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Die schönen Alpen

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Die Wahrnehmung der Alpen als „schöner Landschaft“ ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir sie mit „den Alpen“ identifizieren – die Alpen selbst sind doch schön! – und dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass es sich dabei um eine Sichtweise handelt, die erst zwischen 1760 und 1780 entwickelt wird. Zuvor galten viele Jahrhunderte lang nur fruchtbare und ertragreiche Ackerfluren oder parkartige Weidelandschaften als schön, und nur solche Motive wurden von Künstlern abgebildet. Jetzt aber geraten diese Motive schnell in Vergessenheit, und Bilder aus den Alpen treten auf einmal an ihre Stelle. Was ist passiert?

Sehen wir uns zwei zeitgenössische Darstellungen an: Im Vordergrund befindet sich jeweils ein flacherer, sanfterer Landschaftsteil, der landwirtschaftlich genutzt und menschlich geprägt ist, im Hintergrund dagegen eine steile, abweisende Felswand und eisbedeckte, unzugängliche Gipfel.

Diese Bildkomposition lebt von dem starken Motivkontrast zwischen einem idyllischen menschlichen Lebensraum im Vordergrund, der behaglich und einladend wirkt, und einem menschenfeindlichen, bedrohlichen Hintergrund, der Angst und Schrecken hervorruft – diese Spannung elektrisiert die damaligen Betrachter und spricht sie unmittelbar an. Würden die bedrohlichen Berge im Hintergrund fehlen, wäre der idyllische Vordergrund allein langweilig, nichtssagend und ausdruckslos.

Seit der Industriellen Revolution haben die Menschen ihre frühere Angst vor der Natur verloren. Die bedrohlichen Berge rufen jetzt keine echte Angst mehr hervor (Abstoßung), sondern nur noch einen aufregenden Nervenkitzel (Anziehung), und dieser würde fehlen, wenn ein Bild nur einladende Nutzflächen und schöne Häuser zeigen würde.

Das Aufregende an der neuen Bildkomposition ist also die radikale Gegenüberstellung von menschlicher Idylle und bedrohlicher Natur. Solche Bilder sprechen die damaligen Betrachter – nicht die Alpenbewohner, sondern die Bürger aus den stark wachsenden Industriestädten – emotional stark an, weil sie eine Sehnsucht ausdrücken: Diese Bilder zeigen, dass der Mensch in einer so feindlichen Umgebung wie den Alpen glücklich leben kann, wenn er sich der Natur einpasst und sich ihr unterordnet.

Das Erstaunliche an diesem Alpenbild ist, dass die Gegenwart, aus der heraus es entsteht, darin gar nicht vorkommt: Die beginnende Industriegesellschaft verbraucht und zerstört im Alltag Natur und Landschaft im großen Stil, und erfreut sich am Sonntag bzw. im Urlaub an einer Mensch-Natur-Harmonie, die ihrer Alltagspraxis vollständig widerspricht und die sich auch räumlich getrennt davon abspielt: Industriegebiete sind nie schön. Dieser Widerspruch macht dann Sinn, wenn am Sonntag und im Urlaub der naturzerstörerische Alltag durch die Bewunderung der schönen Landschaft (einschließlich der Menschen, die sich der Natur unterordnen) vergessen gemacht, ausgeglichen oder „kompensiert“ werden soll: Dann wird das Unbehagen an der Naturzerstörung, das den gesamten Alltag durchzieht, durch die große Bewunderung der Natur am Sonntag unterdrückt und vergessen gemacht, und man kann sich am Montag früh wieder mit frischen Kräften seinen Alltagsaufgaben zuwenden. Es liegt auf der Hand, dass diese Sichtweise der Alpen ein Zerrbild ist, was mit ihrer Realität wenig zu tun hat.

Heute wird immer wieder argumentiert, dass diese Bewunderung der Alpen doch eigentlich – verglichen mit der aktuellen Zerstörung der Alpen als Freizeitpark – positiv sei und wieder gestärkt werden müsse. Dies ist jedoch schwierig, weil die klassische Bewunderung der Alpen ganz eng mit der Perspektive verbunden ist, dass sich der Mensch den Alpen unterordnen müsse. Die Geschichte der Alpen zeigt jedoch, dass diese Sichtweise zu einfach ist: In vollem Respekt vor der Natur haben die Menschen die Alpen früher für ihre Zwecke tiefgreifend ökologisch verändert, ohne sie zu zerstören. Dies ist keine Unterordnung unter Natur, aber andererseits auch keine Herrschaft über Natur (so die beiden Denkfiguren, die uns heute so alternativlos erscheinen), sondern ein dritter Weg im Umgang mit Natur, der aber meist nicht wahrgenommen wird.


15 Es ist heute noch möglich, die Alpen auf die klassische Weise als schöne Landschaft zu fotografieren, wie dieses Bild des Ortes Gsteig im Berner Oberland zeigt. Im Hintergrund links das Oldenhorn, 3123 m, rechts dahinter der Gipfel Sex Rouge, 2971 m, der mit einer Seilbahn erschlossen ist (September 2006).

Wie wenig selbstverständlich die Sichtweise der Alpen als schöner Landschaft ist, zeigt sich an den Reaktionen der Einheimischen: Für sie ist das Tun der ersten Touristen und Alpinisten, die sich für Felswände, Gipfel und Gletscher interessieren, völlig absurd und verrückt, denn in diesen Gebieten gibt es nichts Nützliches zu finden oder zu holen. Für die Einheimischen sind weiterhin nur diejenigen Stellen in den Alpen „schön“, die zur Lebensmittelproduktion besonders gut geeignet sind, wie man an zahlreichen Orts- und Flurnamen wie Schönbühel, Schönberg, Schönau oder Schönwies feststellen kann. Der neue Inhalt von „schön“, der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommt und der vom Gegensatz Idylle-Bedrohung lebt, macht für die Bewohner der Alpen keinen Sinn, weil ihnen die damit verbundenen Erfahrungen (Industrielle Revolution und Verlust der Angst vor Natur) fehlen. Ihr Respekt vor der Natur führt nicht zur Unterwerfung, sondern zur vorsichtigen Umgestaltung der Alpen und zum Leben mit den damit verbundenen Gefahren. Bild 16 zeigt ein Dorf, das stets von Felsstürzen und Lawinen bedroht ist, das aber gelernt hat, mit dieser Bedrohung umzugehen, indem die Häuser im Laufe der Zeit an solchen Stellen errichtet wurden, die einigermaßen sicher sind. Während es für Städter nur die Alternative gibt, die Bedrohung technisch zu beseitigen oder sich ihr fatalistisch unterzuordnen, zeigen die Bergbewohner eine dritte Möglichkeit im Umgang mit Gefahren auf (siehe dazu Kapitel 3).

Am Anfang wird die Bildkomposition der schönen Alpen in Form von zahllosen Gemälden, Stichen und Veduten umgesetzt. Mit Aufkommen des neuen Mediums Fotografie orientieren sich dann auch die Fotografen daran, und ab Ende des 19. Jahrhunderts entstehen sehr viele Fotos nach diesem Muster. Ganz besonders häufig wird es bei Postkarten, Foto-Kalendern und Bildbänden verwendet und millionenfach reproduziert. Wegen dieser unendlichen Wiederholungen wirkt das „klassische“ Alpenbild heute leicht als ein ärgerliches Klischeebild oder gar als unerträglicher Kitsch, wenn man es auf besonders gewollte oder extreme Weise umsetzt (Alpenglühen im Hintergrund, Sennerin in Tracht im Vordergrund). Deshalb versuchen seit einiger Zeit verschiedene Fotografen, die Alpen ganz bewusst anders zu fotografieren (ohne Sonne, kein typischer Vorder-/Hintergrund-Bildaufbau).


16 Der Ort Sambuco, 1135 m, im Stura-Tal mit dem Kalkfelsen des Monte Bersaio, 2386 m, in den südlichen Cottischen Alpen. Ganz unten rechts ist ein romanischer Kirchturm zu sehen, dessen Kirchenschiff (das links bis ins freie Feld hineinragte) fehlt, weil es durch einen Felssturz zerstört wurde. Die Kirche wurde im 17. Jahrhundert weiter oben auf einem Felssporn über dem Bach (genau über dem alten Kirchturm) in sichererer Position neu errichtet. Die traditionelle Lage der Häuser spiegelt die Erfahrungen im Umgang mit den vom Monte Bersaio abgehenden Felsstürzen und Lawinen wider. Die Gebäude in der Bildmitte stammen erst aus dem 20. Jahrhundert (September 2003).


17 Auch dieses Bild (Tesina-Seitental in den zentralen Seealpen in 1950 m Höhe) folgt dem klassischen Bildaufbau (Juni 2013).

Die wenig selbstverständlich dieser Blick auf die Alpen ist, zeigt sich daran, dass diese Bildkomposition zuerst in der Landschaftsmalerei ab dem 16. Jahrhundert entwickelt und erst später, ab dem 18. Jahrhundert allmählich auf die realen Alpen übertragen wurde. Deshalb spricht man noch heute davon, dass eine besonders schöne Landschaft „wie gemalt“ aussieht: Das Vorbild für Schönheit ist nicht die Natur, sondern die Malerei, ein ästhetisches Kompositionsprinzip!

Damit die Alpen als schöne Landschaft – mit dem genannten Gegensatz zwischen Vorder- und Hintergrund – wahrgenommen werden können, muss man gezielt Punkte in der Landschaft suchen, die genau diese Perspektive ermöglichen. Diese sind in den Alpen selten, denn in den meisten Fällen verhindert das steile Relief, dass man vom Tal aus besonders weit sehen kann, und von vielen Gipfeln sieht man nur Schutt, Geröll und andere Gipfel, aber keine Tallagen mit Dörfern oder Einzelhöfen.

Damit ein Bild mit einem freundlichen Vorder- und einem abweisenden Hintergrund entsteht, braucht es entweder einen leicht erhöhten Standpunkt im Talraum, der zugleich den Blick auf die hohen Berge hinter der Kulturlandschaft frei gibt, oder einen nicht sehr hohen Aussichtsgipfel, der den vollen Blick ins Tal und auf die dahinter liegenden Berge ermöglicht. Da solche Stellen in den Alpen selten sind, müssen sie gezielt gesucht werden, und die Aufgabe der Pioniere der Alpenerschließung besteht darin, solche Stellen zu finden, sie in Reiseführern zu beschreiben und damit anderen Alpenbesuchern zugänglich zu machen. Das Buch von Heinrich Zschokke „Die klassischen Stellen der Schweiz“ aus dem Jahr 1836 ist eines von vielen, die dieses Ziel verfolgen. Ab 1870 werden viele dieser Aussichtspunkte mit bequemen Promenadenwegen oder mit Bergbahnen erschlossen.

Solche Aussichtspunkte liegen oft in einem Trogtal mit steilen Talflanken zu beiden Seiten, über die man nicht hinwegsehen kann, weshalb die Landschaft relativ langweilig wirkt. Nur an einer ganz bestimmten Stelle, oft dort, wo ein Seitental einmündet, weitet sich plötzlich der Blick, und es entsteht ein gestaffeltes Panorama wie bei einem Gemälde: vorn eine einladende Kulturlandschaft mit Bauernhof, Heustadel und Wiesen und hinten eine steile, abweisende Fels- und Gletscherlandschaft.

Viele Alpenbesucher dürften sich gefragt haben, warum sie die Alpen an vielen Stellen als langweilig erleben, obwohl sie doch „eigentlich“ so schön sein sollten. Die Erklärung ist einfach: Die Alpen sind keineswegs von Natur aus schön, sondern diese Wahrnehmung gründet auf einer ganz bestimmten ästhetischen Bildkomposition, die nur an wenigen ausgewählten Punkten in der Landschaft zu finden ist. Im Normalfall zeigen sich die Alpen jedoch nicht als eine schöne Landschaft.


18 Dieses Bild, das ganz in der Nähe eines klassischen Standpunktes aus dem 18. Jahrhundert gemacht wurde (Lauterbrunnental/Berner Oberland), reproduziert die typische Sicht auf die Alpen mit einem freundlichen Vorder- und einem bedrohlichen Hintergrund (Oktober 2017).


19 Das nördliche Gasteiner Tal in den Hohen Tauern mit dem von Skiabfahrten geprägten Fulseck, 2035 m, und Dorfgastein, 830 m (September 2012) – so wie hier sehen die Alpen meistens aus, und ihnen fehlt die „atemberaubende Schönheit“, die nur an wenigen Punkten möglich ist.


20 Weil die Natur der Alpen und der Ausblick auf die Berge heute nicht mehr attraktiv genug sind, werden seit etwa 15 Jahren technische Attraktionen im Gebirge entwickelt, deren Vorbilder aus großstädtischen Freizeitparks stammen. Hier ein „Coaster“, eine Art Achterbahn, in Lienz (Osttirol)(März 2017).

Die Alpen

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