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1Warum wir Management-Kybernetik brauchen
Оглавление•In diesem Kapitel lernen Sie, warum ein Denken in einfachen, linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen in einer dynamisch-komplexen Welt nicht zu nachhaltigen Resultaten führen kann.
•Sie werden in grundlegende Begriffe der Kybernetik eingeführt.
•Sie erhalten einen ersten Einblick, wie Organisationen in dynamisch-komplexen Umfeldern nachhaltig erfolgreich geführt werden können.
Viele unserer Denkmuster funktionieren in stetigen Umfeldern mit der Annahme überwiegend linearer Ursache-Wirkungs-Beziehungen zuverlässig. Sie wurden in Zeiten gebildet, als überwiegend Adhoc-Lösungen gefragt waren und nicht über Netzwerkeffekte nachgedacht werden musste. In komplexen Umfeldern geben diese Denkmuster aber einen falschen Orientierungsrahmen und führen zu falschen Schlussforderungen, die das Überleben von Organisationen gefährden. Sie sind nicht mehr angemessen.
Diese Veränderung kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass sich unsere Welt entmaterialisiert. Unsere komplexe Welt erklärt sich nämlich zunehmend nicht mehr aus den Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Elemente, sondern aus den Eigenschaften und Fähigkeiten, die aus den Beziehungen zwischen diesen Elementen entstehen (emergente Fähigkeiten). Deshalb haben wir es mit neuen Quellen für Wertschöpfung zu tun. Wert leitet sich zunehmend aus Individualität, Pluralität und Diversität (»sowohl … als auch« statt »entweder … oder «) ab, aus interdisziplinärem Arbeiten, aus Beziehungen in offenen Netzwerken, aus der Qualität der Kommunikation entlang von Prozessen und aus immateriellen Werten (Schutzrechten und vertraglich gesicherten Rechten). Manager, die in komplexen Umfeldern agieren, sollten sich darauf konzentrieren, diese Wertquellen zu erschließen. Sie sollten lernen, in komplementären Dimensionen zu denken und zu handeln.
Zum anderen greifen unsere alten Denkmuster auch deshalb immer schlechter, weil Netzwerke die Komplexität weiter steigern und das Maß an Unsicherheit erhöhen. Netzwerke verursachen wechselseitige Wirkungen und sowohl direkte als auch indirekte Rückkopplungen auf eigene Handlungen. In Netzwerkstrukturen können Wirkungen auf das eigene Handeln an beliebigen Stellen, in beliebigen Augenblicken und in völlig unerwarteten Dimensionen auftreten (»Schmetterlingseffekt«). Auch wenn alle Regeln und Rahmenbedingungen bekannt sein sollten, können wir die Zukunft prinzipbedingt nicht vorhersagen. Wir können die Welt nicht beherrschen, sondern lediglich als Teil von ihr angemessen mit der gegebenen Komplexität umgehen. Manager müssen akzeptieren, dass es unvermeidbare Unsicherheit gibt, sollten sich aber darüber freuen, dass genau diese Unsicherheit Evolution ermöglicht. Wäre nämlich alles bestimmt, könnten wir gar nichts beeinflussen.
Fredmund Malik (2006c, S. 28) führt dazu aus:
»Kybernetik und gutes, wirksames Management sind identisch. Wir sollten die ›alte‹, mechanistische Art und Weise zu denken überwinden und in Systemen denken.«
Das oberste Ziel aller Systeme besteht darin zu überleben. Unsere Natur ist in der Lage, durch adaptive und dynamische Evolution zu überleben, die von Komplexität ermöglicht wird. Die artenreiche und vernetzte Natur »lebt« die Komplexität – anders als Menschen, die dazu neigen, komplexe Wechselbeziehungen unangemessen zu vereinfachen und sich mit ihren Entscheidungen am Erreichen kurzfristiger Ziele zu orientieren – und dadurch das langfristige Überleben ihrer Spezies riskieren. Menschen handeln eher so, als würden sie nicht in Systemen wirken, sondern die Systeme von einer äußeren, höheren Position aus dominieren. Das kann nicht funktionieren. Denn alle unsere Entscheidungen und Handlungen haben eine direkte oder indirekte Rückwirkung auf uns selbst.
Sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Unternehmen können als kommunikative Feedbacksysteme aufgefasst werden. Je größer und je komplexer Gesellschaften oder Organisationen werden, desto eher werden ihr Verhalten und ihre Fähigkeiten durch die Qualität ihrer Rückkopplungen (Feedbacks) zwischen ihren Mitgliedern (Bürgern, Mitarbeitern, Abteilungen etc.) und gegenüber ihren Umfeldern (Kunden, Leistungspartner, Lieferanten) definiert. Externe Turbulenzen schlagen sich in Organisationen meistens wegen fehlender oder fehlgeleiteter Kommunikation an den Schnittstellen als Probleme nieder. Schlechte Kommunikation resultiert in nicht wirksamen und/oder ineffizienten Prozessen, die das Arbeiten und Leben für alle eingebundenen Menschen schwierig machen und Motivation kosten.
Die Kybernetik bietet Einsichten und Werkzeuge, mit denen Organisationen besser verstanden und gezielter beeinflusst werden können. Dadurch kann die Leistungsfähigkeit spürbar und nachhaltig verbessert und organisationale Stabilität erreicht werden.
Wie funktionieren kybernetische Ansätze? Auf William Ross Ashby (vgl. Ashby 1956 bzw. 1974) geht die paradox anmutende Aussage zurück, dass Organisationen ein bestimmtes Maß an Komplexität (Varietät) brauchen, um die Komplexität bewältigen zu können, die ihr Umfeld aufweist. Nun sind auch Kontrollsysteme Systeme. Heinz von Foerster (1993b, S. 211 ff. und S. 251 f.) entwickelt Ashbys Gedanken weiter, indem er darauf hinweist, dass es umso schwieriger – bis unmöglich – wird, Organisationen mit konventionellen Mitteln zu führen, je komplexer sie sind. Von Foerster führt den thermodynamisch hergeleiteten Beweis dafür, dass Systeme sich nie selbst werden organisieren können: Um sich zu organisieren, brauchen Systeme Energie aus ihrem Umfeld, mit dem sie in ständiger Wechselwirkung stehen. Andernfalls würde ihre Entropie unaufhaltsam zunehmen: Sie würden sich desorganisieren und schließlich in maximaler Unordnung enden (S. 211 ff.). Komplexe Systeme verlangen also eine Intervention von außen. Diese Intervention darf die Komplexität aber nicht zerstören. Von Foerster gibt zu bedenken, dass komplexe Systeme ein nichttriviales, unbestimmbares Verhalten aufweisen. Wenn wir dieses unberechenbare Verhalten durch »Trivialisierungsspezialisten« zu trivialisieren versuchen, um die Systeme beherrschen zu können, entziehen wir ihnen Möglichkeiten; wir berauben sie ihrer Überlebensfähigkeit (S. 251 f.).
Komplexität ist also Fluch und Segen gleichzeitig. Wie sollte nun die gewünschte Komplexität aussehen? Eine Organisation als Ganzes, jedes ihrer Geschäftsfelder, jede Abteilung und sogar jeder Mitarbeiter wirken als offene soziale Systeme mit »osmotischer Haut«. Durch achtsames »Zuhören« an den Schnittstellen zu anderen Systemen nehmen Mitglieder der Systeme in jedem Moment Anpassungsmöglichkeiten auf und wahr, um bestabgestimmte Lösungen zu erzielen – soweit sie die Freiheit dazu haben. Aus diesem Spannungsfeld von agiler, zirkulärer Interaktion zwischen den »Elementen« und Top-down-Anleitungen und Unterstützung ergeben sich die Qualität des Systemverhaltens und die Leistungsfähigkeit von Systemen. Komplexität heißt auch Diversität. Je höher die dynamische Komplexität der Umfelder ausgeprägt ist, desto stärker profitieren Systeme von eigenen Freiheitsgraden. Durch Freiheitsgrade werden sie handlungsfähiger und agiler. Je unterschiedlicher die Fähigkeiten, Erfahrungen, Einsichten und kulturellen Prägungen sind, die in die zirkuläre Interaktion eingebunden werden, desto besser gelingen ausgewogene Entscheidungen und Handlungen.
Wie kann Management in komplexen Umfeldern gelingen? Die offene kommunikative Interaktion ist eine notwendige Bedingung für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Beide Eigenschaften sind wiederum unabdingbar für Stabilität. Stafford Beer (vgl. 1959 bzw. 1962) definiert eine Organisation sogar als ein emergentes System, das genau das macht, was in seinen Interaktionen angelegt ist.
In Cybernetics and management (1959, p. 7) schreibt Stafford Beer:
»Das zu steuernde System erweist sich als ein spezieller Maschinentyp; jedes System tut etwas, und was es tut, kann als der Zweck der Maschine betrachtet werden. Steuerung ist die Strategie der Maschine, diesen Zweck zu erfüllen« (Übers.: W. B.).
Angeregt durch Interaktionen, muss eine Organisation ständig in Bewegung bleiben, um – analog zum Balancieren – laufend neue Stabilitäten zu finden.
Dieser Zustand ständigen Austausches ist aus der Chemie bekannt, wo gleichgewichtsnahe Zustände durch den ständigen Fluss von Stoffen und Energie aufrechterhalten werden. Bei exaktem Erreichen des Gleichgewichts würde dieser Fluss nicht stattfinden. Dann würden Systeme ihre Anpassungsfähigkeit verlieren. Systeme müssen sich, wie Lars Onsager 1931 nachwies, immer außerhalb des (thermodynamischen) Gleichgewichts befinden, um stabil im Sinne einer laufenden Anpassungsfähigkeit zu bleiben. Der ständige Fluss von Stoffen und Energie ist damit wesentliches Merkmal des Lebens. Karl Ludwig von Bertalanffy prägte 1932 für diesen Regelungsprozess zur laufenden Annäherung an einen Gleichgewichtszustand, der schon 1860 von dem französischen Physiologen Claude Bernard vorgestellt worden war, die Bezeichnung »Homöostase«. Für soziale Systeme schlugen Niklas Luhmann, Francisco Varela und Humberto R. Maturana sogar vor, den Begriff »Homöostase« durch den Begriff »Homöodynamik« zu ersetzen, da die Stasis einen Stillstand und damit den Tod eines (sich selbst regulierenden) Systems bezeichnen würde.
Die Herausforderung für das Management besteht darin, solche autonomen Anpassungsprozesse zu initiieren und aufmerksam zu beobachten, wie ein System seine Anpassungsfähigkeit entwickelt. Die sich aufbauende Selbstregelung erfordet das Gegenteil von Kontrolle im üblichen Sinne. Vielmehr verlangt sie nach der Fähigkeit, loszulassen und die Wirkung von Maßnahmen zu beobachten. Geben Sie Ihrem System Zeit zum »Einschwingen«, um von innen heraus regelnd wirksam zu werden. Lassen Sie auch gewisse laufende Schwankungen der Ergebnisse zu (Hysterese). Die Hysterese ist ein wesentliches und unverzichtbares Merkmal von Regelungsprozessen.
Ein prägnantes Beispiel aus der Haustechnik ist die Heizungsregelung. Ein Thermostat gibt an einen Schalter die Anweisung, den Brenner einzuschalten, wenn der Messfühler feststellt, dass die voreingestellte untere Temperatur unterschritten wird, und gibt dem Schalter die Anweisung, den Brenner wieder abzuschalten, wenn der Messfühler feststellt, dass die voreingestellte obere Temperatur überschritten wird. Die tatsächliche Temperatur oszilliert also immer zwischen unterem und oberem Schaltwert. Je enger dieses Intervall definiert wird, desto öfter muss der Brenner ein- und ausgeschaltet werden. In jedem Fall wird es immer eine gewisse Schwankung geben. Die Amplitude ist das Ergebnis einer Optimierung zwischen Komfort und Effizienz.
Regelungsprozesse benötigen Information und Energie von außen, die sie über Fühler erhalten. Insbesondere eine Selbstregelung zwischen Systemelementen benötigt Information und Energie; Systeme müssen also offen gestaltet sein, damit sie stabil gehalten werden können. Unter Abschottung sind Systeme nicht stabilisierbar. In technischen Regelkreisen sprechen wir von »Steuerströmen«, mit denen Informationen zur Regelung von »Leistungsströmen« ausgetauscht werden. Analog verliert sich ohne laufende Alimentation mit Information und Energie auch in sozialen Systemen die Möglichkeit, durch Selbstregelung Ordnung zu schaffen. Seien Sie sich deshalb bewusst, dass Sie Ihrer Organisation kontinuierlich Information, Know-how, Impulse und Methoden zuführen müssen, um die organisationale Fähigkeit zu fördern, Prozesse und Strukturen laufend zu schärfen – die Ordnung also mindestens dynamisch zu erhalten bzw. die Fähigkeit, Ordnung zu halten, sogar auszubauen. Betrachten Sie den Aufwand als notwendige kontinuierliche Investition gegen das natürliche Bestreben der Organisation, in Unordnung zurückzufallen.
Aus der Thermodynamik wissen wir, dass in geschlossenen Systemen, denen also keine Energie, keine Information und keine Materie zugeführt werden, die Entropie – als Maß für die Unordnung – stetig zunimmt.
Das laufende Zuführen von Energie und Information ist kein Zeichen von Ineffizienz, sondern eine Notwendigkeit für die nachhaltige Existenzfähigkeit Ihrer Organisation. Versuchen Sie aber nicht, durch eine Analyse von Detailinformationen die Zukunft präzise vorherzusagen, sondern akzeptieren Sie das Blackbox-Phänomen, fördern Sie lieber ein Denken in Wahrscheinlichkeiten, und bereiten Sie Ihre Organisation gut auf die relevanten Szenarien mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit vor.
Um Risiken abfedern und rasch neue Wege gehen zu können, braucht Ihre Organisation gewisse Ressourcen und Fähigkeiten als Reserven, auch wenn sie jetzt nicht offensichtlich eingesetzt werden. Betrachten Sie diese empfohlenen zusätzlichen Ressourcen und Fähigkeiten nicht als Verschwendung, sondern als eine Art »Versicherungsprämie« für Anpassungsfähigkeit zur Existenzsicherung. Mit Ihrer Entscheidung für diese Ressourcen und Fähigkeiten setzen Sie Heinz von Foersters (2010, S. 60) »ethischen Imperativ« um, die Möglichkeiten Ihrer Organisation zu erweitern.
Investmentbanker nutzen diese Erkenntnis in Form einer »Hedging«-Methode: Sie investieren in gegenläufige Positionen, um mögliche große Verluste zu kompensieren. Auch das Teilen von Risiken mit Kunden, Lieferanten und/oder Kooperationspartnern kann die Auswirkungen möglicher eintretender Risiken für alle beteiligten Parteien verringern. Überlegen Sie sich, ob Sie spezifische Fähigkeiten, Verfahren und Ressourcen unbedingt selbst aufbauen bzw. vorhalten sollten. Vielleicht können Sie ja stattdessen auf vorhandene spezifische Eigenschaften und Kapazitäten bei Dritten zugreifen, um Prozesse auszuführen, die mit hohem Risiko verbunden sind.
Fördern Sie dieses Denken und solche risikomindernden Entscheidungen in Ihrer Belegschaft. Fördern und fordern Sie die individuelle Verantwortung für Entscheidungen, die zur Stabilität beitragen, und gewähren Sie dafür nötige Befugnisse, damit gut abgestimmte Entscheidungen auf der Arbeitsebene überhaupt getroffen werden können. Die Entwicklung zu einer stabilisierenden Entscheidungskultur bedingt eine ausgeprägte Fehlertoleranz und wirksame Feedbackschleifen. Intervenieren Sie nur zur Initiierung und im Sinne eines Coachings, damit die Fähigkeiten zur risikobewussten Stabilisierung in Regelkreisen in der Organisation aufgebaut werden können. So kann Ihr Unternehmen die Fähigkeit zur Existenzsicherung anlegen – als eine emergente Eigenschaft, die Ihrer Organisation innewohnt und die nicht ständig vom Management eingefordert werden muss.
Durch die systematische Anwendung kybernetischer Prinzipien im Management kann ein angemessener Umgang mit den Effekten der zunehmenden Entmaterialisierung und Vernetzung gefunden werden. In den folgenden Kapiteln werden die wichtigen Aspekte für das Management von Unternehmen, einem Spezialfall von Organisationen, vorgestellt. Viele dieser Aspekte lassen sich auf das Management von Non-Profit-Organisationen, Gesellschaften und Staaten übertragen.