehrere Leute in Reitklamotten liefen hier herum.
Im Vorraum der Reithalle fand Hannah Nora, die mit einigen anderen Reitgästen zusammenstand und lautstark und gestenreich gerade etwas erzählte.
„Guten Morgen“, sagte Hannah und stellte sich zu der Gruppe.
Viel Zeit für eine Vorstellungsrunde war nicht, denn kurze Zeit später trat eine große, sehr schlanke Frau aus dem Büro, gefolgt von zwei kleineren Frauen, einer Schwarzhaarigen und einer Brünetten. Die große Frau hatte ihre glatten, langen Haare zu einem festen Pferdeschwanz gebunden und sah dadurch sehr streng aus. „Guten Morgen, hallo, bitte mal zuhören!“ Ihre Stimme hallte durch den hohen Raum und man hörte sofort, dass sie Erfahrung hatte im Herumkommandieren von Mensch und Tier. Die Gespräche verstummten sofort und alle sahen zu ihr. Hannah zählte durch, es waren vierzehn Frauen im Alter zwischen geschätzt sechzehn und sechzig, die hier versammelt waren.
Die Frau begrüßte zunächst alle, stellte sich als Jane vor und ging die Stallregeln sowie die allgemeinen Verbote durch. Die Reitgäste durften nicht ins Haupthaus, das war den Hotel- und Restaurantgästen vorbehalten. Jane verkündete, dass man heute erst auf dem Reitplatz die gemeldete Reiterfahrung der Teilnehmer überprüfen würde und verschwand in der Bürotür.
„Gemeldete Reiterfahrung?“ fragte Hannah in Richtung Nora.
„Ja, ich hab das für uns ausgefüllt.“
„Was hast du denn gemeldet?“
„Ich hab das Höchste angekreuzt, was ging. Immerhin hattest du jahrelang ein eigenes Pferd und ich wollte auf keinen Fall zu den Anfängern!“ sagte Nora. Sie sah sich suchend um und fing ein Gespräch mit einer derjenigen an, mit denen sie vorhin schon zusammengestanden hatte. Hannah kam sich vor wie im falschen Film, hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken, da Jane mit einem Blatt Papier in der Hand wieder in den Vorraum der Reithalle zurückkam. „Babette?“ fragte sie laut und eine rötlichgelockte, junge Frau mit unzähligen Sommersprossen und sehr spitzer Nase trat vor. Jane hatte einige Rückfragen an Babette, diese antwortete, so gut sie es auf Englisch schaffte. Ihr starker französischer Akzent machte die Verständigung etwas schwierig. Babette bekam den Namen eines Pferdes genannt und wurde angewiesen, sich draußen einen Platz zu suchen, um das Pferd reitfertig zu machen.
Jane ging ihre Liste weiter durch, bis nur noch eine ältere, sehr vornehm wirkende Dame, Nora und Hannah übrig waren. Die ältere Dame bekam nach einem kurzen Gespräch mit Jane ein Pferd zugeteilt und auch Nora ging mit ihrem Pferdenamen im Kopf zügig in Richtung der vergitterten Pferdeboxen, die direkt neben der Reithalle in zwei gegenüberliegenden Reihen angeordnet waren.
„So, du kommst bitte mit, bei deinem steht der Name nicht dran“, sagte Jane zu Hannah und ging schnellen Schrittes voran.
In der Stallgasse herrschte reges Treiben, Pferde wurden aus den Boxen geführt und es gab einiges an Geschrei und Verwirrung, wer denn nun wohin sollte. Die beiden Frauen, die während der Begrüßungsrede stumm neben Jane gestanden hatten, waren jetzt umso mitteilsamer und halfen, das Chaos zu lichten.
„Das hier ist deiner, das ist Leonardo“, sagte Jane und zeigte in die Box, neben der sie stehen geblieben war. Darin befand sich der Teufel persönlich, zumindest sah man außer Zähnen und Augen nicht viel. Natürlich war das Pferd schwarz, und Hannah hoffte inständig, dass das nicht genau das Pferd war, vor dem Colin sie vorhin hatte warnen wollen. Sie nahm sich das ausgeblichene, rote Halfter vom Haken an der Box und schob die Tür ein wenig auf. Das Pferd drehte ihr seinen Hintern zu und hob drohend ein Hinterbein an. Hannah machte geistesgegenwärtig einen Schritt nach hinten und der Tritt ging ins Leere. Sie entschied, hier ihr Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Sie schob die Tür wieder zu, hängte das Halfter zurück und fing Jane gerade noch ab, als diese schon fast wieder im Büro verschwunden war.
„Jane?“
„Ja?“ Jane drehte sich zu ihr um.
„Hast du ein anderes Pferd für mich? Sorry, aber der dreht mir jetzt schon den Hintern zu und tritt nach mir, da hab ich keinen Vertrag mit.“
Jane sah Hannah einen Moment lang an. „Der tut nur so. Der ist echt ok. Geh halt mit einer Gerte rein und mach ihm klar, wer der Chef ist.“
Hannah starrte Jane an. „Ist das dein Ernst? Ich soll mit einer Gerte ein wildfremdes Pferd schlagen? Und das in der Box? Ich wollte den Tag eigentlich gerne überleben.“
Janes Augenlider zuckten.
„Gibt es Probleme?“ fragte eine ernste, tiefe Männerstimme. Hannah drehte sich erschrocken um, sie hatte den Mann nicht kommen hören oder sehen. Was daran gelegen haben mochte, dass er genauso dürr war wie Jane und sich mit seiner grau-braun-grünen Kleidung kaum vom Hintergrund abhob.
„Ah, Dad. Nein, keine Probleme, aber sie will Leonardo nicht reiten“, sagte Jane.
„Ich will lediglich mein Leben nicht aufs Spiel setzen“, korrigierte Hannah.
Der Mann verzog einen Mundwinkel zu einem sanften, halbseitigen Lächeln. Er sah Jane an, aber Hannah konnte den Blick nicht deuten. „Sie darf Geronimo reiten, das ist ok.“
Jane nickte und sagte nur kühl „Bei der Tür vorne rechts.“
Hannah murmelte einen Dank und ging sich ihr Ersatzpferd anschauen. Als sie auf dem Weg dorthin an Leonardos Box vorbeilief, trat der gegen die Boxenwand und Hannah war wirklich froh und auch stolz auf sich, dass sie nach einem anderen Pferd gefragt hatte.
Geronimo erwies sich als genaues Gegenteil von Leonardo. Der große, sehr helle Fuchswallach stand halb schlafend in seiner Box, ein Hinterbein entspannt angewinkelt und die Ohren auf Halbmast. Als Hannah die Tür aufschob und ihn freundlich begrüßte, öffnete er immerhin das ihr zugewandte Auge.
Sie brachte ihn raus auf den Hof, wo die anderen Kursteilnehmer schon fleißig dabei waren, ihre Pferde zu putzen. Geronimo trottete brav, aber sehr langsam neben ihr her.
„Warum hast du denn so lange gebraucht?“ rief Nora zu Hannah rüber.
„Ich hab das Pferd noch mal getauscht, das, was sie mir zuerst geben wollten, hat nach mir getreten, sobald ich die Tür aufgemacht habe.“
„Man kann das Pferd tauschen? Echt? Da geh ich auch mal fragen, meins ist jetzt schon eine Schlaftablette.“ Sie zeigte mit der Bürste in der Hand auf die dunkelbraune Stute, die sie zugeteilt bekommen hatte.
Hannah band Geronimo an und holte seinen Putzkasten, der ganz oben auf dem Regal in der Sattelkammer stand und komplett verstaubt war. Während des Bürstens ging Geronimo wieder in den Standbymodus über, hob brav die Hufe auf Kommando und schien alles in allem ein Glücksgriff zu sein. Auch als Nora mit ihrem Tauschpferd auf den Hof kam und dieses kaum halten konnte, hob er nur kurz den Kopf, schaute was los war und döste dann weiter. Hannah grinste, als Nora Leonardo festband und eine der Stallhelferinnen das dicke, braune Pony wegbrachte.
„Ist der nicht toll? Hannah, schau doch mal!“ freute sich Nora über ihr neues Pferd.
Eine gute halbe Stunde später waren sie dann endlich soweit, die gesamte Truppe stand im leichten Nieselregen auf dem matschigen Reitplatz. Es war windig und wirklich kalt. Hannah war froh, sich warm angezogen zu haben, einige andere Kursteilnehmer sah sie schon morgen eine Lungenentzündung haben. Auch Nora war eher sommerlich-schick gekleidet und Reithandschuhe waren anscheinend unter ihrer Würde. Aber trotzdem sah es schnieke aus, wie sie sich abmühte, Leonardo zu bremsen und zu lenken. Warm war ihr sicherlich.
Geronimo erwies sich unter dem Sattel als aufmerksam, wollte aber schon genau gesagt bekommen, was zu tun war. Etwas, das Hannah so nicht gewohnt war. Die Pferde, die sie zu Hause ritt, musste man für gewöhnlich eher bremsen als anschieben.
Schon während der ersten halben Stunde fielen zwei der jüngeren Reitkursteilnehmerinnen von ihren Pferden und es brach eine Diskussion über deren Reitkenntnisse los. Jane duldete keine Widerrede und kündigte an, die Pferdeverteilung noch einmal anzupassen.
Aber zunächst stand eine kleine Springeinheit an. Die zwei Sprünge, die Jane und ihre zwei Helferinnen aufbauten, erschienen Hannah sehr hoch, waren aber auf Nachfragen hin angeblich nur sechzig und achtzig Zentimeter hoch.
Geronimo machte vor dem ersten Sprung eine Vollbremsung, aber Hannah konnte sich gerade noch auf seinem Hals abstützen. Nora lachte laut los, ihr eigener Versuch war aber auch nicht besser und hatte eher etwas von Zirkusakrobatik als von Springreiten. Der zweite Versuch endete damit, dass sie Leonardo nicht mehr bremsen konnte, dieser im vollen Galopp um den Reitplatz kreiste und sich immer mehr aufregte. Erst, als Jane sich ihm in den Weg stellte, konnte Nora ihn wieder unter ihre Kontrolle bringen, fiel aber trotzdem nach dem nächsten Sprung runter. Bis sie ihn wieder eingefangen hatten, dauerte es geschlagene zehn Minuten und Nora und Jane sahen hinterher aus wie nach einer Schlammschlacht. Hannahs weitere Sprünge klappten zwar gut und Geronimo sprang sehr manierlich und vorsichtig über die Hindernisse, aber sie wurde trotzdem hinterher gefragt, ob sie denn überhaupt schon mal gesprungen sei. Ihre ehrliche Antwort, nämlich nur einmal über einen umgestürzten Baumstamm, brachte Jane erneut zum Kochen, aber ihre Wut entlud sich diesmal auf Nora, denn immerhin hatte sie Hannahs Reitkenntnisse in das Anmeldeformular eingetragen.
Als noch zwei Pferde fast miteinander kollidierten, einer Frau der Reithelm in den Matsch fiel und es immer stärker regnete, brach Jane die Reitstunde ab und die Truppe brachte die Pferde in den Stall zurück. Schlammkönigin Nora verschwand fluchend in Richtung Dusche und Hannah folgte einigen anderen Kursteilnehmern in den Aufenthaltsraum.
Der Aufenthaltsraum war nur spärlich und lieblos eingerichtet, aber das große Sofa, über dem eine fleckige Decke lag, erschien Hannah jetzt wie der Himmel auf Erden. Die ältere, vornehm wirkende Dame, die ebenfalls am Kurs teilnahm, kochte erst mal in Seelenruhe eine größere Menge Tee in der kleinen Küchenzeile in der Ecke des Raumes und ließ sich dann seufzend in einen hohen Sessel fallen, der auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Drei weitere Teilnehmerinnen kamen hinzu und alle waren froh, ihre Finger um eine warme Tasse legen zu können. Sie unterhielten sich eine Weile, stellten sich einander vor und nach und nach begannen ihre Mägen zu knurren. Die beiden Praktikantinnen des Stalles, Gertrud aus Österreich und Maria aus Spanien, kamen nun dazu und begannen, Brote zu schmieren. Das war dann wohl das versprochene Mittagessen.
Mehr oder weniger gesättigt saßen sie noch eine Weile in dem kalten Aufenthaltsraum und dann ging Hannah nach Nora schauen. Sie fand sie im Stall vor Leonardos Box. Der tobte, lief ständig im Kreis, so gut das in der engen Box eben ging, und schnaubte nervös.
„Ach, er ist so toll!“ quietschte Nora, als sie Hannah kommen sah.
„Mir ist der zu hektisch.“
„Ach Quatsch, zu Hause, deine Zauberfee, die ist doch auch lebhaft.“
„Lebhaft ja, aber der ist gemeingefährlich.“
„Ich bin echt schon gespannt, wie er draußen so ist, im Gelände.“
Hannah konnte nichts mehr erwidern, da Jane und Babette, die sommersprossige Französin, wild miteinander diskutierend um die Ecke bogen.
Zwei Stunden später stand die nächste Reiteinheit an. Einige Kursteilnehmer hatten noch mal die Pferde tauschen müssen und Hannah saß nun auf einem kleineren, graubraun-weiß gescheckten Wallach. Es stand eine Einführungsrunde auf dem hofeigenen Geländeparcours an, der sich über mehrere Kilometer durch Wald, Wiesen und Felder erstreckte, alles auf dem Privatgelände des Stalles. Hier waren jede Menge feste Hindernisse installiert, unter anderem aus alten Baumstämmen, Holzfässern und –balken, aber es gab auch bunte Turnierhindernisse, Wassergräben oder Zäune.
Der Ritt hatte von Anfang an ein recht hohes Grundtempo und die Hindernisse machten Hannah schon jetzt Bedenken. Sie ritt, seit sie sieben Jahre alt war, immer nur dressurmäßig oder eben im Gelände, aber ohne Sprünge. Cappuccino, das Pferd, auf dem sie gerade saß, war ein verlässliches Springpferd, aber an dem ein oder anderen Hindernis merkte es doch Hannahs Unsicherheit und lief lieber gleich daran vorbei.
Es kam wie es kommen musste, im Wald bei einigen in Reihe zwischen zwei hohen Hecken aufgebauten Hindernissen fiel eine Reiterin vom Pferd und verursachte so eine Kettenreaktion, die noch zwei weitere Pferde zum Scheuen brachte. Eine Reiterin konnte sich gerade so noch an einem Baum festhalten und landete daher vergleichsweise weich. Die andere ging mitsamt Pferd in der Hecke zu Boden und hatte daraufhin sehr starke Schmerzen im Knie. Hannah bekam das nun reiterlose Pferd zu fassen und hatte somit eine Ausrede, nicht mehr springen zu müssen. Die Verletzte wurde mit dem Auto abgeholt und der Rest der Truppe ritt weiter. Hannah war doch ein wenig erstaunt darüber, dass sie nun alleine mit zwei Pferden zum Stall zurückgeschickt wurde, aber laut Maria war das vollkommen ok. Der Weg wäre ja eindeutig markiert und das Gebäude sei außerhalb des Waldes auch gut sichtbar. Sie würde den Weg schon finden.
Hannah schaffte es mit beiden Pferden ohne weitere Zwischenfälle zum Hof zurück, wo sie bereits von Jane in Empfang genommen wurde. Sie versorgten die Pferde und Hannah verabschiedete sich für den Tag.
Für den Rückweg brauchte sie länger als für den Hinweg und war wirklich froh, als die Pension endlich in Sicht kam. Hannah war enttäuscht über die schlechte Organisation des Reitkurses und vor allem über Nora, die sich doch sehr seltsam benahm. Ein wenig dominant war sie schon immer gewesen, aber dass sie sich jetzt so abweisend verhielt, das hatte Hannah nicht erwartet.
Als Hannah das schwere Holztor öffnete und über den Fußweg auf die Haustür zuging, sah sie, warum die Farm Cloverlane hieß. Der schmale, sorgfältig geharkte Kiesweg führte durch eine große Kleewiese. Mary und Colin standen an der Haustür und unterhielten sich, Mary schon wieder oder immer noch in Hausschuhen und ihrer Schürze von heute Morgen.
„Hallo, na, du siehst aber nicht gerade glücklich aus“, bemerkte Mary, als Hannah näher kam. Hannah wusste nicht, wo sie mit ihrer Erklärung anfangen sollte und sagte erst mal nichts.
„Colin, zeig ihr doch mal den Hof und unsere Tiere und dann gibt’s Abendessen!“ verkündete Mary und verschwand im Haus. Colin sah ihr irritiert hinterher, ging dann aber ein paar Meter am Haus entlang nach rechts. „Kommst du?“ fragte er über seine Schulter nach hinten. Hannah hätte zwar lieber erst geduscht und gegessen, aber eine Hofführung war natürlich auch interessant. Sie folgte Colin um die Ecke des Hauses herum und wurde im Hof von Arrow begrüßt.
„Ja, also, das ist unser Hof“, sagte Colin und nahm die Hände aus den Hosentaschen. „Hier links haben wir vier Außenboxen.“ Sie gingen an den Boxen vorbei, diese waren ein gutes Stück größer als die in der Reitanlage und über eine der Türen schaute ein dunkelbraunes Pferd interessiert zu ihnen herüber. Hannah streichelte ihm über die Nase.
Colin ging über den sehr sauberen Hof zu einer Scheune. „Hier ist unser Heu und Stroh drin, da links sind Sattel- und Futterkammer und die Toilette, und hier ...“ Er ging weiter und Hannah folgte ihm nach rechts in einen Anbau der Scheune. Arrow lief aufgeregt mit, so, als ob er den Hof ebenfalls zum ersten Mal besichtigen würde.
„Das ist unser Laufstall. Wir haben zwar draußen die Boxen und hinten noch eine große Weide, aber hier sind die Pferde nachts und oft auch tagsüber. Und nebenan auf dem Auslauf. Sie können rein und raus wie sie wollen“, sagte Colin. Er ging wieder an Hannah vorbei nach draußen.
Sie schaute noch einmal in den sehr großen, mit frischem Stroh eingestreuten Raum und fand Colin draußen an einem stabilen Holzzaun lehnen. Er kraulte ein großes, weißes Pferd. Als sie dazukam, ließ er das Pferd sofort los.
„Wieviele Pferde habt ihr?“
„Zur Zeit acht.“ Colin ging zur Seite, sodass Hannah die Pferde anschauen konnte. Alle, die gerade nicht vor sich hin dösten, sahen aufmerksam zu ihr herüber. Hinter dem Zaun sah man das Meer und die Luft roch frisch und salzig. Colin ging wieder über den Hof zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, bog dann aber links ab. Hannah bemühte sich, neben ihm zu bleiben. Mit seinen geschätzt ungefähr einsneunzig war er um einiges größer als sie und ihr kam es so vor, als brauchte sie zwei Schritte, wo er nur einen machte. Er blieb auf einem die Klippe entlang nach unten führenden Pfad stehen. Von hier oben aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das Meer, den breiten Strand, die weitere Küstenlinie und den Himmel.
„Das ist echt eine schöne Aussicht“, sagte Hannah und steckte die Hände in ihre Taschen. Hier oben war es windig und es war ihr immer noch oder schon wieder kalt. Colin nickte nur.
„Und von dem Haus da hat man bestimmt auch einen tollen Blick“, fügte sie hinzu und zeigte auf ein neu aussehendes Wohnhaus, das dicht an der Steilküste nur etwa dreißig Meter entfernt stand. Colin grinste. „Oh ja, hat man. Da wohne ich.“
„Oh“, sagte Hannah nur und riss ihren Blick vom Meer los.
„Ich hole jetzt noch zwei Pferde rein, du kannst mitkommen oder schon rüber gehen.“ Er drehte sich um und lief los, ein Stück in Richtung Farmhaus zurück und bog aber einige Meter weiter links in einen Weg ab, der von niedrigen Bäumen und Büschen begleitet wurde. Hannah folgte ihm.
Nachdem sie schweigend um die hundert Meter weit gelaufen waren, kamen sie aus den Bäumen heraus zu einer sehr großen, viel zu grünen Wiese. Alle Wiesen hier waren so tiefgrün, so etwas gab es in Deutschland nicht. Weiter rechts sah man die Landstraße, links fiel die Steilküste zum Meer hin ab. Dazwischen lag eine riesengroße Pferdeweide, deren Ende Hannah nicht erkennen konnte.
Zwei kleinere Pferde, eins graubraun und eins schwarz, beide sehr rund und zottelig, kamen langsam zum Tor gelaufen. Einige Meter davor hielten sie an und schnaubten.
„Geh bitte zur Seite“, sagte Colin zu Hannah und öffnete das Tor. Die beiden Pferde trotteten durch das Tor und liefen in Richtung Stall.
„Ähhmm“, machte Hannah nur fragend und Colin lächelte. „Die kennen das.“
Sie folgten den Stuten bis zum Hof, wo eine der beiden eine Kabbelei mit dem Pferd in der Box anfing und von Colin weitergescheucht werden musste. Hierzu reichte ein Klaps auf den Hintern aus. Das andere Pferd stand bereits an der Scheune und sammelte am Boden liegende Heuhalme auf.
Nachdem sie beide Pferde und auch das aus der Box zu den anderen auf den Paddock gebracht hatten, gingen sie hinüber zum Haupthaus.
Schon im Flur roch man das Essen. Es duftete so fantastisch nach gebratenem Fleisch und noch weiteren Dingen, dass Hannahs Magen augenblicklich laut brummte.
„Hunger?“ fragte Colin, während er seine Schuhe wegstellte.
„Ja.“
„Na dann los.“
Hannah huschte noch kurz nach oben, brachte ihre Sachen weg und setzte sich dann im Esszimmer auf ihren Platz. Arrow kam sofort zu ihr, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen, wurde aber von Colin nach nebenan geschickt.
Die Küchentür ging mit einem Schwung auf und Mary brachte die Quelle des fantastischen Duftes, der in der Luft hing: Eine große, dampfende Schüssel.
„Was ist das?“ fragte Hannah. „Das riecht wahnsinnig gut.“
Mary stellte die Schüssel ab und lächelte stolz.
„Das ist Moms berühmtes Stew. Ich bin sicher, es wird dir schmecken“, sagte Colin und nachdem Mary einen Tischsegen gesprochen hatte, begann Colin, jedem eine Portion herauszuschöpfen. Hannah kamen fast die Tränen, so gut roch das Essen.
Sie bekam eine dunkelbraune Schale überreicht. Darin fand sie einen Eintopf bestehend aus Rindfleischstücken, Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln vor und dem Geruch nach zu urteilen auch etwas Knoblauch. Es schmeckte so, wie es roch, nämlich fantastisch. Es war würzig, aber nicht zu scharf. Hannah konnte sich nicht erinnern, je etwas so Gutes gegessen zu haben.
„So, dann erzähl mal, wie war es denn heute beim Reiten?“ fragte Mary.
„Katastrophal“, sagte Hannah wahrheitsgemäß.
„Aha? Warum das?“
„Sie wollten mir wirklich das schwarze Pferd geben“, sagte Hannah und angelte mit ihrem Löffel einen Fleischbrocken aus ihrer Suppenschale.
„Nein!?“ sagte Mary laut.
„Doch.“ Hannah grinste. „Aber ich habe abgelehnt.“
„Welches? Leonello oder so ähnlich?“ fragte Colin.
„Leonardo, ja“, sagte Hannah und bekam von Mary einen Nachschlag des Eintopfs zugeteilt.
„Er hat direkt nach mir getreten, als ich die Boxentür aufgemacht habe. Das war mir zu kritisch. Erst wollte Jane mir kein anderes Pferd geben, aber dann kam ein älterer Mann dazu und ich durfte Geronimo nehmen.“
„Geronimo?“ fragte Colin und sah mit erhobenen Augenbrauen zu Mary, die ebenfalls überrascht aussah und ihre Augenbrauen bis zum Haaransatz hochzog. Sie nickte. „Das ist Patricks altes Jagdpferd. Der ist bestimmt schon fünfundzwanzig.“
„Ich wusste gar nicht, dass er noch lebt“, sagte Colin und nahm sich noch einen Nachschlag.
„Wie war es mit ihm? Da hast du auf einer Legende gesessen, mein Kind“, sagte Mary mit Ehrfurcht in der Stimme. Hannah musste grinsen. „Legende?“
„Die beiden waren auf Turnieren hier in der Gegend sehr erfolgreich. Seid ihr auch gesprungen?“ fragte Colin.
„Ja. Aber das ist echt nicht meins. Nachmittags sind wir auf der Springstrecke geritten und da gab es einige Unfälle, eine musste mit dem Auto geholt werden, weil sie vom Pferd gefallen ist und sich das Knie verdreht hat. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmeres.“
„Oh.“ Mary ließ ihren Löffel sinken. „Aber sonst war es ok? Geronimo ist doch bestimmt ordentlich gesprungen?“
„Ja, schon. Aber mittags hatte ich ein anderes Pferd, einen graubraunen Schecken.“
„Oh, aha?“
„Ich finde es allgemein sehr chaotisch und schlecht organisiert.“
„Du kannst ja morgen mit Colin mal ausreiten“, sagte Mary. Colin machte ein undefinierbares Geräusch und Hannah sagte lieber nichts weiter und widmete sich wieder ihrem Eintopf.
Das Klingeln an der Tür ließ alle drei den Kopf heben.
„Wer klingelt denn jetzt?“ fragte Mary mit Entsetzen in der Stimme und stand auf.
„Vielleicht noch mehr Übernachtungsgäste“, sagte Colin und bekam einen tadelnden Hieb ab, als Mary an seinem Stuhl vorbei in den Flur ging. Im Nachbarzimmer hörte man Arrow aufstehen und leise knurren.
„Habt ihr nichts zu essen bekommen heute Mittag?“ fragte Mary erstaunt, als sie ins Zimmer zurückkam.
„Naja, Tee war da und sie haben uns Brote geschmiert.“
„Ach herrje“, sagte Mary nur.
„Wer war denn an der Tür?“ fragte Colin.
„Es war Hannahs Freundin von gestern Abend. Sie wollte fragen, ob Hannah mitfahren möchte in den Ort. Ich hab ihr gesagt, dass wir gerade essen und sie nicht mitfährt.“ Mary sah zu Hannah. „Ich hoffe, das war in Ordnung so. Willst du noch etwas?“
„Nein danke, ich bin echt satt. Es war sehr lecker.“
Mary lächelte zufrieden und gab Colin noch eine Schöpfkelle Eintopf. Er protestierte nicht.
„Also hast du sie wieder weggeschickt? Sie hätte doch auch mitessen können. Es ist noch genug da.“
Mary bedachte Colin mit einem Blick, den Hannah nicht deuten konnte. „Nein“, sagte Mary sehr deutlich und laut. „Ich mag sie nicht. Und Arrow hat sie auch sofort angeknurrt. Außerdem waren da mehrere Autos vorne an der Straße. Ich werde nicht deren Leute hier durchfüttern.“ Damit war das Thema beendet und nachdem Colin seine Portion aufgegessen hatte, stand Mary auf und ging in die Küche. Hannah half, die Teller und das Besteck zusammenzuräumen.
Sie fragte sich gerade, ob ihre Gastgeber in der Küche verschollen waren, als beide zurückkamen und ihr eine Schüssel mit Vanilleeis mitbrachten. Nachdem auch das noch weggeputzt war, verabschiedete sich Hannah für heute, auch von Arrow, der ihr mit leichtem Schwanzwedeln und traurigem Blick nachsah, als sie die Treppe hochstieg.
Als sie ihre Reitklamotten auszog und sich unter die heiße Dusche stellte, merkte sie erst, wie anstrengend der Tag heute gewesen war. Das warme Wasser tat gut und obwohl Hannah noch lesen und sich noch bei ihrem Freund melden wollte, kroch sie lieber unter die Bettdecke und stellte sich den Wecker für morgen früh. Sie war wirklich müde, dachte aber noch für ein paar Momente über den heutigen Tag nach. Fast hatte sie Mitleid mit Nora und deren Unterkunft, wischte diesen Gedanken aber sofort zur Seite. Colins Stall und auch die Pferde hier am Hof waren ihr um Längen sympathischer als der große Turnierstall, der auf sie für Mensch und Tier einen abweisenden Eindruck machte.