Читать книгу Die Meyerschen – Geschichte in Geschichten - Werner Hetzschold - Страница 7
BEUTE-GERMANE
Оглавление„Mein Großvater war ein großer Geschichten-Erzähler.“ Sehr häufig wiederholte mein Großvater diesen Satz, wenn er mich als Kind mit den Geschichten beglückte, die er einst als Kind von seinem Großvater gehört hatte. So wusste ich schon als kleiner Junge, dass mein Großvater auch schon einen Großvater gehabt hatte. Ich begriff, dass die vor mir bereits alle auch einen Großvater, sogar Urgroßvater gehabt hatten. Mein Großvater erweckte die Vergangenheit zu neuem Leben, hauchte ihr Poesie ein, dass das längst Vergangene sich in ein wunderschönes Märchen verwandelte, das aber tatsächlich einmal existiert hatte. Schon allein der Name Bessarabien klang wie ein Traumgebilde aus „Tausend und eine Nacht“. „Aus diesem Bessarabien kam meine Sippe, sowohl die meines Vaters als auch die meiner Mutter. Ich komme nicht aus Bessarabien“, betonte immer wieder mein Großvater. Ich wurde irgendwo unterwegs geboren. Keiner aus der Sippe wusste es recht genau, weil auf dem Wege von Bessarabien nach Polen ihr Weg sie durch viele Länder führte. In Polen überlebte die Sippe den Krieg, zog nach Deutschland, weil sie sich dort ein besseres Leben erhofften und weil sie Deutsche bleiben wollten. In Leipzig blieben sie zunächst. In Stötteritz in den Meyerschen Häusern erhielten die vielen Menschen zwei kleine Wohnungen, in denen sie Unterschlupf fanden. In der Wohnung meiner Eltern verbrachte ich meine Kindheit gemeinsam mit meinen älteren Geschwistern, die alle persönlich Bessarabien kannten. Meine drei Schwestern und meine vier Brüder blieben nur so lange in Stötteritz, bis sie auf eigenen Füßen standen. Dann verabschiedeten sie sich von der Sippe und wanderten westwärts. Sie zerstreuten sich in der großen, weiten Welt, bauten sich dort eine Existenz auf, wie der Großvater diesen Wohnortwechsel nannte. Als alter Mann sollte ich ihnen wieder begegnen“, sagte mir mein Großvater. „Wir hatten uns alle verändert, erkannten uns aber, wir sahen uns alle irgendwie ähnlich, hatten auch nie die Verbindung zu einander verloren. Immer hielten wir den Kontakt aufrecht, selbst in den schlimmsten Zeiten.“
„Großvater, erzähle mir von Bessarabien“, bedrängte ich den alten Mann. „Was ist das für ein Land? Wo ist es? Befindet es sich im Land von „Tausend und eine Nacht?“ Bei sommerlichen Temperaturen saßen Großvater und ich auf dem Balkon, blickten den vorbeifahrenden Zügen nach, die in meiner Phantasie nach Bessarabien fuhren. Großvater sagte: Dieses Deutschland hier ist keine schöne Landschaft, die der Seele gut tut, die die Seele im Gleichgewicht hält, sie beruhigt, ihr das Gefühl gibt, ein Zuhause zu haben. Überall hat der Krieg seine Spuren hinterlassen, auch hier. Überall Ruinen. Und die Wände der bewohnten Häuser sind grau geworden, als litten sie an einer gefährlichen, vielleicht unheilbaren Krankheit, die auch die Menschen befallen kann, sie gefühllos macht, stupide, gleichgültig, geradezu apathisch.“
„Großvater, erzähle mir von Bessarabien, nicht von hier. Hier sind wir nur Fremde, vielleicht Gäste, unwillkommene Gäste. Ich spüre das. Es gibt viele Jungen, die lassen mich das spüren, dass ich nicht hier her gehöre, ein Fremdkörper bin in dieser hässlichen Landschaft, die ich mir nicht ausgesucht habe.“
Der Großvater streichelt dem kleinen Jungen über den Kopf, der einmal mein Großvater sein wird. Dann beginnt er: „Bessarabien ist kein Land oder Staat wie Russland oder England, Bessarabien ist eine Landschaft im Südosten Europas wie Galizien, Wolhynien, wie Siebenbürgen, wie die Walachei, wie Moldawien, zu dem wir gehören, wie manche behaupten. Mein Junge, du bist immer der, als der du dich fühlst. So ist es auch mit der Heimat. Unsere Heimat Bessarabien war Jahrhunderte lang die Pufferzone zwischen den Großmächten Österreich, Russland und dem Osmanischen Reich.“
„Großvater, was ist das? Eine Pufferzone?“
„Eine Pufferzone ist die Landschaft, das Land, auf dem die Großmächte ihre Kriege führen, wenn sie sich um Etwas streiten, was sie sich nicht unter den Nagel reißen können, weil die anderen Streithähne es auch gern besitzen möchten. Solange es den streitenden Supermächten nicht gehört, wird diese Region Pufferzone genannt. Sie führten ihre Kriege in der Pufferzone, weil die Menschen in ihren Ländern bereits von ihnen, den Herrschenden, den mächtigen Entscheidungsträgern, ausgeraubt worden waren. Die Menschen besaßen nichts mehr, verhungerten. Bessarabien gehörte den Machthabern der kriegsführenden Länder nicht. In Bessarabien gab es aber noch zu essen und zu trinken. So verlegten die Krieger ihr Schlachtfeld auf das Land der in Eintracht lebenden Menschen, stritten sich nun um unser Bessarabien. Jeder wollte es haben. Dann verzichtete jede Großmacht auf Bessarabien, nachdem sie es ausgeplündert hatte, und schrie in die Welt hinaus: „Bessarabien gehört den Menschen in Bessarabien. Bessarabien ist ein unabhängiges Land, ein freies Land. Unter vorgehaltener Hand flüsterten und raunten immer wieder die Diplomaten: Eine Pufferzone! Wenn wir gezwungen sind, Kriege unter einander zu führen, dann in deren Land, auf deren Grund und Boden. Wenn du mir zugehört hast, mein Junge, musst du erkennen, dass ein Land, das für andere Länder eine Pufferzone ist, einem ungewissen Schicksal entgegen geht. Immer dient es als Spielball für die Großmächte, die es umgeben, ganz gleich wie sich auch diese Großmächte nennen mögen.“
„Wenn ich dich richtig verstanden habe, Großvater, war Bessarabien ein sehr kleines Land.“
„So klein war es nun auch nicht, auch wenn es ein sehr, sehr kleines Land war, verglichen mit Russland, aber es war das schönste Land, das ich kenne. Für meinen Großvater war es das Paradies.“
„Großvater, reisen wir durch Bessarabien!“
„Wir reisen durch Bessarabien! Es ist ein Land zwischen dem Fluss Pruth im Westen und dem Fluss Dnister im Osten. Im Süden endet es am Schwarzen Meer. Von dort aus war es nicht weit bis nach Odessa. Der berühmte russische Schriftsteller Tolstoi versah als junger, russischer Offizier seinen Dienst in dieser Region. Im Sommer ist es dort trocken-heiß, im Winter mitunter sehr kalt. Im Süden ist das Klima wie in der Steppe sehr trocken. Es regnet kaum. Und wenn es regnet, dann entladen sich Wolkenbrüche, es kommt zu Überschwemmungen, weil die vielen kleinen Flüsse das viele Wasser nicht fassen können. Sie treten über die Ufer, und das Land steht unter Wasser. Alle Flüsse streben dem Schwarzen Meer zu. Wir waren in Südbessarabien zu Hause. Nicht weit war es bis zum Schwarzen Meer. Sanfte Hügel breiten sich aus mit nur wenigen Bäumen. Südbessarabien ist das Land mit dem fruchtbaren Schwarz-Erde-Boden. Sicher ist das Land deshalb so fruchtbar, weil es in grauer Vorzeit einmal ein Teil des Paradieses war. Im Norden Bessarabiens enden die Karpaten. Die Berge sind dicht bewaldet mit Buchen und Eichen. Tiefe Schluchten trennen die Berge, bieten einem Bach oder einem Fluss Raum für Entfaltungsmöglichkeiten.“
„Großvater, du hast gesagt, dort wo ihr gewohnt habt, soll einst das Paradies gewesen sein? Warum soll ausgerechnet dort das Paradies gewesen sein?“
Verschmitzt schmunzelt der Großvater, ehe er mit seiner Erzählung fortfährt. „Hast du mir nicht zugehört? Ich habe gesagt, der Süden von Bessarabien ist das Land des Schwarz-Erde-Bodens. Schwarz-Erde ist sehr fruchtbar, weil sie humusreich ist, den Pflanzen viel Nährstoffe gibt. Dort wachsen alle die Pflanzen, die es bereits einst schon im Paradies gab. Überall wird Wein angebaut, weil er dort so vorzüglich gedeiht, aber auch Weizen und Hirse, später kam noch der Mais hinzu. Und vor allem viel Obst und viele Früchte. Fast hätte ich das Gemüse vergessen. Und den Tabak. Und die Melonen und Kürbisse. Nie wieder in meinem Leben habe ich so süße und saftige Melonen gegessen wie einst bei uns zu Hause.“
„Und was für Tiere hattet ihr?“
„Hühner, Enten, Gänse, sogar Pfauhühner und Perlhühner. Wir hatten einen richtigen bunten Geflügelhof. Und dann noch viele Schafe. Karakulschafe nannten sich diese Tiere. Ihr Fell war lockig. Genügsam waren diese Tiere, hochbeinig und sehr lebendig. Als Kind hatte ich für den Winter eine Mütze, die aus dem Fell dieses Schafes hergestellt worden war. Wenn ich sie trug, sah es aus, als hätte ich den Kopf voller dunkler Locken und dabei hatte ich blonde Locken, keine schwarzen. Rinder und Pferde besaßen die Großeltern und die Eltern auch. Wir wohnten alle unter einem Dach, wie das damals üblich war. Die Rinder sahen anders aus als die Kühe hier in Deutschland. Ich kenne sie unter dem Namen ungarisches Steppenrind. Hochgewachsen und schlank waren sie. Ihr Fell war grau, manchmal aber auch fast schon weiß. Sie waren anspruchslose, geradezu genügsame Tiere, die in der Grassteppe alles fanden, was sie zum Leben brauchten. Verglichen mit den heutigen Kühen in Deutschland, lieferten sie wenig Milch ab. Dafür hatten sie aber lange Hörner. Eine Herde dieser grauen und weißen Steppenrinder war ein imposanter Anblick. Heute soll es nur noch wenige von diesen Tieren geben. Ich bin überzeugt, die Ursache dafür ist die, weil sie so wenig Milch geben. Bei uns zu Hause waren die Sommer sehr heiß, die Winter kalt. Im Sommer trockneten die kleinen Flüsse und Wasserläufe aus, verwandelten sich aber in einen reißenden Fluss, nachdem ein heftiges Gewitter sich entladen hatte. Dann konnten die einst so träge dahin fließenden Wasserläufe sehr gefährlich werden. Sie rissen alles mit sich fort, was ihnen im Wege stand oder lag. Mitunter ertrank sogar ein Mensch.“
„Und das Schwarze Meer war in der Nähe, hast du gesagt. Konntest du jeden Tag im Schwarzen Meer baden?“
„Es dauerte schon viele Stunden bis dorthin, wenn du mit einem Pferdegespann unterwegs warst. Und mit einem Karren, gezogen von kräftigen Ochsen, dauerte die Reise noch länger.“ Heute ist es bis zum Schwarzen Meer nur ein Katzensprung. Heute gibt es schnelle Autos, schnelle Züge, schnelle Flieger! Im Handumdrehen bist du dort. Was früher eine lange, schwierige und gefahrvolle Reise war, ist heute ein Spaziergang. So ändern sich die Zeiten, mein Junge.“
„Großvater, wollen wir Beide im Sommer nach Bessarabien fahren, dorthin, wo dein Großvater einmal zu Hause war?“
„Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich weiß nicht, ob Bessarabien zu Rumänien, Bulgarien, der Ukraine, oder gar zu Russland gehört. Ich weiß es nicht. Die Geschichten, die ich dir erzähle, sind steinalt, so alt wie ein Stein. Und ein Stein kann sehr, sehr alt werden. Ein Menschenleben ist nur ein kleiner Blitz, verglichen mit dem Leben eines Steines. Daran erkennst du, dass die Geschichten deines Ur-Ur-Großvaters sehr, sehr alt sind. Und damals als dein Ur-Ur-Großvater dort lebte, war Bessarabien ein freies Land wie heute die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Und Bessarabien war multikulturell, wie die Menschen heute sagen. Dort lebten viel Völker. Ich habe ihre Namen vergessen. Friedlich lebten sie nebeneinander, halfen und unterstützten sich gegenseitig, nur manchmal gab es Zank und Streit, nur der war schnell beigelegt. Wer führt schon einen Krieg wegen eines alten Pferdes?“
„Großvater, ich spreche mit Mama und sage ihr, dass ich mit ihr zum Reisebüro gehe, weil ich mit Opa nach Bessarabien fahre. Mama lässt sich alle Verbindungen geben. Heute ist das kein Problem. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob ein Computer intelligenter ist als wir Menschen. Ein Computer weiß alles, die Menschen wissen nicht alles, selbst die klügsten nicht. Das weiß ich genau. Und ich weiß auch genau, Mama wird für uns Beide einen Weg nach Bessarabien finden.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob heute noch irgendwer weiß, welches Land Bessarabien ist und wo es liegt und welche Menschen dort leben. Die jungen Menschen heute werden noch nie von Bessarabien gehört haben, geschweige denn werden sie wissen, wo es sich befindet. Ich bin überzeugt, Bessarabien ist von der Landkarte verschwunden. Die Menschen heute wissen nicht einmal, ob es überhaupt existiert hat, weil es auf keiner modernen Landkarte verzeichnet ist. Nur die Steinalten können sich daran erinnern, dass es einmal ein Bessarabien gegeben hat. Die jungen Menschen denken an „Tausend und eine Nacht“, wenn sie von Bessarabien hören, dabei kennen sie nicht einmal die wunderbaren Geschichten aus „Tausend und eine Nacht“, weil die moderne Welt von diesem wunderbaren Erbe keine Kenntnis hat. Bessarabien ist eine Landschaft wie Wolhynien, Schlesien, Masuren Galizien gibt es gleich zwei Mal: in Spanien, in Galizien, früher Österreich/Ungarn, später Polen, dann gehörte Westgalizien mit der Hauptstadt und der alten Krönungsstadt der polnischen Könige Krakau zu Polen und Ostgalizien mit der Hauptstadt Lemberg, heute Lwow zur Ukraine, nachdem es zuvor zur Sowjetunion gehört hatte. Du siehst, mein Enkel, nichts ist so beständig wie die Änderung. Gestern Bessarabien, morgen ein anderer Name, übermorgen schon wieder ein anderer Name, immer nur Änderung, und dabei ist Bessarabien Bessarabien geblieben, eine Landschaft wie Budschak und Hotin. Diese Namen bleiben. Die Namen der Eroberer, der Mächtigen von Gestern und Heute, die Namen der Politiker unserer Tage im Götterhimmel werden vergessen werden wie der Name eines Jahrhundert-Sturmes, der gerade über das Land hinweg fegt. Eine Landschaft überlebt die Menschheit. Die Menschheit überlebt aber nicht ohne eine Landschaft, es sei denn, sie entwickeln sich zu Meeresungeheuern. Den Menschen traue ich diese Verwandlung zu. Ich mag nicht darüber nachdenken, aber ich schreie es in die Welt, die Menschen sind zu allem fähig, wenn ihre Führer sie als Auserwählte ins Verderben führen. Die meisten Menschen sind Herdentiere wie Schafe und Ziegen und folgen ihren Hirten.“
„Großvater, versprich mir, dass wir nach Bessarabien fahren. Jetzt können wir dieses Land besuchen. Und du kennst dich dort aus. Am Besten wir fliegen gleich in die Hauptstadt, weil alle Hauptstätte dieser Welt einen Flughafen haben. Wie heißt die Hauptstadt von Bessarabien?“
Der Großvater denkt nach, dann sagt er: „Kischinau, auf Russisch Kischinjow. Als ich die Oberschule besuchte, lernte ich im Russischunterricht den Dichter Alexander Puschkin kennen. Später während meines Studiums habe ich mich mit diesem russischen Nationaldichter näher befasst, der eigentlich gar kein richtiger, echter Russe war, aber die russische Sprache so beherrschte, dass er mit ihr spielen konnte und literarische Denkmäler schuf, die bis heute noch nicht vergessen sind und noch immer Bewunderer haben. Er wurde damals als junger Offizier und Dichter in die Verbannung geschickt, weil er am russischen Hof unangenehm als widerspenstiger Dichter aufgefallen war. Da er von Adel war, wurde er nach Kischinjow geschickt und nicht nach Sibirien. In dieser Stadt lebte und arbeitete er als Übersetzer von 1820 bis 1823. Was er über diese Stadt schrieb, ist nicht schmeichelhaft. Er beschimpfte diese Stadt in einem Gedicht als trostlosen, dunklen, verfluchten Ort. Später soll Kischinjow sich zu einer prächtigen Stadt entwickelt haben. Und eine prächtige Stadt muss einen Flughafen haben, sonst kann sich diese Stadt nicht prächtig nennen.“
„Opa, ich werde gemeinsam mit Papa im Internet mich erkundigen, ob diese Hauptstadt einen Flughafen hat. Wenn nicht, werden wir beide gemeinsam mit dem Zug dorthin fahren. Vielleicht begegnen wir heute noch Menschen dort, die Deutsch sprechen und verstehen.“
„Mein Großvater hat mir immer Kischinau als eine Stadt beschrieben, die breite und lange Straßen hat mit einem großen Marktplatz, der einem Bazar glich wie in „Tausend und eine Nacht“. Kischinau war so etwas wie ein Vorhof aus dem Vorderen Orient, auch Bessarabien selbst. Steckt nicht in diesem Wort das Wort Arabien. Jahrhunderte lang gehörte diese Landschaft zum osmanischen Reich, war von dessen Kultur, Geschichte, Religion, von dessen Traditionen, Sitten und Riten geprägt worden. So gab es Namen für Orte aus osmanischer Zeit wie Akkerman und Bender. Diesen Namen bin ich in der Schule begegnet. In meine Klasse gingen zwei Akkerman, sie schrieben sich Ackermann und Akkermann und ein Bender. Die sahen so deutsch aus wie du und ich, ganz gewöhnlich und normal, wie die Leute auf der Straße, nicht so exotisch wie die Figuren aus „Tausend und eine Nacht“. Nichts haftete von diesem Zauber an ihnen. Nicht ein Hauch „Morgenland“ entströmte ihnen. Sie waren alltägliche Gestalten aus dem Abendland, die wie ich ihr Pausenbrot von zu Hause mitbrachten. Nur mein Pausenbrot war viel bescheidener. Ihre Väter waren Ärzte. Ihre Mütter waren Hausfrauen, mussten nicht wie meine Mutter als Verkäuferin arbeiten.“
„Großvater, was alles für Menschen lebten in Bessarabien?“
„Nun, dort lebten viele Völker. Dort lebten Bulgaren, Gagausen, Rumänen Russen, Ukrainer, damals hießen sie Ruthenen, Moldauer, Deutsche, Juden und viele andere. Sogar Tataren lebten dort.“
„Mama hat mir erzählt, dass du, Großvater und die Oma, Bessarabien gar nicht kennen gelernt habt, weil ihr noch gar nicht auf der Welt gewesen seid.
„Mama hat Recht. Es war mitten im Krieg, als die deutsche Armee uns unmissverständlich aufforderte, uns auf den Weg zu machen in Richtung Deutschland. „Heim ins Reich!“, nannten sie diese Aktion. Viele Deutsche gehorchten der Aufforderung, auch deine Vorfahren. Ihnen war Grund und Boden im Osten Deutschlands versprochen worden. Sie ahnten nicht, dass sie die verlassenen Höfe der bäuerlichen Bevölkerung, die die deutschen Machthaber nicht auf diesem Territorium duldeten, in Besitz nehmen sollten. In den Städten spielten sich ähnliche Szenen ab. Die deutschen Entscheidungsträger setzten die Bewohner vor die Tür und gaben die Wohnungen samt Inventar den Menschen, die sie heim ins Reich holten. Als dieses Chaos sich ereignete, waren deine Großmutter und dein Großvater noch gar nicht auf der Welt. Ihnen blieb dieses Elend erspart. Deine Vorfahren, die in Bessarabien glücklich und zufrieden gelebt hatten, wurden von den Heimins-Reich-Verfechtern genötigt, in das Wartheland überzusiedeln, wenn sie sich eine Zukunft erträumten in einem neuen Deutschland.“
„Großvater, dein Urgroßvater, der damals noch gelebt hat, ist gemeinsam mit deiner Urgroßmutter und der Großfamilie von Bessarabien in das Wartheland gewandert. „
„Ja, so ist es gewesen. Sie waren Zuwanderer oder Einwanderer wie die Syrer, die Iraker, die Iraner, wie die Afghanen, wie die jungen Männer aus Eritrea jetzt in unserer Zeit. Nicht lange verweilten unsere Vorfahren in dem Land, das ihnen die deutschen Machthaber zugeteilt hatten. Wieder strömten Menschen aus dem Osten nach dem Westen. Es waren Polen, die in Ostgalizien seit vielen Generationen zu Hause gewesen waren, die aber jetzt ihre Heimat verloren, weil die Mächtigen in der Sowjetunion dieses Land beanspruchten und den vertriebenen Polen das Wartheland als neue Heimat großzügig zur Verfügung stellten. Sie mussten ihr neues Zuhause so schnell verlassen wie die Bewohner zuvor, weil die neuen Besitzer bereits vor der Türe standen, wie sie damals. Nur hatten sie keine Gelegenheit gehabt, sich einzugewöhnen, weil Heimisch-Werden ein langwieriger Prozess ist, nicht selten passiert es, dass die verloren gegangene Heimat nicht zu ersetzen ist. Ein Leben lang bleibt mancher Mensch mit ihr verbunden, wie es auch Menschen gibt, die kein Heimatgefühl kennen, weil ihnen dieses Gefühl fehlt, vielleicht ausgelöscht wurde, weil diese Sippe seit ihrer Existenz nur unterwegs war, nie sesshaft werden konnte.
Wieder gingen unsere Vorfahren auf Wanderschaft. Keiner wollte sie haben. Keiner wollte mit ihnen teilen. In Leipzig fanden sie Unterschlupf.