Читать книгу Die Meyerschen – Geschichte in Geschichten - Werner Hetzschold - Страница 6

REVOLUTION DER ELEFANTEN

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„Sind die Menschen die einzigen Lebewesen auf der Welt, die eine Revolution machen?“, fragt der kleine Junge.

Der alte Mann denkt nach, dann antwortet er: „Das ist eine sehr gute Frage, die nicht leicht zu beantworten ist.“

„Ich habe noch Fragen, auf die ich keine Antwort erhalten habe. Meiner Lehrerin habe ich diese Fragen nicht gestellt, auch keinem Jungen aus meiner Klasse. Die Mädchen, die auf alles eine Antwort haben, wollte ich nicht fragen. Ich wollte nicht ausgelacht werden.“ Nachdenklich blickt der kleine Junge den alten Mann an.

„Und warum stellst du mir diese Fragen?“

„Du bist ein alter Mann. Du musst auf diese Fragen eine Antwort finden“, begründet der kleine Junge.

„Dann frage mich“, erwidert der alte Mann.

„Können Tiere denken, sprechen, sich unterhalten wie wir Menschen? Nur wir Menschen verstehen sie nicht, weil wir ihre Sprachen bis jetzt noch nicht enträtselt, entschlüsselt haben. Bis jetzt fehlt uns der Schlüssel, aber wir Menschen werden ihn finden. Davon bin ich fest überzeugt.“ Fragend sind die dunkelbraunen Augen des kleinen Jungen auf das erstaunte Gesicht des alten Mannes gerichtet, erwarten eine zufrieden stellende Antwort.

Der alte Mann will den kleinen Jungen nicht enttäuschen. Ihm ist bewusst, wie wichtig für den kleinen Jungen eine richtige Antwort ist. Auch fühlt er sich geschmeichelt. Der kleine Junge vertraut ihm. Nur ihm allein hat er diese Fragen gestellt. Nur von ihm erwartet er eine umfassende Antwort. Der alte Mann hört sich sagen: „Als ich ein kleiner Junge war, habe ich auch diese Fragen gestellt. Meine Eltern wussten keine Antwort, meine Großeltern waren zu alt dafür. Wie meine Eltern verwiesen auch sie mich an meine Lehrer. „Die müssen es wissen“, sagten sie. „Dafür sind ja Lehrer da, dass sie Antworten finden auf deine Fragen. Ich befolgte ihren Rat, stellten den Lehrern meine Fragen, erhielt umgehend eine ausführliche Antwort. Einmütig erklärten sie mir unabhängig von einander, dass der Mensch das einzige Lebewesen auf der Welt ist, das denken und sprechen kann. Tiere geben nur Laute von sich, die aber nicht mit der menschlichen Sprache verglichen werden können. Auch meine Religionslehrerin teilte diese Ansicht, sonst hatte sie mitunter eine andere Meinung. Sie offenbarte mir, dass der Mensch das von Gott geschaffene einzige vernunftbegabte Lebewesen sei, das er mit der uns von ihm gegebenen Sprache auserwählt habe. Nun hatte ich von allen Seiten die Bestätigung erlangt, dass nur der Mensch denken und sprechen kann, weil er als einziges Lebewesen dieser Welt mit Vernunft ausgestattet sei.“

„Und hast du das tatsächlich geglaubt?“ In den Augen des kleinen Jungen erkennt der alte Mann den Widerspruch, den Zweifel, den er auch zeit seines Lebens nicht aus dem Wege räumen konnte.

„Ich hatte eine andere Meinung“, sagt der alte Mann „und ich habe meine Meinung begründet. Allen habe ich mitgeteilt, auch denen, die es gar nicht wissen wollten, weil sie meine Meinung nicht interessierte. Ich habe gesagt, dass Tiere denken können, dass sie über eine eigene Sprache verfügen, mit der sie sich unter einander unterhalten und dass es darüber hinaus noch eine internationale Sprache gibt, die alle Tiere verstehen, sogar einige Menschen. Nur existieren von diesen Menschen nur sehr wenige. Mir widersprachen alle Erwachsenen, und die Lehrer unter ihnen belehrten mich. Sie sagten, dass Tiere nur einen Instinkt haben, dass Tiere weder denken noch zielgerichtet handeln können wie wir Menschen. Und einige wenige äußerst kluge Lehrer untermauerten ihre Worte mit den Worten von Karl Marx, der da gesagt haben soll: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein!« Sie ließen mich wissen, dass Tiere nie bewusst ihr Leben verändern. Sie hätten keinen Verstand wie wir Menschen, nur einen Instinkt, der ihr Verhalten bestimmt, sie am Leben erhält. Auf meine Frage, was ein Instinkt ist, sagten sie, dass ein Instinkt so etwas wie ein Programm sei, dass den Tieren vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie ihr Leben meistern wollen. Dieses Programm schreibt den Tieren vor, was sie zu tun und was sie zu lassen haben, um am Leben zu bleiben. Mir leuchtete nicht ein, warum der Verstand, die Vernunft, der Intellekt bei den Tieren Instinkt heißt, weil für mich die Tiere oft vernünftiger, klüger, überlegter handeln als wir Menschen. Die Tiere führen keine Kriege, bringen sich nicht gegenseitig um wie wir Menschen, töten nicht, weil sie den anderen nicht mögen. Zumindest als kleiner Junge war ich davon überzeugt, dass die Tiere wie einst auch die Menschen im Einklang mit der Natur leben, sich an ihre Umwelt anpassen, soweit ihnen das die sie umgebende Umwelt zulässt. Wie anpassungsfähig die Tiere sind, beweist die Amsel. Vor ungefähr zweihundert Jahren lebte sie als scheuer, ungemein vorsichtiger Waldbewohner zurückgezogen in dichten Wäldern, mied den Kontakt mit den Menschen. Der Mensch rodete die Wälder, baute Städte und Industrie-Anlagen, legte Felder und Gärten an. Der Mensch nahm den Tieren ihren Lebensraum, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Selbstherrlich entschied er, trug mit seiner Rücksichtslosigkeit zum Untergang vieler Tiere bei. Sie verschwanden. Die Wissenschaftler nennen diesen Vorgang aussterben. Vielen Tieren gelang es, sich mit den Menschen zu arrangieren. Sie passten sich seinem Verhalten an, fanden Unterschlupf in den Städten, in den Garten-Anlagen, in den Parks. Aus der einst furchtsamen, ängstlichen Amsel wurde ein Bewohner, der mitten unter den Menschen lebt, nicht selten ihr Nest auf deren Balkon baut, wenn der Mensch es erlaubt. Darf sie auf den von ihr ausgesuchten Nistplatz bleiben, wählt sie ihn immer wieder für ihre künftigen Bruten. Sie ist aber nicht das einzige Tier, das in der unmittelbaren Nähe des Menschen lebt. Es gibt wohl kaum ein Tier, das keine Berührung mit dem Menschen aufgenommen hat, ganz gleich, wo es sich auf dieser Welt seine Welt gestalten will. Und das wird immer schwieriger. Völker-Explosionen gab es, seit es den Menschen gibt. Hatte der Mensch ausreichend zu essen und zu trinken, genügend Raum, um sich ausbreiten zu können, hatte er viele Kinder, viele Nachkommen. Wurde es zu eng für die Menschen, suchten sich einige unter ihnen neue Lebensräume. Wie bei den Tieren war auch für die Menschen ein Ortswechsel möglich, solange es noch von anderen Menschen nicht bewohnte Länder gab. Jetzt aber sind alle Länder dieser Erde vom Menschen bewohnt. Überall trifft der Mensch auf Menschen, die dort leben, schon immer dort gelebt haben, zumindest behaupten sie es.“

„Und wie lösen die Menschen dieses Problem?“, will der kleine Junge wissen.

„Hast du vielleicht eine Idee?, erwidert der alte Mann. „Was schlägst du vor?“

Der kleine Junge denkt nach. Lange grübelt er, dann verkündet er: „Es dürften nur so viele Menschen auf die Welt kommen, so viele unsere Erde ernähren kann. Und das ist sehr schwierig. Wir Menschen brauchen Platz. Und die vielen Tiere brauchen auch ihren Platz. Wir Menschen können ihnen nicht ihren Lebensraum nehmen, wenn wir nicht wollen, dass sie von unserer Erde verschwinden.“

„Das ist eine vernünftige Lösung, die du anbietest. Nur so viele Lebewesen dürfen die Erde bevölkern, die auch die Erde ertragen, ernähren, ihnen Wohnraum bieten kann. Immer muss das biologische Gleichgewicht gewahrt bleiben, wenn unser Planet keinen Schaden nehmen will. Alles hat seine Grenzen, auch unsere Erde. Werden diese Grenzen überschritten, führt diese Grenzüberschreitung, die eine Grenzverletzung ist, zu Maßnahmen, die bewirken sollen, dass das Gleichgewicht wieder hergestellt wird. Und unser blauer Planet mit allem, was er beherbergt, muss Gegenmittel finden, um wieder Harmonie, ein friedliches Zusammenleben mit einander herstellen zu können. Unsere Erde will keine Kriege, keine Zerstörung, keine Vernichtung ihrer Lebewesen. Unsere Erde will kein toter Planet sein, auf dem alles Leben ausgelöscht wurde.“ Der alte Mann unterbricht seinen Redefluss, erwartet eine Antwort.

„Im Fernsehen habe ich eine Sendung gesehen“, sagt der kleine Junge, „in der gezeigt wurde, dass auch Tiere Krieg führen. Diese Sendung hieß „Der Krieg der Elefanten“

„Wie lautete der Titel dieser Sendung?“

„Der Krieg der Elefanten“, wiederholt der kleine Junge.

„Der Krieg der Elefanten?“ Jede Silbe betonend, wiederholt der alte Mann die Wortgruppe, schweigt. Keine Reaktion erfolgt vom Enkel. Er setzt den Dialog fort. „Dieser Titel sagt aus, dass auch die Tiere wie wir Menschen Krieg führen laut Auffassung der Wissenschaftler. Sie weisen darauf hin, dass die Tiere ein typisches menschliches Verhalten angenommen und übernommen haben, ihren Verstand gebrauchen, um sich zur Wehr zu setzen.“

„Als ich ein kleiner Junge war, konnten die Tiere weder denken noch kommunizieren, nur ein Instinkt wurde ihnen bescheinigt. Und jetzt führen sie Kriege. Welche Erkenntnis! Ich will und kann es nicht glauben, dass die Wissenschaft jetzt zu dieser Erkenntnis gelangt ist. Nur, mein Junge, es reicht nicht aus nur zu glauben. Du musst es wissen! Auch ich habe mich kundig gemacht, viele Bücher gelesen, auch Fachzeitschriften. Im Fernsehen habe ich bewusst die wissenschaftlichen Sendungen ausgewählt, sie gespeichert, um sie gemeinsam mit dir anzusehen, falls du es magst.“

„Wir wollen uns über dieses Thema unterhalten“, schlägt der kleine Junge vor. „Dieses Gespräch ist sicher noch interessanter als die Filme, denn ich kann Fragen stellen, wenn ich etwas nicht verstanden habe.“

„Gut! Dann machen wir es so“, sagt der alte Mann. „Erzähle mir, was du alles in diesem Film gesehen hast.“

Der kleine Junge denkt kurz nach, dann beginnt er: „Der Film spielt in einer Landschaft, die so aussieht, wie ich mir das Paradies vorstelle. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blau. Blau wie das Meer, wie das Mittelmeer. Reisfelder dehnen sich aus. Und Obstplantagen, auf denen die Bauern arbeiten. Heiß ist es, sehr heiß. Die Gesichter der Menschen bedeckt Schweiß. Die Frauen tragen lange weiße Kleider. Ihre Köpfe bedecken bunte Tücher. Die Männer haben sich in weiße Umhänge gehüllt. Ein weißer Turban schützt ihren Kopf. Die Menschen ähneln den Gestalten, denen ich in meinem Buch „Tausend und eine Nacht“ begegnet bin. Sie reden eine Sprache, die ich nicht verstehe. Im Hintergrund dehnen sich dichte, undurchdringliche, geheimnisvolle Wälder aus, die die Grenze bilden zum Reich der wilden, frei lebenden Tiere. Während die Menschen mit der Ernte beschäftigt sind, stürzen große Elefanten lärmend, brüllend und schreiend aus dem Urwald auf die Felder zu, schwingen bedrohlich ihre Rüssel, packen mit ihnen einige Bauern, die sich diesen gewaltigen Tieren entgegen stellen, um ihre Felder vor den Verwüstungen zu bewahren. Die Elefanten verschwinden mit ihrer menschlichen Beute im Dschungel. Das Unglück geschieht am hell-lichten Tag. Am hell-lichten Tag greifen die Dickhäuter die Menschen an. Gewöhnlich erscheinen sie nachts, zertrampeln die Reisfelder, zerstören die Obstplantagen, fressen die Felder kahl. Nachts schicken die Dörfer Wachposten auf ihren Land-Besitz, ausgerüstet mit Petroleum-Lampen, Knall-Körpern, Busch-Trommeln. Früher schreckten die Elefanten beim Einsatz dieser Geräte zurück, ergriffen die Flucht. Jetzt nicht mehr! Sie haben sich an diesen abscheulichen Lärm, an die grellen Lichter, an die Gefahr Mensch gewöhnt.“ Der kleine Junge macht eine Pause.

Der alte Mann hat schweigend zugehört, äußert sich auch jetzt nicht, spürt, sein Gegenüber hat noch mehr zu berichten.

Der kleine Junge setzt seinen Vortrag fort. „Den Grund, die Ursache für diesen Krieg kennen beide Parteien. Nur zu genau wissen sie, dass die Kriege und die Toten jährlich zunehmen, weil der Mensch immer mehr Lebensraum und Nahrung beansprucht. Die Urwälder schrumpfen, müssen Ackerland und Weideflächen weichen. Die Zahl der Elefanten verringert sich. Ihnen verbleibt kaum Lebensraum. Zusehens schmilzt er. Die vom Menschen selbst geschaffenen Naturschutz-Gebiete respektiert der Mensch nicht mehr, verstößt gegen die von ihm selbst erlassenen Gesetze ständig, vernichtet die Wälder und deren Bewohner, beansprucht den blauen Planeten nur für sich, ohne Rücksicht auf seine Umwelt zu nehmen. Der Krieg zwischen Mensch und Tier wird ein schlimmes Ende nehmen.“ Nachdenklich schaut der kleine Junge zu dem alten Mann empor.

„Die Elefanten verhalten sich intelligent und selbstbewusst“, meldet sich der alte Mann zurück. „Es wird berichtet, dass die Elefanten auf den Feldern während der Ernte-Zeit den Bauern die Fackeln während der Nachtwache aus den Händen gerissen haben. Nicht nur die Reisfelder zertrampeln die Elefanten, sie fressen die Ernte, hungrig wie sie sind, zerstören die Wohnhäuser, vernichten die Gärten und die Obstbäume. In den Kriegen zwischen den Menschen und den Tieren wird unerbittlich um Nahrung und Lebensraum gekämpft. Wie schnell die Tiere gelernt haben, offenbart sich in ihrem Verhalten gegenüber dem Menschen. Nicht länger haben sie Angst vor dem Feuer, das einst die Menschen vor den Tieren schützte. Nicht nur die Elefanten haben den Menschen den Krieg erklärt, sondern auch Nashörner, Flusspferde, Löwen und Tiger, um nur einige große Tiere zu nennen. In den Meeren kämpfen die Wale ums Überleben. Überall wehren sich die Tiere, räumen nicht kampflos ihren Lebensraum. Und sie werden immer weniger. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es in Südafrika nur noch eine frei lebende Elefanten-Kuh gibt. Mit ihr sterben die frei lebenden Elefanten in Südafrika aus. In Süd-Ost-Asien und Indien sollen nur noch wenige frei lebende wilde Elefanten vorkommen, sodass sie sicherlich auch bald aussterben wie vor und mit ihnen einige Nashorn-Arten.Viele Tierarten verschwinden von unserer Erde, ohne dass wir es bemerken. Viele Tier-Arten sind bereits ausgestorben, davon bin ich überzeugt, ohne dass wir Menschen ihnen jemals begegnet sind, ohne dass wir jemals ihre Existenz zur Kenntnis genommen hätten. Wir haben ihren Lebensraum zerstört, weil wir diesen Raum für uns in Anspruch nehmen wollten. Wir Menschen haben ihren Lebensraum uns angeeignet, obwohl dieser Lebensraum ihnen gehört. Die Tiere reagieren nur natürlich, wenn sie sich dagegen verwahren, aggressiv werden und den Menschen angreifen, ihn töten wollen. Du musst wissen, mein Junge, das die Tiere fast alle wesentlich älter als wir Menschen sind. Sie lebten bereits, als unsere Ahnen affenähnliche Wesen waren, sich noch auf Bäumen aufhielten.“

„Wie alt sind die Elefanten?“ Fragend sind die Augen des kleinen Jungen auf den alten Mann gerichtet. „Und warum gibt es nur noch Elefanten und keine Mammuts mehr? Wo sind die abgeblieben? Einfach nur aussterben? Das ist zu einfach.“ fügt er noch rasch hinzu.

„Die jetzt noch lebenden Elefanten sind die letzten Vertreter ihrer Art. Jetzt leben nur noch der afrikanische Elefant und der asiatische, auch indische genannt. Manche Wissenschaftler zählen den afrikanischen Wald-Elefanten noch als eine eigene dritte Art dazu. Die Elefanten sind sehr anpassungsfähig. Sogar Wüsten-Elefanten gibt es. Sie sollen die größten Elefanten sein. Und dann sind die Steppen-Elefanten noch in Reservaten anzutreffen. Immer wieder bestätigen die Ranger, die die Elefanten beschützen, wie klug, wie intelligent sie sind, wie schnell sie lernen, was für eine Gefahr von den Menschen ausgeht, die es auf ihren Grund und Boden abgesehen haben. Sie kennen den Menschen und haben ihn durchschaut. Sie sind Augenzeugen seiner Evolution.“

„Warum sind die Mammuts ausgestorben? Warum die anderen vielen Rüsseltiere? Was sind die Ursachen?“ Klima-Veränderungen? Natur-Katastrophen? Zusammenstöße mit anderen Himmelskörpern? Der Mensch?“, hinterfragt der kleine Junge.

„Deine Befürchtungen treffen zu, denke ich.“ sagt der alte Mann. „Der Mensch hat noch nicht gelernt, friedlich und verständnisvoll mit den anderen Individuen dieser Welt zusammen zu leben. Vielleicht schafft er es, bevor es zu spät ist. Jetzt leben nur noch wenige Elefanten in Afrika und Asien, wie du weißt. Noch vor einigen Jahrtausenden bevölkerten verschiedene Arten von diesen Tieren Europa und Asien. Auf den Inseln gab es Zwergformen wie bei allen Großsäugern, die ihr Leben auf einem äußerst begrenzten Raum verbringen mussten. Ich bin überzeugt, der Damhirsch ist der Nachfahre der einstigen Riesenhirsche, die noch während der letzten Eiszeit im Familienverband durch Europa und Asien zogen. Auf dem Festland fielen die Tiere dem Menschen zum Opfer, wurden ausgerottet. Auf den unbewohnten Inseln überlebten sie, entwickelten sich zu mickrigen Kümmerformen, zu unserem heutigen Damhirsch. Viele Großtiere erwartete so ein Schicksal, so auch die Elefanten, die Mammuts. Sie verwandelten sich in Zwergformen. Vielleicht existieren noch einige Zwergelefanten auf Inseln, in abgelegenen Gegenden, die vom Menschen gemieden werden. In Europa durchstreifte der Wald-Elefant die Urwälder. Ein riesiges Tier soll er gewesen sein, wesentlich größer als die jetzt noch lebenden afrikanischen Verwandten. Wald-Elefanten soll es noch in den Urwäldern Afrikas geben, nur sind sie wesentlich kleiner als der Steppen-Elefant. Stell dir vor, wenn ein Wald-Elefant im damaligen Europa solche Riesenformen ausbildete, wie gewaltig muss dann ein Steppen-Elefant gewesen sein, der in Herden wie die Mammuts die geräumigen Gras-Länder Asiens abweidete. Forscher haben nachgewiesen, dass der riesige europäische Wald-Elefant mit dem wesentlich kleineren afrikanischen Wald-Elefanten verwandt ist, die beide gemeinsam eine eigene Art darstellen, verglichen mit der Gruppe der Steppen-Elefanten. Neben der weit verzweigten Familie der Elefanten agierten einst auf dieser Welt die Mammuts, die Mastodonten und viele andere gewaltigen Rüsseltiere, deren lateinische Bezeichnungen ich nicht in meinem Kopf gespeichert habe.“

„So viele unterschiedliche Rüsseltiere haben sich auf unserem Planeten herumgetrieben?!“, sprudelt es aus dem kleinen Jungen heraus. „Und nur so wenige sind von ihnen übriggeblieben! Was ist mit ihnen passiert?“

„Ausgestorben sind sie! Vielleicht hat der Mensch dafür gesorgt. Vielleicht sind auch Klima-Katastrophen daran schuld! Vielleicht auch Umwelt-Einflüsse wie Vulkan-Ausbrüche! Ich denke, dafür sind viele Faktoren verantwortlich“, sagt der alte Mann. „In einem klugen Buch habe ich gelesen, dass es im Laufe der Zeit ungefähr 160 Arten der Rüsseltiere gab, davon allein stammten 130 aus Afrika. Wie ich schon erwähnte, haben die Wissenschaftler fast allen Rüsseltieren lateinische Namen gegeben, die ich unmöglich im Kopf behalten konnte. Auch gelangen die Wissenschaftler immer wieder zu neuen Erkenntnissen, müssen daher die Lebensgeschichte, den Stammbaum der Rüsseltiere neu schreiben. Immer wieder gelangt die Wissenschaft zu neuen, mitunter bahnbrechenden Erkenntnissen. Nunmehr hat die Wissenschaft festgestellt, dass der Savannen-Elefant und der Wald-Elefant zwei unterschiedliche Arten sind. Immer wieder tauchen neue Erkenntnisse, neue Ergebnisse bei der Bestimmung der Rüsseltiere auf. Was heute Gültigkeit hat, kann bereits morgen veraltet, überholt, nicht mehr zeitgemäß sein. Immer wieder stößt die Wissenschaft auf neue Erkenntnisse, stellt das gesamte wissenschaftliche Konzept in Frage.“ Der alte Mann seufzt. „Vielleicht stößt eines Tages die Wissenschaft an ihre Grenzen. Fossilien helfen zwar die Vergangenheit aufzuarbeiten, aber sie sind nur ein winziger erhaltener Bestandteil aus der Epoche, die einmal für sie die Gegenwart mit ihrer immensen Vielfalt war. Ich sage immer, es kann so gewesen sein, es muss aber nicht.“

„Und die Elefanten, die jetzt noch leben, werden in gar nicht langer Zeit ausgestorben sein, nimmst du an?“ Der kleine Junge erwartet eine Antwort.

„So wird es sein“, sagt der alte Mann. „Der Mensch ist mit sich selbst zu sehr beschäftigt. Immer mehr Menschen müssen sich unseren Planeten teilen. Da ist kein Platz mehr für die Tiere in freier Wildbahn. Ihren Lebensraum beansprucht der Mensch. Und die Zahl der Menschen nimmt stetig zu. Von Geburtenkontrolle ist die Rede, aber dann gibt es Religionen, die gegen eine Geburtenkontrolle sich aussprechen. Es wird diskutiert und gestritten, wer Recht hat. Es wird viel geredet, aber nichts gesagt. Die Menschen verlieren viele unnütze Worte, feilschen um die Macht, statt zu handeln, um die katastrophalen Zustände dieser Welt zu verändern. Bald wird der letzte frei lebende Elefant ausgestorben sein. Und viele Arten an Tieren werden ihm folgen. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass die Herrscher in Klein-Asien vor wenigen Jahrtausenden sich Mammuts in ihren Tiergärten hielt. Sie begegneten diesen Tieren auf Abbildungen in den Gräbern der Reichen und Schönen aus dieser fernen Zeit. Damals existierten noch Mammuts, sicher auch Mastodonten, vermutlich auch noch andere Rüsseltiere mit lateinischen Namen. Aber wenden wir uns der Gegenwart zu! Von einem Elefantenbullen habe ich gehört, der fünf Menschen tötete, die sich bei seinem Vormarsch ihm in den Weg stellten. Die Wildhüter tauften ihn auf den Namen Bin Laden. Für viele Menschen ist Bin Laden ein Terrorist. Viele Menschenleben hat er auf dem Gewissen. Der Unterschied zwischen ihm und dem Elefantenbullen ist in meinen Augen ein gewaltiger. Der Elefantenbulle kämpft um sein noch ihm verbliebenes, winziges Territorium und das seiner Artgenossen; um die ihnen verwehrten Überlebenschancen; Osama bin Laden gilt als der Gründer und Anführer der Gruppe al-Qaida. Viele Anschläge überall auf der Welt gehen auf sein Konto und das der Gruppe. Den Wildhütern gelang es schließlich, den Elefantenbullen zu betäuben und in einen Wald abseits der Menschheit zu transportieren. Selbst in den National-Parks hat ein Überlebenskampf der Elefanten und vieler anderer Tiere wegen des Klima-Wandels, wegen der Zerstörung der Natur und ihrer Umwelt begonnen.“

„Ich habe gehört“, fällt der kleine Junge dem alten Mann ins Wort, „dass in Afrika in einem riesigen Naturschutz-Gebiet wegen der Jahre langen Dürre viele Tiere verdursten und verhungern. Die Wälder verschwinden. Alle Pflanzen verdorren, sterben ab. Neben ausgetrockneten Wasserlöchern liegen viele Tiere, viele verhungerte und verdorrte Elefanten sind darunter. Deshalb werden viele Tiere umgesiedelt. Die Dürre ist ein Zeichen des Klima-Wandels. Zunehmend breitet sie sich in Afrika aus. Auch auf die Menschen übt die anhaltende Dürre verheerende Folgen aus. Wie die Tiere müssen auch sie mit Essen und Trinken versorgt werden. Die Wissenschaftler rechnen damit, dass auf die Dürre eine Zeit der Stürme und der Überflutungen sich anschließen wird. Die Welt gerät aus den Fugen. Und ich glaube, Klima-Änderungen, Klima-Schwankungen, Warm- und Eiszeiten gab es immer, solange unsere Erde existiert. Unsere Erde ist nur ein winziges Teilchen im unendlichen Weltraum, abhängig von den dort herrschenden Gesetzen. Aber für die Verschmutzung, für die Ausbeutung, für die Vernichtung der Tiere und Pflanzen auf dieser Erde ist jetzt der Mensch verantwortlich. Je mehr er Besserung gelobt, desto weniger tut er dafür. Zu viele unterschiedliche Interessen beeinflussen sein Handeln. Er hat zwar begriffen, dass nicht unzählige Menschen auf der Erde ihr Auskommen finden, aber er tut nichts dagegen, außer reden, bewirkt aber damit nichts, außer dass die Schulschwänzer gefördert werden, die von einer Demonstration zur nächsten fahren, fliegen, um Klima-Aktivisten und Gesundheits-Aktivisten zu spielen, um den Klima-Notstand zu verkünden und mehr Klima-Gerechtigkeit zu fordern. Schon oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein wird, wenn der Mensch auf der Erde nicht länger sein Unwesen treiben wird. Ich habe mir schon vorgestellt, ob sich alle Tiere vom Menschen ausrotten lassen oder sich ihm widersetzen. Lange habe ich darüber nachgedacht, bin zu dem Ergebnis gelangt, dass ihn nicht die großen Tiere daran hindern, sondern die kleinen. Viele große Tiere hat er auf dem Gewissen. Und die paar, die noch leben, werden ihm bald zum Opfer gefallen sein. Zwar brüstet er sich, dass er die von ihm ausgelöschte Flora und Fauna wieder zu neuem Leben erwecken kann mittels seiner Klone. Nur was wird das für eine Welt sein, auf der nur Klone und künstliche Intelligenz herumspuken, herumtoben. Vielleicht kommt es aber gar nicht dazu. Ich habe nämlich ein Tier ausfindig gemacht, dass den Menschen überlegen sein kann. Du wirst es nicht glauben, mein Junge, es ist die Ratte. Die Ratte ist nicht nur ein äußerst intelligentes Tier. Sie ist auch in der Lage, auf dem vom Menschen bewohnten Land von ihm vielfach unbemerkt zu siedeln. Sie lebt auf der Erde, unter der Erde in weit verzweigten Höhlensystemen und über der Erde auf Sträuchern und Bäumen. Sie ist anspruchslos, bescheiden, stellt keine hohen Anforderungen an ihre Umwelt. Sie hat sogar Vorkoster, die bei den Menschen nur die Entscheidungsträger auf höchster Ebene haben. Sie könnten den ehrgeizigen, skrupellosen Menschen überleben. Ich stelle mir vor, wenn unsere Erde ohne Menschen ist, wird unser blauer Planet erst einmal tief und gründlich aufatmen, sich von seinen vielen vom Menschen verursachten Krankheiten erholen, langsam genesen und gesund werden. Für mich ist die Erde wie alle Lebewesen auf ihr ein Lebewesen, das sehr widerstandsfähig ist, aber nicht unzerstörbar. Diese Erkenntnis vertraue ich aber nur dir an.“

„Für mich ist das eine große Ehre. Ich werde deine Geheimnisse für mich behalten, nicht ausplaudern. Sie sollen unser großes Geheimnis sein.“ Der alte Mann ist gerührt. Bevor er weiter sprechen kann, setzt der kleine Junge seine Rede fort. „Mich interessiert die Geschichte unserer Erde! Wie sich alles verändert, mit und ohne Zutun des Menschen. Und ich habe erkennen müssen, dass der Mensch, bewertet mit den Maßstäben, die bei der Berechnung des Kosmos zu Grunde gelegt werden, gerade erst geboren worden ist, noch in den Windeln liegt, seine Notdurft entsorgen für ihn andere. Die Familien der Säugetiere sind alle viel älter als die Familie des Menschen und seiner nächsten unmittelbaren Verwandten. Die zahlreiche Familie der Rüsseltiere bevölkert seit vielen Millionen Jahren die Erde, die der Ratten war sogar Zeitzeuge der Dinosaurier. Diese enorme Zeitspanne haben Forscher, Wissenschaftler herausgefunden. Ich habe erfahren, dass der früheste Säugetier-Vorfahr eine Ratten-Maus gewesen sein soll. Vor fast 150 Millionen Jahren soll sie gelebt haben. Sie sollen ausgesehen haben wie unsere Mäuse und Ratten, trugen ein Fell und suchten nachts ihre Nahrung. Sie waren ja den Sauriern hilflos ausgeliefert, mussten sich vor ihnen schützen. Dabei gebrauchten sie ihren Intellekt. Die Wissenschaftler erblicken in diesen Ratten-Mäusen die Vorfahren der Säugetiere. Da der Mensch zur Gruppe der Säugetiere gehört, ist er logischer Weise ein Nachfahre dieser Ratten-Mäuse. Diese Ratten-Mäuse sind nicht einfach ausgestorben. In den Karibischen Spitzmäusen haben sie die vielen Millionen Jahre bis in die Jetzt-Zeit überlebt. Mit den spanischen Konquistadoren kamen die in Spanien lebenden Ratten auf die Insel, verdrängten ihre altertümlichen Vorfahren, haben ihren scheinbaren Verlust vielleicht auf dem Gewissen. Noch heute existieren kleine und kleinste Insektenfresser, deren frühester Ahn-Herr diese Ratten-Maus war, die nach dem Aussterben der Saurier deren frei werdende Nischen übernehmen konnte. Diese Karibischen Spitzmäuse, so stellten die Wissenschaftler fest, sind spätestens im 19. Jahrhundert ausgestorben, doch ich bin überzeugt, einige werden überlebt haben. Wie sie ihre Existenz den aus Spanien eingeschleppten Ratten verbergen konnten, ist es für sie ein Leichtes, den Menschen und deren intellektuellen Superhirnen, den Wissenschaftlern, ihre Anwesenheit zu verbergen. Sie entziehen sich als Beute nicht nur ihrer Sippe aus Europa, sondern auch dem unermüdlichen Forscher-Drang der Wissenschaftler. Sie wollen ihnen nicht als genetisches Forschungsmaterial zur Verfügung stehen. Sie wollen inkognito bleiben. Vielleicht gelingt es den Wissenschaftlern Knochen und Zähne von ihnen aufzuspüren, die sich wie die Schlitzrüssler auf den isoliert liegenden Inseln erhalten haben könnten. Einst waren diese Tiere nicht nur auf diesen isoliert liegenden Inseln zu Hause, sondern auch auf den Kontinenten in den Regionen, in den sie eine Lebensgrundlage fanden. Schuld an ihrem Verschwinden sind ihre vielen Nachkommen, die sich im Verlaufe der Jahrmillionen erfolgten Evolution aus ihnen entwickelt haben. Sie fielen deren Kannibalismus zum Opfer.“ Der kleine Junge verstummt, macht eine Pause, will seine Gedanken ordnen.

Der alte Mann nutzt die Pause. „In einer wissenschaftlichen Zeitschrift habe ich gelesen, dass die Karibischen Spitzmäuse und die auch dort auf den einst unbewohnten Inseln lebenden Schlitzrüssler die nächsten Verwandten der Ratten-Maus sein sollen, die schon vor dem Untergang der Dinosaurier überall auf der Erde zu finden waren. Sie gediehen dort, wo es warm war, wo es viele Insekten gab. Auch ich bin mir sicher, dass die spanischen Eroberer, vielleicht auch zeitlich weiter zurückliegende Seefahrer sie unbeabsichtigt als blinde Passagiere in die Neue Welt einführten. Die Neuankömmlinge waren den Ureinwohnern sicherlich geistig und körperlich überlegen, beanspruchten auch deren Lebensraum. Ratten verfügen über eine ausgeklügelte Sozialstruktur, die der Mensch, soweit ich weiß, noch nicht entschlüsselt hat. Äußerst intelligent sind sie, unwahrscheinlich anpassungsfähig und beglücken die Welt mit ihren unzähligen Nachkommen. Ratten verkörpern das Erfolgsmodell der Evolution. Die Ratten gehören zu den Nagetieren. 2000 Arten haben die Wissenschaftler registriert. Sie bilden laut Wissenschaft die erfolgreichste und größte Gruppe unter den Säugetieren. Mehr als 50 verschiedene Ratten-Arten soll es weltweit geben. In Deutschland sind die Hausratte und die Wanderratte heimisch. Die Wanderratte, ihr Name ist geradezu treffend gewählt, ist ein Kosmopolit und die erfolgreichste unter allen Rattenarten. Die Wanderratte ist irgendwann in der Vergangenheit in Europa aus Süd-Ost-Asien eingetroffen, hat sich schnell mit ihrer neuen Umgebung arrangiert, setzt ihre Erfolgstour fort. Schon allein körperlich ist die Wanderratte der Hausratte überlegen. Sie übertrifft die Schwarze Ratte, wie die Hausratte wegen der Farbe ihres Felles auch genannt wird, um etwa zehn Zentimeter und ist mit fast 600 Gramm mehr als doppelt so schwer wie ihre schwarze Verwandtschaft. Beide Arten sind Allesfresser. Die Hausratte wählt pflanzliche Kost, während die Wanderratte auch Fleisch-Speisen verzehrt, sogar Fisch, den sie als ausgezeichnete Schwimmerin und Taucherin selbst fängt. Bei der Wahl des Wohnraumes ist ersichtlich, dass die Hausratte mehr Komfort wünscht. Sie bevorzugt in den obersten Etagen der Häuser die Dachkammern und Trockenböden. Diese Räume bieten Wärme und trockene Übernachtungsmöglichkeiten. Verglichen mit der Wanderratte ist sie geradezu verweichlicht und störungsanfällig. Da die Dachgeschosse kaum noch als Trockenräume, Dachböden, Vorratsspeicher, Abstellkammern genutzt werden, verringert sich zusehends der Lebensraum der Hausratte, führt dazu, dass sie in Europa in naher Zukunft aussterben wird.“ Der alte Mann erhebt sich von seinem Stuhl, geht in die Küche, kehrt mit zwei Gläsern und einer Flasche mit Apfelsaft zurück. „Du trinkst doch auch Apfelsaft“, wendet er sich an den kleinen Jungen. „Viel und lange reden macht durstig!“ Er füllt die beiden Gläser, stellt sie auf den kleinen Tisch, der zwischen ihnen steht, setzt sich.

„Über Ratten habe ich eine Sendung gesehen, die sehr informativ war“, nimmt der kleine Junge das Gespräch wieder auf. „Da wurde auch das berichtet, was du mir gerade erzählt hast und noch vieles mehr. Zum Beispiel wurde gesagt, dass die Wanderratten bei uns ideale Lebensbedingungen vorfinden. Für sie sind die Kanalisationen ein Paradies. Sie fühlen sich im Untergrund besonders wohl, legen Gänge an, erweitern sie zu Gangsystemen, zu unterirdischen Welten. Überall können sie leben, auf der Erde, unter der Erde, im Hellen und im Dunklen. Gelesen habe ich, dass sie einen ausgeprägten Familiensinn haben, ihren Nachwuchs innerhalb der Großfamilie aufziehen, sich nach Streicheleinheiten sehnen, sich an einander schmiegen. Innerhalb der Gemeinschaft herrscht eine Hierarchie, die jedem Mitglied seinen Platz zuteilt. Gemeinsam fühlen sie sich stark, verteidigen ihre Gemeinschaft, haben Verhaltensformen ausgeprägt, die sie bisher vor dem Menschen geheim halten konnten. Mit vielen unterschiedlichen Lauten verständigen sie sich. Ihre Sprache ist bis jetzt dem Menschen verborgen geblieben. Innerhalb der Gemeinschaft kommt es auch zu Streitereien, wenn sich die eine oder die andere Ratte missverstanden fühlt. Dann entpuppt sie sich zum Einzelkämpfer.“

„Nicht genug kann ich es betonen, dass die Ratte, besonders die Wanderratte ein Erfolgsmodell ist“, bringt sich der alte Mann in das Gespräch ein. „Viele Nachkommen setzt ein Rattenpärchen in die Welt entsprechend des vorgegebenen Nahrungsangebotes. Die Ratte ist widerstandsfähig, neugierig, geradezu wissbegierig, sozial veranlagt und äußerst intelligent. Für mich sind sie die pfiffigsten, die schlauesten, die klügsten Tiere, die auf unserem Planeten zu Hause sind.“

„Aber die Mäuse sind ihrem großen Bruder sehr ähnlich“, sagt der kleine Junge. „In einer Zeitschrift habe ich gelesen, dass Wissenschaftler nicht nur die Intelligenz der Mäuse messen, sondern auch erforschen, ob sie wie wir Menschen dazu neigen, eine Persönlichkeit darzustellen. Sie haben herausgefunden, dass es Mäuse gibt, die sehr neugierig sind, die ihre Umgebung ausspionieren. Und dann gibt es wieder Mäuse, die ängstlich sind, sich nicht aus ihrem Nest herauswagen. Diese Erfahrung habe ich selbst machen dürfen. Das liegt mehr als ein Jahr zurück. Einige der Mäuse, die ich in einem großen Behältnis aus Glas züchtete und die offenbar starke Persönlichkeiten waren, büxten aus, ließen sich schwer nur wieder einfangen. Meine Mutter erregte sich so, dass sie von einem Herzinfarkt sprach, der ihr gedroht hätte. Mein Vater sah diese Mäuse-Flucht wesentlich lockerer. Große Anstrengung wurden uns abverlangt Die Mäuse waren echte Persönlichkeiten, deren Verhalten bestimmt die Wissenschaftler interessiert hätte. Leider konnten sie nicht für die Wissenschaft tätig werden. Meine Eltern übergaben sie dem Tierheim. Zumindest sagten sie es mir, beruhigten mich mit den Worten: „Dort haben sie es gut!“

„Auch ich habe von diesen Versuchsreihen gehört“, sagt der alte Mann. „Die Gehirne, die Gene der Mäuse stehen zum wiederholten Male auf dem Prüfstand. Die Wissenschaftler konnten den Beweis erbringen, dass die Mäuse genetisch und intellektuell sich wie wir Menschen unterscheiden. Die Forscher haben die individuellen Unterschiede in der Psychologie und damit im Verhalten der Mäuse herausgefunden und wissenschaftlich anhand der Studien und Aufzeichnungen belegt.“

„Immer wieder staune ich, was die Wissenschaft alles vermag“, sagt der kleine Junge.

„Zu meiner Zeit war das völlig anders“, antwortet der alte Mann. „Da wurden den Tieren alle die Fähigkeiten abgesprochen, über die sie heute laut der Forscher verfügen. Die Tiere folgten ihrem Instinkt, besaßen keinen Verstand, keinen Intellekt. Ich kann mich noch erinnern, da wurde der Bonobo als Zwergschimpanse bezeichnet. Für mich stand fest, dass er eine eigene Art verkörpert. Er gehört zwar zu der Gruppe der Menschenaffen, wirkte aber auf mich viel menschlicher als der Schimpanse, der am nächsten mit uns verwandt sein soll. Damals war ich so alt wie du jetzt bist, begeisterte mich für die Flora und Fauna dieser Welt, wollte später unbedingt einmal Förster werden.“

„Aber daraus ist nichts geworden“, wendet der kleine Junge ein.

„So ist es oft im Leben! Es verläuft völlig anders! Aber ich wollte von den Bonobos erzählen“, nimmt der alte Mann den Gesprächsfaden wieder auf. „Jetzt sind sich die Wissenschaftler einig, dass der Bonobo neben dem Schimpansen der engste Verwandte des Menschen ist. Nur etwas kleiner, zierlicher als der Schimpanse sind sie, dafür aber graziler, leichter, in meinen Augen, menschenähnlicher gebaut. Müsste ich einen Steckbrief von den Bonobos anfertigen, beschriebe ich sie wie folgt: Die Bonobos verkörpern die kleinste Menschenaffenart. Auffallend ist, dass die Weibchen und die Männchen annähernd gleich groß sind. Bei den anderen Menschenaffen sind die Männchen wesentlich größer und kräftiger als die Weibchen. Bei den Bonobos gibt es keine Clan-Chefs, eine eher flache Hierarchie, an deren Spitze ein Weibchen steht. In den Clans der Bonobos triumphiert das Matriarchat, bei allen übrigen Menschenaffen das Patriarchat. Sie leben in Zentralafrika wie die Schimpansen. Der Kongo, ein gewaltiger Fluss, bildet die natürliche, nicht zu überwindende Grenze zwischen ihren Territorien. Gäbe es nicht diesen breiten Strom zwischen ihren Reichen, hätten die kriegerisch veranlagten Schimpansen sicher schon längst die friedliebenden Bonobos ausgerottet oder in eine andere lebensfeindliche Umgebung verdrängt. Nicht leicht ist das Leben der Bonobo. Wilderer verkaufen ihr Fleisch, das auf dem Markt wie das der Schimpansen und anderer Affenarten als Busch-Fleisch angeboten wird. Krankheiten bedrohen sie. Der Verlust ihres Lebensraumes durch den Menschen gefährdet ihre Existenz wie die aller Tiere. Empfindlich und empfindsam wie sie sind, hinterlässt der Überlebenskampf seine puren. Friedfertig wie sie sind, gehen sie jedem Aggressor aus dem Wege. Begegnungen zwischen den einzelnen Clans verlaufen friedlich. Gorillas, denen sie begegnen könnten, weichen sie rechtzeitig aus nach dem Motto „Der Klügere gibt nach.“ Des Öfteren habe ich darüber nachgedacht, wie das Leben auf unserer Erde weitergehen wird, wenn es keine Menschen mehr gibt, aber noch viele Vertreter der Flora und Fauna. Die Menschenaffen haben sich nicht umgebracht. Sie atmen auf wie alle noch verbliebenen Tiere, dass die größte Gefahr aller Tiere und Pflanzen nicht mehr existiert. Ob sich dann die Evolution wiederholt? Ob dann Schimpansen und Bonobos als die engsten Verwandten des Menschen zu menschenähnlichen Lebewesen mutieren, sich entwickeln? Ich weiß es nicht. Und ich bin überzeugt, die Wissenschaft wird es auch nicht wissen. Immer wieder stürmen neue Erkenntnisse, neue Forschungsergebnisse der Wissenschaft auf uns ein. Vor gar nicht langer Zeit bin ich mit der Meldung konfrontiert worden, dass ein neuer Vorfahre des Menschen in Europa entdeckt worden sei. Eine bisher sich vor der Wissenschaft verborgen gehaltene Primatenart wurde in Süd-Deutschland entdeckt. Vor etwa zwölf Millionen Jahren lebte dieser Ahn-Herr des Menschen. Als Fortbewegungsmittel benutzte er neben dem Klettern und dem Hangeln von Baum zu Baum den aufrechten Gang, von dem die Wissenschaft angenommen hatte, er sei in Afrika entwickelt worden. Nun gelangt die internationale Wissenschaft zu der Erkenntnis, dass der aufrechte Gang bereits von diesem Vertreter des gemeinsamen Vorfahrens der Menschen und der Menschenaffen zur Anwendung kam. Die Geschichte der Menschheit muss neu geschrieben werden. Aus bisher sechs Millionen Jahren Evolution sind zwölf Millionen Jahre geworden. Damals bedeckte Süd-Deutschland ein feucht-warmer Regenwald ähnlich dem, der sich noch in Zentral-Afrika teilweise erhalten hat. Die Skelette dieser Primaten gleichen denen der Bonobos. Einige Knochen dieser Individuen sollen sogar mehr denen des Menschen entsprechen als denen der Primaten.“

„Mich begeistern solche Berichte.“ Der kleine Junge ist Feuer und Flamme. Begeistert fährt er fort: „Immer wieder entdecke ich unsere Erde neu. Immer tiefer dringen wir Menschen in die Geheimnisse unseres Blauen Planeten. In einem Buch über die Saurier las ich, dass diese Lebewesen, wären sie nicht ausgestorben, einen Dinosaurier-Mensch gezeugt hätten. Wissenschaftler sind der Auffassung, dass dieser Saurier zu solchen intelligenten Wesen hätte mutieren können, wenn nicht ein Asteroid sie und ihre vertraute Umwelt vernichtet hätte. Ein menschenähnliches Modell dieses Super-Saurier-Menschen haben die Wissenschaftler auf der Grundlage ihrer fundierten wissenschaftlichen Ergebnisse als Modell kreiert. Dieser Super-Saurier-Mensch ist 140 cm groß, bewegt sich auf zwei Beinen vorwärts. Seine Vordergliedmaßen nutzt er als Hände. Diese Nachbildung dieses Super-Saurier-Menschen ist in einem Museum in den Vereinigten Staaten von Amerika zu bewundern. In dem Buch war eine Abbildung dieses Sauriers zu sehen, wie er im Begriff ist eine Ratten-Maus zu verspeisen.“

„Neben den Krokodilen und den Schildkröten gehören die Ratten und Mäuse zu den Tieren, die zu den ältesten Arten der Fauna gehören und damit die erfolgreichsten Vertreter darstellen“, stellt der alte Mann nachdenklich fest. „Nicht die körperlich größten und stärksten Tiere haben überlebt, sondern die anpassungsfähigsten, die anspruchslosesten, die genügsamsten, die überall noch einen Lebensraum fanden, den kein anderes Tier bisher für sich und seinen Nachwuchs nutzte. Hier bewahrheitet sich erneut das dialektische Prinzip von Ursache und Wirkung. Alles befindet sich in einem dialektischen Wechselverhältnis, alles ist in Wechselwirkung begriffen. Nirgends und nirgendwo gibt es irgendwann Stillstand. Alles ist in Bewegung. Das Ziel kennt oft niemand, nicht einmal die gelehrten Wissenschaftler. Irgendwann hat irgendwo ein kluger Kopf gesagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Ich glaube, treffender kann diese Erleuchtung nicht zum Ausdruck gebracht werden, zumindest ist diese Feststellung mein individueller Standpunkt.“

„Ausgangspunkt unserer Unterhaltung war die Revolution der Elefanten. Wir haben erkennen und begreifen müssen, dass im Jetzt und Hier viele Tiere Widerstand gegen den Menschen ausüben, weil er ihnen die Lebensgrundlage nimmt, sie zum Aussterben verurteilt. Sie begehren dagegen auf, führen einen unerbittlichen Krieg mit dem Menschen, den sie verlieren werden, weil sie nicht so skrupellos, so selbstherrlich sind wie die Menschen, nicht über die vom Menschen ersonnenen Waffen verfügen.“ Der kleine Junge hält inne, überlegt nur kurz, dann fährt er mit seinem Vortrag fort. „Alle großen Tiere, auch die in Afrika sind zum Untergang verurteilt, selbst wenn ihnen als Bleibe Naturschutzgebiete, Reservate zur Verfügung gestellt werden. Die Naturschutzgebiete sollen nur den Raubbau, verursacht durch den Menschen, überall auf der Erde beschönigen, den Menschen in ein positives Licht rücken. Diese Naturschutzgebiete werden schrumpfen, immer kleiner werden. Die Tiere werden keinen Gen-Austausch erleben, Krankheiten, Seuchen zum Opfer fallen. In naher Zukunft wird vom letzten frei lebenden Elefanten auf dieser Erde die Rede sein, vom letzten Flusspferd, Nashorn, der letzten Giraffe. Lautlos werden sie verschwinden. Die wenigen Wölfe, Bären, Luchse, die jetzt wieder heimisch in Europa sind, werden von den Menschen als Gefahr empfunden, wieder abgeschossen, getötet. Der Mensch ist in der Lage das Mammut, das Mastodont, den Ur oder Auerochsen, den Höhlenbären, den Riesenhirsch zu klonen. Wo sollen aber diese Tiere auf ihrem einstigen Territorium in Europa, in der Welt leben? Stell dir vor, der Mensch begegnet auf seinem Spaziergang im Stadtpark einem dieser Tiere, steht unvermutet einem hoch aufgerichteten Höhlenbären gegenüber! Oder ein Kurznasenbär verfolgt mit 50 Stundenkilometern das erst jüngst erworbene, selbst sich steuernde Riesenfahrzeug eines biederen Mitmenschen! Diese Tiere würden umgehend nach ihrer Wiedererstehung in einem Hochsicherheitstrakt in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt, aus dem es kein Entweichen, kein Entrinnen gibt, das dem Menschen mit dem Namen Tierpark suggeriert, dass an alles gedacht wurde.“

„Wenn es mit dem Aussterben der Tiere so weitergeht, teilt sich der Mensch in naher Zukunft nur noch mit den Haustieren die Welt. Vielleicht wird das bald auch nicht mehr nötig sein, denn dann ersetzt der Mensch das Fleisch der geschlachteten Haustiere durch das synthetisch produzierte entsprechend seiner Wahl. Nur diese Zeit möchte ich nicht mehr erleben“, gesteht der alte Mann.

„Ich biete ein anderes Modell an“, sagt der kleine Junge. „Wenn der Mensch alle Tiere auf dem Gewissen hat, entbrennt ein erbarmungsloser Kampf zwischen ihm und der Wander-Ratte. Sie wird er nicht bezwingen. Im Gegensatz zu ihm fühlt sie sich in der Unterwelt wohl, gedeiht prächtig in den Kanalisationen dieser Welt oder in den von ihr geschaffenen Gängen im Erd-Reich, findet überall ihr Auskommen. Der Mensch wird Probleme haben, wenn er sich in der Kanalisation die zum Überleben notwendige Speise zusammenklauben muss. Die Wander-Ratte wird den Menschen besiegen. Seit vielen, vielen Millionen Jahren ist sie ein Erfolgsmodell, hat als Art in vielen Varianten in Form der Ratten und Mäuse überlebt, hat als Ratten-Maus den Untergang der Saurier live erlebt und setzt ihr Leben ungebrochen fort, auch ohne den Menschen.“

„Deine Vision ist nicht von der Hand zu weisen“, pflichtet der alte Mann dem kleinen Jungen bei. „Deine Gedanken können reale Wirklichkeit werden, auch wenn wir es nicht hoffen. Aber wir wissen nicht, wie das Leben so spielt. Unser Planet mit seinen vielen Lebewesen und deren ständigen Veränderungen hat extreme Klima-Schwankungen stets überlebt, aber der vom Menschen erzeugte Müll ist einzigartig neu auf dieser Welt, damit müllt sich der Mensch zu, erstickt in ihm. Der Mensch muss nicht nur reden, sondern handeln wie vernunftbegabte Wesen. Und die Entscheidungsträger müssen nicht nur predigen, was gut und was schlecht ist, sondern es auch vorleben. Mein Lieblingsdichter entlarvte die Herrscher-Clique seiner Zeit mit den Worten: »Öffentlich predigten sie Wasser und heimlich tranken sie Wein.« Seine Worte sind noch immer höchst aktuell, haben nichts von ihrer Brisanz verloren.“

„Ein weiteres Szenario wäre“, reißt der kleine Junge das Wort an sich, „wenn der Mensch weiter von dem irrsinnigen Glauben beseelt ist, die Krone der Schöpfung zu sein und in seinem frevelhaften Übermut, in seiner Überheblichkeit fortfährt, sich gegenseitig zu beschuldigen, wer der größte Mörder unseres Planeten ist. Dann geht die schönste aller Welten auf der Grundlage der vom Menschen ersonnenen Wohltaten und von ihm an ihr verübten Streicheleinheiten unter. Unser Planet wird nicht etwa in 5 Milliarden Jahren, wie die Wissenschaft errechnet hat, als Bestandteil unseres Sonnensystems am so genannten Schwarzen Loch mitwirken, sondern sich in absehbarer Zeit in Sternen-Staub verwandeln, falls der Mensch fortfährt, unseren Blauen Planeten so zu behandeln wie bisher. Unsere Erde ist ein in sich geschlossener Kosmos, ein Lebewesen wie du und ich.“

Gütig weise lächelnd verkündet der alte Mann: „Deine Prophezeiung wird Realität werden, wenn die Menschen weiter liebe Gott spielen.“

Der kleine Junge entgegnet: „Ihr Alten habt doch auf Alles eine Antwort, überhäuft uns mit euren Weisheiten, ermahnt uns mit euren Hinweisen, die keiner mehr hören will.“

„Als ich ein kleiner Junge war“, erwidert der alte Mann, „war die Situation keine andere. Ich wurde nur belehrt und gebildet, hatte mich mit dem Vorgegebenen abzufinden, durfte keinen Protest anmelden. Ich betrachte es als Fortschritt, dass die vielen kleinen Mädchen und Jungen jetzt protestieren dürfen, ihre Ansichten sagen können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Es gibt sogar unter ihnen eloquente Wortführer, die die Alten öffentlich beschimpfen. Diesen geschwätzigen, aggressiven, unsachlichen Wortschwall bezeichnen sie als Wort-Kunst. Für mich stellt dieser von Hass diktierte Wort-Erguss nur eine Hass-Tirade dar, die die hemmungslose Niveaulosigkeit der aktuellen deutschen Sprache innerhalb unserer menschlichen Gesellschaft widerspiegelt. Die Geschmacklosigkeit des Liedes „Oma ist ne alte Umweltsau“, das von einem Kinderchor gesungen wurde, ist an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten. Die Empörung äußerte sich in einer Demonstration vor dem Rundfunkgebäude. Den Machern dieses literarischen Kunstwerkes wurde vor allem vorgeworfen, dass sie sich einer Instrumentalisierung der Kinder schuldig gemacht hätten. Die ehrenhaften Produzenten, finanziell höchst honoriert und abgesichert innerhalb der Gesellschaft, auf den obersten Sprossen der Karriere-Leiter stehende Persönlichkeiten aus der Kunst-Szene, entschuldigten sich in aller Öffentlichkeit für den Fauxpas, der unbeabsichtigt und bedauerlicherweise als ein Affront vonseiten der älteren Bürger dieses gelobten Landes empfunden wurde. Dabei sollte dieses einprägsame Stimmungslied nur als eine schlichte, allgemein verständliche Satire verstanden werden. Die Macher des Kunstwerkes konnten nicht nachvollziehen, dass der Text des Liedes „Oma ist ne alte Umweltsau“ keine Begeisterungsstürme vor allem bei den Rentnerinnen und Rentnern hervorrief, die mit ihrer üppigen Rente sich den Luxus leisten können, Discounter-Fleisch genießen zu dürfen. Ein Welt-weit berühmter Satiriker deutschsprachiger Zunge vertritt die Auffassung, dass für diese Discounter-Fleisch fressenden Omas und Opas der originelle Name Umweltsau, der allgemeine Heiterkeit auslöst, als witziges künstlerisches Mittel gerechtfertigt ist. Vor Jahren hatte ich Gelegenheit, ein Form vollendetes Gedicht über einen ausländischen Politiker lesen zu dürfen, in dem sich dieser wortgewaltige Dichterfürst künstlerisch-kritisch mit den subtilen Mitteln der Satire über diesen Staatsmann lustig macht. Dieses Kunstwerk dieses Barden beschäftigte nicht nur Anwälte, sondern auch Gerichte wie der Song „Oma ist ne alte Umweltsau“. Für mich ist diese höchst aktuelle, geradezu stimmungsvolle Bereitschaft mit explosivem Zündstoff auf allen Ebenen der Gesellschaft, sich mit diesen satirischen Spitzenprodukten deutscher Unterhaltungskunst sogar mittels der Gerichte auseinanderzusetzen, ein Beweis dafür, welche Blüten innerhalb der deutschen Kunst und Kultur sprießen und gedeihen. Es sind erhabene, einprägsame und unvergessliche Verszeilen, die die deutsche humorlose Seele erschüttern und aufwühlen. Ich entsinne mich, dass mir als kleiner Junge gesagt wurde, sei du selbst. Sehr früh erkannte ich, wenn ich mir jede Zurechtweisung ersparen will, sollte ich besser nicht diesen Hinweis beachten. Nur Ärger hätte er mir eingebracht. Meine Eltern, meine Großeltern, die Gesellschaft hätte mein Fehlverhalten mich spüren lassen. Selbst die Tiere haben begriffen, dass dieser Slogan nur Probleme für sie bereitet. Ich erinnere nur an die Revolution der Elefanten. Sie machen mit ihrer Aktion den Menschen darauf aufmerksam, dass es eine Revolution gibt, wenn die einen nicht mehr können und die anderen nicht mehr wollen. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Nur wohin sollen die Tiere gehen, wenn der Mensch ihnen ihre Siedlungsräume entreißt, um sie sich unter den Nagel zu reißen. Meine Großmütter überschütteten mich mit einer weiteren Lebensweisheit. „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“ Diese Sentenz wurden sie nicht müde, fleißig zu wiederholen. Stell dir vor, wenn ein hungriger Löwe ohne Lebensraum dieses Prinzip berücksichtigt und den Kosmopolit Mensch aus purer Verzweiflung frisst, weil der ihm alles genommen hat, nicht nur ihm, sondern allen Lebewesen, mit denen er sich das Paradies teilte.“

„Beherrschst du noch weitere solche klugen Sprüche“, stichelt der kleine Junge.

Der alte Mann überhört die Ironie, bezieht sich auf die Frage des kleinen Jungen. „Als ich jung war, bin ich mit den wortgewaltigen Sprüchen von Karl Marx, von Lenin und vielen anderen, deren Namen ich vergessen habe, aufgewachsen. Damals langweilten sie mich. Sie gehörten zum Pflicht-Programm. Jetzt als alter Mann gefallen mir die Bonmots von Karl Marx oder die ihm zugeschrieben werden. Sie sind witzig, regen zum Nachdenken an, sind nicht nur Wortspielereien. Es sind Weisheiten, Erkenntnisse, die sicher so alt sind wie die Menschheit. Sie drücken die Erfahrungen des Menschen aus, die er während seiner Evolution machen durfte.“

„Gib einmal einige zum Besten!“, ermutigt ihn der kleine Junge.

Der alte Mann denkt nach. Nur einen Augenblick, dann spult er die Bonmots ab, die er offensichtlich auswendig beherrscht, sie verinnerlichte, zu seinen Lebensmaximen gemacht hat. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Ersetze das Subjekt „die Philosophen“ durch die Substantive Politiker, Volkstribunen, Genossen, Entscheidungsträger, Diktatoren, dann erzeugst du Aussagen mit einer interessanten Wirkung, die zum Nachdenken anregen. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. Oder. Freiheit ist ein Luxus, den sich nicht jedermann leisten kann. Treffender sind diese Erkenntnisse nicht auszudrücken. Oder die Formulierung: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Stell dir vor, mein Junge, wenn die Besetzung eines Amtes von den Fähigkeiten des Bewerbers abhängig gemacht würde. Ich bin überzeugt, die Welt sähe anders aus. Alle Entscheidungsträger, ob bewusst oder unbewusst, handeln entsprechend der Devise, der Zweck heiligt die Mittel. Ich könnte es auch so formulieren, dass die Klasse, die die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, zugleich auch ihre herrschende geistige Macht ist. Die herrschende Macht bestimmt und legt juristisch fest, ob der Zweck geheiligt ist oder auch nicht. Wenn die herrschende Macht das darf, dann ist der von ihr gewählte Zweck unheilig. Treffender kann es nicht gesagt werden. Eine weitere aufschlussreiche Erkenntnis ist die, dass alle Revolutionen bisher nur eines bewiesen haben, nämlich, dass vieles sich ändern lässt, bloß nicht die Menschen. Immer wieder bewahrheitet sich und sicher bis in alle Ewigkeit, dass jeder Schritt echter Bewegung wichtiger ist als alle Programme. Gerade in unserer unmittelbaren Gegenwart spüre ich kontinuierlich, dass sehr viel geredet wird, ohne etwas zu sagen. Immer wieder wird den Menschen suggeriert, dass sie ihre eigene Geschichte machen, aber immer wieder müssen sie letztendlich erkennen, dass es nicht auf die Art und Weise geschieht, wie sie es sich vorgestellt haben, sondern entsprechend der Vorgaben, die sie nicht gewählt, auf die sie keinen Einfluss haben. Sie begreifen, dass Sein bestimmt das Bewusstsein. Das gegenwärtige Chaos verdeutlicht es. Ich denke, ich habe genügend Weisheiten von mir gegeben.“

„In alten, heiligen Schriften soll der Satz stehen „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Das bedeutet: „Behandle alle anderen Menschen so, wie du gerne behandelt werden willst.“ Zumindest verstehe ich diesen Satz so“, sagt der kleine Junge. „Ich könnte den Satz auch so formulieren: „Behandle alle anderen Menschen so, wie du gerne behandelt werden willst.“ Das Substantiv Mensch kann ich auch durch die Worte Lebewesen, Geschöpfe Gottes, Tiere und Pflanzen ersetzen. Eleganter und allgemein verständlich klingt diese Weisheit, wenn ich sage: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“ Mir gefällt dieser Satz. Er lässt viele Deutungen zu.“

Der alte Mann ergänzt: „Diese Sentenz findest du in den großen Religionen und nicht nur in den Buchreligionen Judentum, Christentum, Islam. Doch das Leben hat mich gelehrt, je mehr über die Beseitigung von Problemen gesprochen wird, desto weniger geschieht, um sie wirkungsvoll zu beheben. Denken wir nur an die Buschbrände in Australien. Auf der einen Seite bekämpft sie der Mensch wirkungsvoll, auf der anderen Seite werden sie künstlich entfacht, um zweifelhafte Gewinne daraus zu ziehen. Ähnliche Probleme finden wir in Südamerika. Für irgendwen werden diese Katastrophen von Vorteil sein. Nicht alle Feuer hat das erhitzte Klima gelegt. Viele sind die Zeichen Verrückter, die sich und der Welt beweisen wollen, dass sie alles können, auch ganze Kontinente abzufackeln, ist für sie ein Prestige-Objekt. Zu Tausenden werden jetzt die verwilderten Kamele in Australien abgeschossen, die einst als Arbeitssklaven von Indien dorthin deportiert worden sind. Sie sind eine Gefahr für die indigene Bevölkerung geworden. Sie sind Einwanderer, die dort als Fremde nicht hingehören. Bei den Einwanderern, den einstigen Kolonisatoren, treffen diese Regelungen nicht zu. Jetzt trifft der Mensch, ganz gleich, wohin es ihn verschlägt, auf andere Menschen. Jede Nische in Form von Land ist heute vom Menschen okkupiert. Überall wohnt schon wer. In der Vergangenheit war das anders. Da gab es noch unberührte Natur. Jetzt gibt es bald nur noch eine verseuchte, kranke, morbide Umwelt. Überall nur Schreckensmeldungen, völlig gleichgültig, welches Massenmedium dich informiert. Berichte werden serviert wie diese: Die Lebensräume der Kojoten werden eingeengt. Anpassungsfähig wie sie sind, suchen sie sich ihren Lebensunterhalt auch in den Großstädten, werden zum Problem. Seit Monaten sind die in Australien nicht unter Kontrolle zu bringenden Busch-Feuer Verursacher für Millionen, manche sprechen von Milliarden verbrannter Tiere, verpesten die Luft, zerstören das Eigentum der Menschen, vernichten deren Existenz. Bilder der Satelliten sind der Beweis dafür, dass die Rauchwolken selbst in Süd-Amerika zur Kenntnis genommen werden müssen. Australien-Experten versichern, dass die Busch-Brände zu Australien gehören wie dessen Beuteltier-Fauna, dass die indigene Bevölkerung schon immer ihre Jagden mit Hilfe des Feuers durchführten, dass aber die augenblickliche Situation eine Riesen-Katastrophe auch für australische Verhältnisse sei. Das ökologische Gleichgewicht wurde bereits durch die importierten Tiere empfindsam gestört, ganz abgesehen von den Einwanderern der Neuzeit, nun aber stellen sich die Menschen die Frage, ob eine Regeneration des Kontinents wie früher möglich ist. Selbst die an Feuer gewöhnten Wälder der Baobabs, der Eukalyptus-Arten und der Akazien-Bäume haben so eine Katastrophe seit Ewigkeiten nicht erlebt. Überall nur Tod und Verderben. In Mexiko fallen vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröten Parasiten zum Opfer.“ Der alte Mann hält inne, holt tief Luft, dann sagt er: „Wir leben in einer schnell-lebigen Zeit. Immer schwerer fällt es mir in diesem Zeitalter der Digitalisierung und der künstlichen Existenz existieren zu können. Ich habe den Anschluss verloren.“

„Und welchen guten Ratschlag gibst du mir?“, fragt der kleine Junge.

„Sei du selbst! Entscheide selbst, welcher Weg der richtige für dich ist! Prüfe, bevor du dich festlegst. Sei dir darüber im Klaren, bevor die Entscheidungsträger diese Positionen einnehmen konnten, die sie im Hier und Jetzt unerbittlich verteidigen, hatten sie sich vielen Mitbewerbern zu stellen und sich ihnen gegenüber zu behaupten. Warum waren sie erfolgreich? Warum blieben die anderen auf der Strecke? Was haben sie für Tugenden, für Qualifikationen, für Philosophien,

die die anderen nicht haben? Entscheidend ist der Standpunkt, den der Einzelne vertritt. Nie gehörte ich einer Partei an, hatte Bedenken vor der Partei-Disziplin, die ich hätte üben müssen. Immer fühlte ich mich als Bewohner dieser Welt, war überall und nirgends zu Hause.“ Der alte Mann atmet tief durch, dann redet er weiter. „Augenblicklich gibt es viele Begriffe mit dem Substantiv Klima, die gebetsmühlenartig kontinuierlich bis zur Unerträglichkeit wiederholt werden wie Weltklima-Konferenzen, Weltklima-Ordnung, Trocken-Klima, Erd-Klima, Klima-Gas, Klima-Wandel, Klima-Modell, Klima-Politik, Klima-Debatte, Klima-Belastung, Klima-Erwärmung, Klima-Forschung, Klima-Schutz, Klima-Verschlechterung, Klima-Wechsel, Klima-Veränderung, Klima-Gerechtigkeit, Klima-Notstand, Klima-Aktivistin. Mich verunsichern diese Wort-Schöpfungen. Als ich ein kleiner Junge war, spielte das Klima, der Naturschutz, die Umwelt die Rolle, die sie auch jetzt haben. Nur standen sie nicht allgegenwärtig im Fokus wie augenblicklich. Sie wurden berücksichtigt, solange sie nicht den Interessen der Entscheidungsträger im Wege standen. Genau wie jetzt! Macht nicht so ein Gedöns darum, so ein Aufhebens! Ihr ändert doch nichts! Ich habe den Eindruck, dass die augenblickliche Situation in dieser Welt eine einzig schreckliche Inszenierung ist, an der die fragwürdigsten Regisseure mit einem sich widersprechenden Dramaturgen-Mitarbeiterstab beteiligt sind. Wie das Drama enden wird, wissen sie nicht. Und die Fachleute, die Experten, die es wissen, müssen schweigen. Wer hätte gedacht, dass die Evolution der Elefanten mit einer Revolution der Elefanten endet? Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.“ Dem alten Mann geht die Luft aus.

Beruhigend klopft der kleine Junge dem alten Mann auf die Schulter.

Die Meyerschen – Geschichte in Geschichten

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