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KAPITEL 1: Sind alle Lebewesen Sterbewesen?

45 menschliche Köpfe pro Behälter

Michaels Traum von der Unsterblichkeit ist sehr konkret. Er wird sich kryonisieren lassen. Unmittelbar nach dem klinischen Tod, mit dem nach seiner Meinung der Sterbeprozess noch nicht zu Ende ist, wird er auf knapp über Null Grad abgekühlt werden. Dann wird eine Vitrifikation vorgenommen, sein Blut wird durch eine spezielle Kühlflüssigkeit ersetzt. Auch das Gehirn wird dabei vitrifiziert. Vor allem für dieses Organ ist es entscheidend, dass durch das weitere Abkühlen keine Zellen beschädigt werden. Anschließend wird Michael kopfüber in einen hohen Tank mit flüssigem Stickstoff gekippt und bei minus 196° Celsius konserviert. In diesem doppelwandigen Vakuum-Isoliergefäß befinden sich noch drei weitere Menschen sowie fünf „Neuros“, menschliche Köpfe. 9 Personen also insgesamt. Der Kühlbehälter bleibt fortan unter regelmäßiger Kontrolle. Stickstoff wird, wenn immer es nötig ist, nachgetankt. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang.

Irgendwann, davon ist Michael überzeugt, wird die Wissenschaft soweit fortgeschritten sein, dass man ihn auftauen und wiederbeleben kann. Wenn dann das Altern und der Tod von der Medizin besiegt sind, wird er zu denen gehören, die ewig leben.

Michael ist Bürger der USA. Er hat sich schon vor mehr als 20 Jahren für das Kryonisieren entschieden und dafür an die im Jahr 1972 gegründete „Alcor Life Extension Foundation“, Arizona, gut 30.000 Dollar bezahlt. Diese nach eigenen Angaben nicht gewinnorientierte Organisation ist international der Kryonik-Pionier. Das Interesse am Einfrieren ist groß. Mehr als 1.000 Menschen sind – wie Michael – vertraglich vorangemeldet. Und die Zahl der Stickstoff-Tanks wächst und wächst und wächst. In jedem sind entweder 45 Neuros oder eben vier Körper und fünf Köpfe konserviert. Die „Neurokonservierung“ ist platzsparender und kostet deshalb nur die Hälfte.

Mittlerweile gibt es in den USA bereits einen zweiten Kryonik-Anbieter, der mit der Hoffnung auf Auferstehung und der Chance auf ewiges Leben handelt. Die Preise steigen mit dem Aufwand. Bezahlt wird für das Haltbarmachen und Einfrieren, aber auch für ein Patientenkonto, das für den Unterhalt sowie für eine eventuelle Wiederbelebung eingerichtet wird.

Vielen Menschen gibt die Aussicht, in einer glücklichen Zukunft für ein ewiges Leben erwachen zu können – aber eben nicht in einem zweifelhaften Jenseits, sondern konkret hier auf der Erde –, Trost und Halt. Sie haben das gute Gefühl, aktiv etwas gegen den Tod zu unternehmen und wirken damit ihrer Angst vor dem Sterben entgegen. Dieses Gefühl ist ihnen viel Geld wert.

Andere, die in die Kryonik investieren, sind sterbenskrank und hoffen auf künftige Möglichkeiten, Krankheiten heilen zu können.

Alte Menschen erträumen sich einen jüngeren, gesunden Körper. Im Glauben, irgendwann könnten Ganzkörper-Transplantationen möglich sein, reicht es ihnen, wenn mit dem Kopf ihr Gehirn konserviert wird. –

Zweifellos werden solche Kryonik-Angebote nicht auf die USA beschränkt bleiben. Auch in Deutschland wurden bereits diesbezügliche Überlegungen bekannt. Allerdings gibt es hier auf Grund der rechtlichen Situation Beschränkungen. Eine Vitrifikation darf zwar durchgeführt werden, aber die dauerhafte Lagerung der Leichen – um solche handelt es sich nach Auffassung des Gesetzgebers – ist nicht erlaubt.

Den Begriff „Leiche“ hören Kryoniker im Zusammenhang mit dem Einfrieren natürlich nicht gern. Der Betroffene gilt als Patient – doch nicht als tot. Die „Alcor“-Organisation in Arizona beschreibt auf ihrer Homepage als Zweck ihrer Tätigkeit, mit Hilfe der „besten verfügbaren Technologie“ das Leben des Menschen „zu bewahren“. Nach dem klinischen Tod müsse dazu „so schnell wie möglich in den Sterbeprozess eingegriffen“ werden. „Alcor“ sieht also ihre Räumlichkeiten definitiv nicht als Leichenhallen und ihre Arbeit nicht als Bestattungstätigkeit. Auch wenn manche Kunden darauf bestehen, in den gleichen Tank wie ihre Angehörigen verbracht oder gemeinsam mit ihrem Haustier gelagert zu werden.

Jedenfalls verortet diese Betrachtungsweise das Leben des Menschen mit äußerster Konsequenz im Physischen und nirgendwo sonst. Michael wird sich kryonisieren lassen, nicht etwa seinen Körper. Er selbst wird in den Stickstoff-Tank gekippt. Da ist nichts, was er als Mensch besitzt. Er hat keinen Körper, er ist sein Körper, und nur in diesem kann Leben sein.

Früher glaubten die meisten Menschen an eine Seele, die das Leben bewahrt. Heute rankt der Glaube sich um Medizin und Technik.

Zu Recht?

In der seriösen Wissenschaft ist die Kryonik sehr umstritten – um es milde auszudrücken. Der Ansatz, meinen Kritiker, sei vergleichbar der Idee, aus einem Hamburger wieder eine Kuh zu machen. Das habe nichts mit „Science“ (Wissenschaft), sondern nur mit „Science-ficition“ zu tun. Alles in allem würden gutgläubige Menschen mit einer wertlosen Dienstleistung betrogen.

Die konkreten Argumente für diese vernichtende Einschätzung sind biologischer, technischer und philosophischer Art:

• Nach dem klinischen Tod verändert sich das Gehirn innerhalb weniger Minuten. Die dabei entstehenden Schäden sind irreversibel.

• Eine Kryo-Konservierung könnte nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn der lebende Mensch schockgefroren wird. Eine dafür geeignete Technologie gibt es (noch) nicht.

• Es gibt Einflüsse, zum Beispiel die natürliche Radioaktivität, die auch im gefrorenen Zustand das Erbgut nach und nach schädigen.

Die dauerhafte oder sich über Tausende Jahre erstreckende Konservierung eines Körpers ist deshalb nicht möglich.

• Nach der (fiktiven) Wiederbelebung des Menschen würden sein körperlicher Zustand, sein Alter und seine Lebenserwartung bestenfalls den Gegebenheiten vor dem Schockfrieren entsprechen. Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit, einen bereits erfolgten Alterungsprozess rückgängig zu machen.

• Es ist nicht zweifelsfrei belegt, dass Bewusstsein allein aus der Gehirntätigkeit resultiert.

Aber natürlich darf jeder Mensch träumen. Wenn Dr. Leonard McCoy, der gute alte „Pille“ (oder „Bones“), im Raumschiff Enterprise alle Krankheiten im Handumdrehen mit Hilfe eines seltsam piepsenden kleinen Plastikdings heilt oder menschliches Bewusstsein flugs per Datenstrom in eine Maschine übertragen wird – warum sollte das nicht irgendwann auch wirklich so funktionieren?

Die harten Trennlinien zwischen „Science“ und „Science fiction“ sind heute in der allgemeinen Wahrnehmung schon sehr verschwommen. Davon profitiert – nicht nur in der Kryonik – die Wild-West-Weltauffassung des 21. Jahrhunderts.

Es lebe Arizona!

Die Pille gegen das Altern

Haken wir die Kryonik (in der Biologie wird sie eigentlich „Kryo-Konservation“ genannt; eine Gefrier-Technik zum Aufbewahren lebender Zellen) als besonders auffälligen Ausbruch von Machbarkeitswahn ab. Zur Unsterblichkeit verhilft sie mit Sicherheit nicht.

Der inzwischen schon mehrere Jahrhunderte alte menschliche Traum, den Tod mit Hilfe von Medizin und Technik zu überwinden, treibt allerdings auch gefälligere Blüten. Denn dass jedes Lebewesen ein Sterbewesen sein muss, wollen viele Forscher nicht akzeptieren, und es sollte nicht verwundern, wenn die Pharmaindustrie schon demnächst das Altern als Krankheit definiert und mit Pillen gegen dieses Leiden Milliardengeschäfte macht.

Noch ist es freilich nicht soweit. Noch sind nicht einmal alle wichtigen Details bekannt, die den Alterungsprozess steuern.

Grundsätzlich ist das Altern ja – im Sinne der Entwicklung – nichts Schlechtes. Schließlich kommen wir als weitgehend unselbständige Lebewesen auf die Welt und müssen älter werden, um irgendwann erwachsen zu sein und uns fortpflanzen zu können. Bis zu genau diesem Punkt werden wir von der Natur auch ausgezeichnet unterstützt. Die physische Leistungsfähigkeit nimmt zu, und psychisch betrachtet fühlt der Jugendliche sich im Grunde so, als hätte er das ewige Leben für sich gepachtet. Als könne ihn nichts und niemand aus der Bahn werfen.

Nach diesem Aufblühen allerdings, sobald für die Arterhaltung gesorgt ist, scheint der einzelne Mensch der Natur, sofern man nur die körperlichen Aspekte in Betracht zieht, ziemlich gleichgültig zu sein. Das „alte Leben“ muss nicht mehr erhalten werden, wenn einmal die Baupläne für das „neue Leben“ weitergegeben worden sind. Der langsame Verfall beginnt. Und er endet ein paar Jahrzehnte später unausweichlich mit dem Tod.

Aber muss der Mensch sich diesem Schicksal fügen? Wenn die genetische Ausstattung unseres Körpers im Wesentlichen nur auf die Arterhaltung ausgerichtet ist – dann ist es wohl legitim und naheliegend, dass wir kraft unserer Intelligenz ganz gezielt jene Lebensspanne fördern und verlängern, die durch die Natur vernachlässigt wurde. Oder?

Mit solchen Gedanken im Hintergrund erforschen heute weltweit Biologen den Alterungsprozess. Ihr Ziel ist es, weitere Möglichkeiten zu entdecken, um den biologischen Verfall wenigstens zu verlangsamen. „Weitere“ deshalb, weil sich, umfassender betrachtet, eigentlich schon einiges zugunsten des menschlichen Individuums verändert hat. In den letzten 100 Jahren verdoppelte (!) sich in Deutschland die Lebenserwartung. Hygiene und Ernährung sowie eine viel bessere medizinische Versorgung dürften dafür verantwortlich sein. Aber es sollte eben noch weitere Ansatzpunkte geben – wobei es natürlich nicht nur um die Lebensdauer, sondern auch um die Lebensqualität gehen muss. Das erste Kind mit 50, Ruhestand mit 90, Sterben mit 130 – vielleicht wird das in wenigen Generationen ganz normal sein. Möglicherweise wird es dann ja die Pille gegen das Altern geben.

Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass es gelingt, die Mechanismen des Alterns zu durchschauen. Warum wir altern und was dabei genau geschieht, konnte nämlich bis heute nicht endgültig geklärt werden.

Fest steht, dass die Entwicklung des menschlichen Körpers im Alter von etwa 20 Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Der Organismus ist dann voll ausgereift und kann etwa zehn Jahre lang das Maximum seiner Leistungsfähigkeit behalten.

Danach weist die Kurve der „Lebenskraft“ immer weiter nach unten: Die Muskeln verlieren mehr und mehr Zellen, die Haut wird schlaffer und faltiger, die Augenlinsen werden unelastischer, der Körper lagert vermehrt Fett ein, die Atemkapazität nimmt ab, ebenso die Leistung des Herzens. Gewebe, Organe und Organsysteme zeigen Verschleiß- und Vergiftungserscheinungen. Aber weshalb das alles? Führen äußere Einflüsse dazu? Wo tickt die biologische Uhr in uns? Gibt es ein genetisches Programm, das den Tod der Körperzellen vorsieht? Oder die zunehmende Beschränkung der Regenerationsfähigkeit? Weshalb reicht diese Fähigkeit zwar bis ins hohe Alter zum Überleben (etwa, wenn Wunden heilen), aber schon viel früher nicht mehr für ein optimales Funktionieren aller Organe?

Will man Naturgegebenheiten lenken, muss man sich einen Zugang zu deren Funktionsprinzipien erschließen, klar. Aber wo liegt in diesem Fall der Schlüssel?

Versuche mit Fadenwürmern, die in Kalifornien (USA) durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass diese Tiere, die üblicherweise nur zwei Wochen lang leben, mit einem veränderten Gen plötzlich doppelt so alt wurden – und das unter wesentlich besseren Umständen. Sie alterten deutlich langsamer. Es war so, als würde sich ein 90-jähriger Mensch wie ein 45-jähriger bewegen.

Die langlebigen Fadenwürmer hatten einen anderen Hormonhaushalt, weniger Insulin im Blut. Das zeigte sich als zentraler Unterschied zu den kurzlebigen. Insulin regelt die Neubildung von Zellen. Kann man daraus schließen, dass auch Menschen bei verändertem Insulinhaushalt langsamer altern? Untersuchungen von Familien, deren Mitglieder besonders alt werden, weisen darauf hin. Und es scheint diesbezüglich auch Zusammenhänge zwischen der Ernährung (unter anderem geht es hierbei um den Kohlehydrate- sowie Zuckerkonsum) und der Lebensdauer zu geben.

Für eine weitere Entdeckung, die kürzlich die Alterungsforschung beflügelte, sorgte ein kleines Süßwassertierchen, „Hydra“ genannt. Erstaunlicherweise, so fanden Biologen heraus, gibt es bei den Hydren offenbar keinen Alterungsprozess. Die Tiere bleiben gleichermaßen vital und sterben nicht. Ein Geheimnis liegt darin, dass außerordentlich viele Zellen im Körper dieses Tierchens Stammzellencharakter haben. Stammzellen können sich immer wieder teilen. Aus ihnen können entweder Tochterzellen entstehen, die abermals Stammzellencharakter besitzen, oder auch normale Körperzellen. Bei den Hydren sorgen die Stammzellen dafür, dass sich die Tiere im 30-Tage-Rhythmus komplett erneuern.

Bei uns Menschen werden die Stammzellen auch im Alter noch aktiv, sobald irgend etwas repariert werden soll. Dieser Effekt wird bereits medizinisch genutzt. Es gab schon erfolgreiche Herzoperationen, bei denen Patienten eigens gezüchtete Stammzellen in den Herzmuskel injiziert wurden. Die Organfunktion verbesserte sich dadurch dramatisch. Manche Forscher träumen nun sogar davon, mit Hilfe von Stammzellen, die ja Körperzellen produzieren können, komplette Herzen nachwachsen zu lassen.

Interessanterweise fand man jenes Gen – „FoxO“ genannt –, das im Süßwassertierchen „Hydra“ das Altern verhindert, auch im menschlichen Erbgut. Es steuert den Energiehaushalt der Zellen. Und es ist, wie Studien gezeigt haben, in der DNA von Greisen besonders aktiv. Daneben wurden noch drei weitere Gene gefunden, die für die Langlebigkeit eine Rolle spielen könnten. Vermutlich gibt es noch viel mehr. Sie alle zusammen genommen dürften aber nur zu etwa einem Drittel für das Alter maßgeblich sein, das ein Mensch erreichen kann. Überwiegend ausschlaggebend sind nach aktuellem Forschungsstand die Lebensumstände und die Lebensführung.

Dennoch rückt auf Grund solcher Erkenntnisse die „Pille gegen das Altern“ wohl näher. Josef M. Gaßner beispielsweise, den ich zum Anlass der Veröffentlichung seines Buches „Urknall, Weltall und das Leben“ interviewt habe, glaubt, dass Lebensverlängerung künftig „ein ganz großes Thema“ wird und diesbezüglich viele Entwicklungen zu erwarten seien. Denn die Aussicht, irgendwann einmal nicht mehr sterben zu müssen, sei ein wirklich relevantes Zukunftsthema – viel wichtiger als alle künftig womöglich zu erwartenden technischen Entwicklungen. Allerdings stünden wir heute – immerhin sei ja erst vor wenigen Jahrzehnten das Grundkonzept der DNA entschlüsselt worden – diesbezüglich erst am Anfang. Denn die Medizin arbeite noch überwiegend auf der Grundlage von empirischem Wissen. „Es fehlt in diesem Bereich ein Newton oder Einstein, der eine wirklich umfassende Theorie entwickelt“, befindet Gaßner.

Der in vielen Fachbereichen versierte Wissenschaftler spricht damit das Problem an, dass wir die Komplexität, in der sich lebendige Organismen zeigen, noch nicht annähernd verstehen. In der Medizin werden mit Hilfe von Studien an Patienten oder in Laborversuchen zwar Erfahrungsdaten gesammelt, auf Grund derer man angeben kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Medikament wirkt, aber es gibt keine wissenschaftliche Grundlage, die eindeutige Wenn-Dann-Schlüsse beschreibt. „Wenn wir beide zum Arzt gehen und etwas verordnet bekommen, dann weiß der, dass es mit 80 Prozent Wahrscheinlichkeit helfen wird. Aber der Arzt weiß nicht zuverlässig, warum und bei wem es helfen wird und bei wem nicht. In diesem Bereich bewegen wir uns in der Medizin.“

Von einem umfassenden Verständnis des Alterungs- und Sterbeprozesses, das verdeutlichen könnte, „welche Programme dabei ein- und ausgeschaltet werden“ sei die Wissenschaft deshalb „noch ein gutes Stück weit entfernt“. Und es sei auch absehbar, dass wir auf dem Weg zum Erkennen „vor große ethische und moralische Fragen gestellt“ werden, meint Gaßner. „Das wird extrem spannend!“

Derzeit lautet das Motto der medizinischen Forschung jedenfalls: „Das Alter bekämpfen heißt Krankheiten bekämpfen.“ Wenn es gelingt, die Regenerationsfähigkeit des Körpers zu verbessern und zentrale Probleme des Alterns zu lösen (voran die DemenzErkrankungen; etwa ein Drittel der 90-jährigen leidet an einer Demenz), dann würde damit gleichzeitig das menschliche Leben sinnvoll verlängert.

Der Traum von der Unsterblichkeit bliebe allerdings wohl auch dann unerfüllt, wenn wir das Altern weiter und weiter hinauszögern könnten und es gelänge, die damit einher gehenden sozialen Fragen zu lösen. Denn das Lebewesen Mensch ist, medizinisch und biologisch betrachtet, mit großer Wahrscheinlichkeit ein Sterbewesen.

Von der Schönheit der Jahreszeiten

Natürlich kann man das Menschsein auch anders betrachten. Nicht wissenschaftlich, sondern menschlich. Nicht objektiv von außen, sondern aus der Ich-Perspektive. Rein subjektiv also.

Aus diesem Blickwinkel erscheint das Altern nicht mehr unbedingt als grobe Nachlässigkeit einer „kaltblütigen“ Natur, die sich zweckorientiert nur um die Arterhaltung kümmert. Denn neben der körperlichen Entwicklung, die ja schon im ersten Lebensdrittel ihren Höhepunkt erreicht, gibt es ja auch noch die geistige. Und zwar weitgehend unabhängig davon. In meinem Wissen, auch in meiner Menschlichkeit, im Gemüt, kann ich mich noch weiter entwickeln, auch wenn mein Körper schon alt und gebrechlich ist.

Es gibt eine schöne Analogie zwischen den Abschnitten im Leben eines Menschen, den unterschiedlichen Temperamenten und den vier Jahreszeiten. Die Kindheit, das sonnige, offene, unbeschwerte Leben im Moment, lässt sich dem sanguinischen Temperament zuordnen; die von großen Lebensträumen geprägte Jugendzeit dem melancholischen; die Tatkraft des Erwachsenenalters dem cholerischen Temperament und die passivere, besonnene Zeit des Alters dem phlegmatischen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter im Leben des Menschen: Ungestümes Erwachen und Erleben des Augenblicks … drängendes Reifen und volle Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten … danach die Erntezeit, das Nützen der Fähigkeiten in werktätiger oder kreativer Tätigkeit …

Aber was kommt dann? Worin liegt der besondere Sinn des Alters?

Winter … Ruhe … Rückzug – aber wohin?

Wenn im Alter die Belastungsfähigkeit des Körpers abnimmt, die Motivation für kräfteraubende Abenteuer nachlässt oder die gewohnten Leistungen schlicht und einfach nicht mehr erbracht werden können, dann mag das dazu anregen, den Fokus von der Außenwelt mehr auf die Innenwelt zu verlagern. Emotionale Eruptionen könnten größerer Gelassenheit weichen, die gewohnte fiebernde Geschäftigkeit einer ungewohnten, aber letztlich vielleicht doch wohltuenden Entspannung. Neue Räume könnten sich auftun für die Sehnsucht nach unvergänglichen Werten und Lebensnähe. Und nicht zuletzt könnte der „Ruf des Alters“ zu einer vielleicht längst überfälligen Erkenntnis locken: Dass sich der Wert des Menschen nicht unbedingt im äußeren Erfolg zeigt, auch nicht in körperlicher Schönheit, sondern schlicht in der Art, wie er sein „nacktes Leben“ lebt.

Alles in allem ist das Altern natürlich „eine Zumutung“. Damit hatte der große Humorist Vicco von Bülow alias Loriot ohne Zweifel recht.

Aber sollte die Weisheit der Natur tatsächlich nicht nur die Arterhaltung des Homo sapiens fördern, sondern gleichermaßen dessen individuelle geistige Weiterentwicklung, dann könnte es sich bei dem Erlebnis-Konzept „Alters-Phlegmatismus“ um eine durchaus angemessene Zumutung handeln. Um die liebevolle Einladung, die Schönheit aller Lebens-Jahreszeiten zu verinnerlichen.

Universum versus Schöpfung

Was, bitte, soll am Alter schön sein? Ich habe Rückenschmerzen und Knieprobleme, das Leben erscheint mir im Rückblick verd…ächtig kurz, und ich bin jetzt selbst der vorsichtig über die Straße schleichende Opi, den ich früher als genervter, drängelnder Autofahrer in den Himmel gewünscht hätte. Oder woanders hin.

Exkurs abgeschlossen. Wir kehren aus dem Reich des SonntagsSchöngeistigen zurück in die reale Welt, wo Anti-Aging-Konzepte den verbreiteten Jugendwahn bedienen und wo die Überzeugung lebt, dass eine weit fortgeschrittene medizinische Forschung irgendwann das Alter und den Tod überwunden haben wird. In der nüchternen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts sucht der Mensch die Unsterblichkeit nicht mehr in ungewissen seelisch-geistigen Dimensionen. Sie muss „machbar“ sein.

Aber es sollte auch gestattet sein, diese vom Rationalismus geprägte Haltung kritisch zu betrachten. Denn der heute übliche Blickwinkel ist mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Und gerade in der Frage nach dem ewigen Leben könnte es gut tun, ein wenig über den Tellerrand hinaus zu schauen.

Allerdings ist es anspruchsvoll, das allgemein akzeptierte Weltbild zu hinterfragen. Denn die „kollektiven Gedankenformen“, wie die Berliner Philosophin Nathalie Knapp die in einer Gesellschaft übliche Art des Denkens und Schlussfolgerns bezeichnet, prägen auch unsere Einschätzung dahingehend, ob etwas „denkbar“ ist oder von vornherein als Humbug eingestuft wird.

Heute hat die Naturwissenschaft, etwas überspitzt formuliert, den Status einer Religion. An sie glauben auch Menschen, die selbst weder wissenschaftlich noch logisch denken. Recht plakativ zeigen das zum Beispiel Werbekonzepte: Der seriöse Forscher im sauberen, weißen Mantel oder das sterile Chemielabor funktionieren seit Jahrzehnten als attraktive „Garanten für Wahrheit“. Denn die breite Allgemeinheit schätzt den unbestechlichen Überblick des gelehrten Forschers und vertraut sich gern seiner Weisheit an.

Konfessionelle Lehren werden indes kaum noch als bedeutend erachtet, sofern es um die Ergründung des Weltgetriebes geht. Die Kirchen und ihre Vertreter sind für gemütvolle Zeremonien gefragt, aber doch bitte nicht mehr als Erkenntnisquellen!

Und in der naturwissenschaftlichen Lesart ist „die Welt“ das sichtbare Universum, in welchem auf einem kleinen blauen Planeten vor 2 Millionen Jahren zufällig der Mensch entstand – ein Lebewesen mit der Intelligenz, dort einzugreifen, wo die Evolution schwächelt. Wenn also die Natur nicht dafür gesorgt hat, dass wir unsterblich sind, dann werden wir eben selbst dieses Manko beheben!

Vor wenigen Hundert Jahren stellte sich die Welt dem Menschen unvergleichlich anders dar: als Schöpfung Gottes. Unsterblichkeit erfahren zu können, war damals eine Selbstverständlichkeit. Der Gläubige hatte die Gewissheit, sie als Geschöpf des Herrn einst im jenseitigen „Reich Gottes“ zu erfahren.

An dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick zurück in die Geschichte.

Peinliche Befragung der Natur

Der Kulturhistorikerin Anna Bergmann folgend, kam der radikale Sinneswandel, der sich in den vergangenen Jahrhunderten vollzog und vom Glauben zum Wissen führte, nicht aus heiterem Himmel.

In ihrem lesenswerten Buch „Der entseelte Patient“ begründet sie ihre Überzeugung, dass dafür letztlich „die verheerenden Wetter-, Hunger- und Seuchenkatastrophen“ ausschlaggebend waren, die im 14. und vor allem auch 17. Jahrhundert „weit mehr Opfer als militärische Konflikte“ forderten. Diese Ereignisse – angefangen von der „Kleinen Eiszeit“ ab Ende des 13. Jahrhunderts bis hin zur Pest im 17. Jahrhundert – erschütterten den naiven Glauben des Menschen nachhaltig. Und sie drängten ihn dazu, Möglichkeiten zu finden, „eine Resistenz gegen die am eigenen Leib durch Krankheit, Altern und vor allem den Tod erfahrene Verwundbarkeit erzeugen zu können.“

Auf dieser Grundlage einer Wechselbeziehung zwischen Natur- und Kulturgeschichte etablierte sich nach und nach das menschliche Konzept der Naturbeherrschung: „Das Interesse an einer Enträtselung des als Werk Gottes verstandenen ‚Buches der Natur‘ richtete sich gezielt auf eine Suche nach Methoden ihrer menschlichen Manipulierbarkeit, um letztlich eine von Gott unabhängige Sicherheit durch menschliches Handeln gewinnen zu können“, formuliert die Autorin. So soll der medizinische Fortschritt in eine Welt führen, „in der körperliches Leid und menschliche Sterblichkeit in ihre Schranken verwiesen sind, in der wir uns vor dem Tod immer mehr geschützt meinen“.

In unserer modernen Wahrnehmung sei der Tod also, meint Anna Bergmann, „zu einem klinisch besiegbaren Phänomen degeneriert“. Der moderne Mensch gehe davon aus, dass die „physiologische Katastrophe“ grundsätzlich „ärztlich verhinderbar ist“.

Die heute weit verbreitete Auffassung, den Kampf gegen den Tod durch Wissenschaft und Forschung gewinnen zu können, entwickelte sich schrittweise – wobei sich, wie die Kulturhistorikerin formuliert, „seit der Renaissance eine neuartige Allianz zwischen Obrigkeit, Wissenschaft und christlicher Religion“ formierte. Und im Zentrum dieses Bundes tobten durch die Jahrhunderte Kampf und Gewalt.

Üblicherweise wird der große geistesgeschichtliche Fortschritt der Menschheit am Beginn der Neuzeit damit beschrieben, dass an die Stelle des blinden Glaubens an religiöse Überlieferungen und Traditionen die „Frage an die Natur“ trat. Die Wahrheit, also die Übereinstimmung einer Theorie mit der Wirklichkeit, sollte durch das Experiment herausgefunden werden. Heute erscheint dieser Ansatz vernünftig und sachlich.

Wer allerdings dem englischen Staatsmann und Philosophen Francis Bacon (1561–1626) folgt, der neben Leonardo da Vinci (1452–1519) als Vater des experimentellen Erkennens gilt, gewinnt einen anderen Eindruck.

Bacons Credo war definitiv die Beherrschung und Unterwerfung der Natur. Er wollte sie im Sinne einer inquisitorischen Befragung („inquisition of causes“) zum Sprechen bringen. Ein Ansatz, der nicht zufällig an die „peinliche Befragung“ (also die Folterung) erinnert, der in dieser Zeit vermeintliche Hexen unterzogen wurden, um ihnen „die Wahrheit“ abzuringen. Bacon war als Generalstaatsanwalt des Königs auch selbst mit der Hexenverfolgung befasst.

Töten und opfern, um den Tod zu besiegen

Bei kritischer Betrachtung der Medizingeschichte wird deutlich, dass das Element „Gewalt“ sehr oft zum Streben nach neuen Erkenntnissen gehörte. Seit der „Vater der Anatomie“, Andreas Vesal (1514–1564), den Geheimnissen des Lebens mit dem Seziermesser auf den Grund gehen wollte, etablierte sich immer nachhaltiger die Überzeugung, durch chirurgische Eingriffe Krankheit und Tod besiegen zu können. Doch die dafür nötigen Kenntnisse forderten ihre Opfer.

Vesal war der erste, der in der Öffentlichkeit menschliche Leichen und auch lebendige Tiere zergliederte, um Körperfunktionen zu verstehen und verständlich zu machen. Aber schon davor, im ausgehenden 13. Jahrhundert, als es darum ging, die Ursachen von Seuchen zu ergründen, wurde erstmals nachweislich das große Tabu gebrochen, einen Körper zu öffnen.

Heute können wir uns kaum vorstellen, was das bedeutete. Denn die kollektiven Gedankenformen waren damals ja geprägt von der christlichen Überzeugung, jeder Mensch würde am Tag des Jüngsten Gerichts leiblich wieder auferstehen. Die Seele blieb demnach auf magische Weise auch über den Tod hinaus mit dem verstorbenen Leib verbunden, und eine Zergliederung dieses Leibes musste dramatische Folgen für die Seele haben.

In manchen Fällen war die möglichst „vollständige Vernichtung“ eines Menschen jedoch erwünscht. So gab es verschärfte Hinrichtungsmethoden für Schwerverbrecher. Deren Körper wurden gezielt zerstückelt und verstümmelt (durch Köpfen, Herzentnahme oder Entdärmung) sowie verstreut oder an unterschiedlichen Orten dem Vogelfraß überlassen. Im Normalfall aber galt der Leib eines Toten als unantastbar; es herrschte ein „Sektionstabu“.

Als später im „Anatomischen Theater“ öffentlich Leichenzergliederungen zelebriert wurden, verwendete man zunächst nur Leichen von kurz davor hingerichteten Verbrechern. Sie hatten keine Totenrechte, und um ihr seelisches Wohl sorgte sich wohl niemand. Zum Vergnügen der höheren Gesellschaft und der „ehrbaren Bürger“ – das waren Könige, Fürsten, Adelige und Geistliche – führten Anatomen coram publico Leichenzergliederungen durch. Die Ära dieses offenbar unterhaltsamen Anatomie-Spektakels erreichte im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt, dauerte aber bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.

Die Strafjustiz, genauer gesagt: der Henker, lieferte somit über Hunderte von Jahren das „Material“ für die medizinische Grundlagenforschung. Später wurden neben Exekutierten auch Verstorbene aus ärmeren Schichten öffentlich zergliedert. Wobei die Regel galt: Je tiefer jemand im sozialen Status steht, desto radikaler darf er zerstückelt werden.

Als sich im 18. Jahrhundert schließlich die Tore für die Öffentlichkeit schlossen, wurde die Tradition, durch Fragmentierungstechniken neue Erkenntnisse zu gewinnen, in den Krankenhäusern fortgesetzt. Anna Bergmann zeichnet in ihrem Buch „Der entseelte Patient“ überzeugend eine Entwicklungslinie nach, die vom „Anatomischen Theater“ über die Menschenexperimente in Gefängnissen und Konzentrationslagern bis hin zur modernen Praxis der Transplantationsmedizin führt. Heute wie ehedem geht es nach ihrer Ansicht um „das Phantasma der Sterblichkeitsüberwindung“.

Bergmann: „Die menschliche Sterblichkeit, die Unfassbarkeit des Todes zählen zu den größten Angstquellen und werden daher wahrscheinlich zu Recht von Ethnologen und Religionswissenschaftlern für den Ursprung der Religionen verantwortlich gemacht. Schließlich haben alle Religionen den Glauben an ein Leben nach dem Tod beziehungsweise an die Unsterblichkeit gemeinsam.“ Im Zuge eines „Verweltlichungsprozesses“ habe die Medizin „im Überwindungsversuch der menschlichen Sterblichkeit“ inzwischen eine Vorreiterrolle eingenommen, die „von keiner christlichen Kirche in Frage gestellt“ werde.

Dabei spiele die alte „Opferlogik“ nach wie vor eine Rolle: Zugunsten von Fortschritt und Nützlichkeit würden auch Menschenopfer in Kauf genommen: „In dem zweckrational begründeten Vorgehen der Zergliederung, der Vivisektion von Tieren und des Menschenversuchs liegen Quellen experimenteller Gewalt- und Folterpraktiken, denen durch die hehre Forschungsintention, das Leben von möglichst vielen Menschen zu retten, keine Grenzen gesetzt sind.“

Kurzum: Unser Ausflug in die Geschichte zeigt, dass sich, gefördert durch katastrophale Naturereignisse, die Unsterblichkeits-Zuständigkeit – früher Kirche, heute Medizin – über die Jahrhunderte grundlegend verändert hat. Ob aber der moderne Ansatz, das ewige Leben mit dem Skalpell zu erzwingen – oder, sachlicher formuliert, den Kampf gegen die Vergänglichkeit mit Hilfe der Apparatemedizin zu führen –, nicht ebenfalls ein Irrweg ist, werden wir noch diskutieren.

Interessanterweise wurde in früherer Zeit der Begriff „Leib“ – abgeleitet von lib = Leben – verwendet, womit dessen Beseelung zum Ausdruck kam. Heute sprechen wir statt dessen vom „Körper“ – abgeleitet von corpus = Leichnam.

Haben uns Anatomie und Chirurgie von der Erkenntnis des Lebens am Ende noch weiter entfernt? Ein böser Verdacht.

Die ewige Angst vor dem Tod

Etwas jedenfalls blieb dem Homo sapiens trotz aller Erkenntnisse und unabhängig von der Entwicklung seines Weltbildes erhalten: die Angst vor dem Tod, vor dem großen Unbekannten, mit dem das bewusste Sein beendet wird.

Von dem bedeutenden französischen Philosophen René Descartes (1596–1650), der selbst in seinem Wissensdrang Tiere zergliederte (und sie letztlich zu seelenlosen, schmerzunempfindlichen Wesen erklärte), aber auch von dem richtungweisenden englischen Physiker Sir Isaac Newton (1642–1727) oder dem großen deutschen Astronomen Johannes Kepler (1571–1630) ist bekannt, dass sie lange Zeit unter Todesängsten litten. Die Biographien dieser Denker und Forscher sind Beispiele, die zeigen, dass es offenbar keinen verlässlichen intellektuellen Weg gibt, um diese typisch menschlichen Bangigkeitsgefühle zu überwinden.

Die Angst vor dem Tod: Bei näherer Betrachtung geht es dabei zum einen um die Furcht, als Individuum ausgelöscht zu werden, also alles zu verlieren, was als „Ich“ erlebt wird – Bewusstsein, Identität, Erinnerung und Zukunft. Neben dieser Angst vor dem „Nichts“ besteht aber gleichzeitig auch die Angst vor dem „Etwas“, vor etwas Unberechenbarem, Unbekanntem, das sich des Lebens bemächtigt oder womöglich in gruseliger Art und Weise aus dem Jenseits in das Diesseits greift.

Während der Mensch Jahrhunderte lang vor allem im Glauben Zuflucht vor seiner eigenen Todesangst suchte, entwickelte er zu Beginn der Aufklärung eine neue Strategie der Furchtbewältigung. Das heißt … so neu war sie eigentlich nicht: Es wurden „Schuldige“ gesucht, gefunden und bestraft, um sich die „Gottes Gnade“ – und damit ein angstfreies Gewissen – zu erkaufen.

Von solchen Projektionen berichtet schon das Alte Testament der Bibel. Aus einer jüdischen Zeremonie stammt der bekannte Begriff „Sündenbock“. Am „Tag der Vergebung“ machte der Hohepriester die Sünden seines Volkes bekannt und übertrug sie durch Handauflegen auf einen Ziegenbock. Dieser wurde daraufhin, beladen mit allen Sünden, in die Wüste geschickt. Das Volk konnte sich befreit und erlöst fühlen …

Die Sündenböcke des 17. Jahrhunderts waren die Hexen. Sie standen stellvertretend für das Unberechenbare, Angstauslösende, das vernichtet werden musste, um Gottes Gunst zu gewinnen. Die Idee, dass dieser „Handel mit dem Himmel“ funktioniert, verfestigte sich zum regelrechten Wahn und forderte zahllose Opfer. Die Schätzungen reichen von 40.000 bis zu mehreren Hunderttausend ermordeten „Hexen“ und „Hexern“ in Europa.

Hier brennende Scheiterhaufen, dort Leichenzergliederungen im Anatomischen Theater … der Tod war in der beginnenden Neuzeit omnipräsent. Die Angst davor sicher ebenfalls. Und sie wurde wohl noch verstärkt durch teils furchterregende Personifizierungen, etwa die Vorstellung vom gesichtslosen „Sensenmann“, die auf christliche und vorchristliche Mythologien zurückgeht.

Wirken solche Bilder vielleicht bis heute im „Seelenhintergrund“ mancher Menschen? „Sicher hat die Angst auch mit der Personifizierung des Todes zu tun“, sagt der Münchner Vortragsreferent Siegfried Bauer, der zum Thema „Tod und Jenseits“ einen bemerkenswerten Text im Angebot hat. „Wir kennen alle die Bilder vom Sensenmann, der in der einen Hand eine Sanduhr hält, die die abgelaufene Zeit anzeigt. Die Sense in seiner anderen Hand symbolisiert das Durchtrennen des Lebensfadens, der bereits in Mythologie und Bibel als ‚Silberne Schnur‘ genannt ist. Die verbreitete Angst vor dem Tod wurde in den letzten Jahrhunderten in unserem westlichen Kulturkreis aber vor allem durch die Kirchen bewusst genährt und gefördert. Die Angst diente als wirkungsvolles Druckmittel, die Menschen nicht nur zum Glauben, sondern vor allem in die Kirchen zu bewegen. Fegefeuer, Hölle, Schmerzen, Qualen … diese bewusst in den Vordergrund gestellten Vorstellungen haben die Angst der Menschen vor dem Tod geschürt.“

Die Angst vor dem Tod hatte nach Siegfried Bauer auch mit der Frage zu tun, wie sicher sich dieser feststellen lässt: „Die heutige moderne Apparatemedizin ist in der Lage, den Tod sehr zuverlässig zu bestimmen. Das war aber nicht immer so und führte zum Beispiel dazu, dass Menschen lebendig begraben wurden. Indizien fanden sich bei exhumierten Leichen: Die Beerdigten und zu früh für tot Erklärten hatten sich im Sarg noch einmal umgedreht oder Kratzspuren am Sargdeckel hinterlassen. Diese gruseligen Berichte vergrößerten verständlicherweise auch die Angst vor dem Tod.

Ärzte und Forscher nahmen sich daher des Themas an, denn wenn es schon keine Geräte gab, den Tod immer mit Sicherheit festzustellen, so wollte man wenigstens Möglichkeiten und Vorrichtungen entwickeln, die ein Lebendig-begraben-Sein verhindern. Es gab zum Beispiel die Konstruktion eines russischen Arztes, der eine Röhre mit einer langen Schnur durch die Erde in den Sarg führte, wobei am oberen Ende der Schnur ein Fähnchen angebracht war. Die Schnur wurde am unteren Ende um den Finger des Beerdigten gewickelt, und wenn dieser sich doch noch einmal bewegte, schwenkte das Fähnchen und man sah: Hier liegt jemand lebendig begraben! Ähnliche Konstruktionen befanden sich in einigen Leichenhallen in München, in denen für tot Erklärte einige Tage aufgebahrt und ihre Finger mit einem komplizierten Zugleinensystem verbunden wurden. Wenn sich doch noch jemand bewegte, läutete über dieses System ein Glöckchen bei einem Wächter.“

Sicher zu dessen Freude.

In unserer heutigen Gesellschaft ist die Sorge vor dem Lebendig-begraben-Werden weit in den Hintergrund getreten. Doch die Frage, wann der Mensch wirklich tot ist, scheint auch im 21. Jahrhundert noch nicht endgültig geklärt.

Die hirntote Leiche darf sich bewegen

Diese Behauptung dürfte vorerst unglaubwürdig erscheinen. Denn schließlich kennen wir ja die klassischen Todesmerkmale – Stillstand der Atmung und Stillstand des Herzens. Darüber hinaus können heute auch die Gehirnströme gemessen werden. Wenn in der Elektroenzephalographie keine Aktivität mehr festzustellen ist, dann wird wohl auch kein Bewusstsein mehr vorhanden sein; der Mensch ist tot. Was also sollte in dieser Angelegenheit unklar sein?

Zunächst ist festzustellen, dass die früheren Todeszeichen, die über Jahrtausende Gültigkeit hatten, durch die Weiterentwicklung der medizinischen Technik keine unumschränkte Aussagekraft mehr besitzen. Denn es gibt ja Möglichkeiten, Herzschlag und Atmung wieder in Gang zu bringen, den Menschen also während eines bestimmten Zeitraums erfolgreich zu reanimieren. Vor allem aber ist es üblich geworden, bestimmte Patienten über Wochen oder Monate „künstlich am Leben zu erhalten“, wie es so schön heißt.

Im Jahr 1958 beschrieben französische Neurologen erstmals das Krankheitsbild „Hirnversagen bei sonst lebendigem Leib“ und nannten es „coma dépassé“. Der Körper kann demnach „leben“, während das Gehirn „tot“ ist. Aber was bedeutet das für den gesamten Menschen? Lebt er nun oder ist er tot? Ist er nur sein Gehirn oder umfasst die menschliche Persönlichkeit mehr als nur das?

In der Medizin hat man sich zehn Jahre später, 1968, auf die Definition des sogenannten Hirntodes geeinigt. Demnach gilt der Mensch als tot, sobald keine Gehirnfunktionen mehr nachweisbar sind. Dieses „Kriterium“ erschien plausibel, weil die Praxis gezeigt hatte, dass in einem Gehirn, das nicht mit Blut und Sauerstoff versorgt wird, innerhalb kurzer Zeit endgültig und unwiderbringlich jene Funktionen erlöschen, die ein Mensch körperlich zum Leben braucht und die seine geistige Persönlichkeit erkennen lassen.

Anders ausgedrückt: Vor rund 50 Jahren wurde der „Homo cerebralis“ geboren. In seiner neuen Vorstellung von sich selbst definiert der Mensch sich seither einfach als Ergebnis elektrischer Gehirnströme. Menschsein ist Gehirnsein.

Seit Einführung des „Hirntodkriteriums“ können daher auch Menschen als tot gelten, deren „Lebens“-Funktionen durch Maschinen aufrecht erhalten werden und die man in entsprechenden Kliniken nicht als Leichen, sondern als Patienten behandelt: Hirntote werden ernährt und gewaschen, erfahren Haut-, Haar- und Zahnpflege, und es wird ihnen auch zugestanden, sich zu rühren. Wenn sie im Krankenbett gelegentlich Hand- oder Beinbewegungen vollführen oder sogar Anstalten machen, eine Pflegekraft zu umarmen, dann gilt das als reflexbedingt.

Der „Lazarus-Effekt“ ist bekannt. Hirntote „Leichen“ dürfen sich bewegen.

Nicht zufällig allerdings gilt das Todesmerkmal „hirntot“ just seit jener Zeit, als sich die Transplantationsmedizin zu etablieren begann.

Am 3. Dezember des 1967 hatte ein südafrikanisches Transplantationsteam unter der Leitung von Dr. Christiaan Barnard (1922–2001) in Kapstadt die weltweit erste Herztransplantation durchgeführt. Sie machte den südafrikanischen Arzt zur Legende (2004 wurde Barnard hinter Nelson Mandela zum zweitbedeutendsten Südafrikaner aller Zeiten gewählt) und seinen mutigen Patienten Louis Washkansky immerhin um 18 Tage älter. Knapp drei Wochen nach dem Eingriff starb er.

Und doch stieß diese Transplantation in der Medizin eine Türe auf, durch die bald Dutzende, Hunderte, Tausende Chirurgen auf der ganzen Welt drängten.

Zunächst führte deren Weg in eine rechtliche Grauzone. Denn medizinisch war klar: Das Herz (oder ein anderes Organ) einer klassischen Leiche ist für eine Transplantation unbrauchbar.

Ein Körper, der in Ruhe „sein Leben aushaucht“ und dem dann vielleicht noch ein paar Tage Totenruhe gestattet sind, ist als Spender nicht geeignet. Nur mit „frischen“ Organen aus Körpern, die bis zur Entnahme noch durchblutet sind, hat eine Transplantation Aussicht auf Erfolg. Weiterhin war klar, dass jeder Patient, der maschinell am Leben gehalten wurde, im Zuge der Explantation stirbt. Demnach hätte man allen Transplantationschirurgen, rechtlich betrachtet, Tötungen vorwerfen können – nicht aber, wenn die potentiellen Organspender schon vor dem Eingriff als Leichen gelten.

Die Hirntod-Definition gewährleistet das. Sie geht zurück auf eine Kommission aus Ärzten, Juristen und Ethikern, die 1968 in Harvard zusammentrat und ein nicht mehr umkehrbares Koma als „Tod des Menschen“ definierte. Damit wurde in den USA der Todeszeitpunkt zugunsten der Transplantationsmedizin vorverlegt. Europa zog rasch nach. Man einigte sich – ohne spezielle Studien durchgeführt zu haben – am runden Tisch auf eine moderne Todesdefinition zugunsten der Organempfänger.

Allerdings gehen die Meinungen darüber, ob der Hirntod wirklich zuverlässig mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist, bis heute auseinander. Dem medizinischen Mainstream, der praktisch ohne Wenn und Aber für Organspenden wirbt, stehen Kritiker gegenüber, die unermüdlich auf Grauzonen hinweisen:

• Das Hirntod-Kriterium sei keine medizinische Gewissheit, sondern eine willkürlich festgelegte Grenzlinie, eine Art medizinische Verabredung.

• Der Mensch könne nicht auf seine Gehirnfunktionen reduziert werden. Jener Zusammenbruch des Organismus, der als Tod bezeichnet wird, zeige sich nicht nur an einem Organ, sondern durch den Stillstand aller Wechselwirkungen im gesamten Körper.

• Der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen lasse sich nicht mit letzter Sicherheit diagnostizieren.

• Es sei nicht endgültig erwiesen, dass hirntote Menschen keine Empfindungen haben. Forschungen an Koma-Patienten hätten gezeigt, dass diese Patienten auf äußere Ereignisse und soziale Stimuli (zum Beispiel auf Besuche von Verwandten) reagieren können.

Leben erhalten um jeden Preis

De facto sind Organspender so etwas wie lebende Leichen. Denn einerseits haben sie keine Patientenrechte, weil sie ja als tot betrachtet werden. Andererseits werden ihnen aber auch keine Totenrechte zugestanden. Sie dürfen nicht in Würde sterben, weil ihre Organe ja verwertet werden sollen.

Ihr Gehirn gilt als tot, ihre Person als erloschen, der „Restkörper“ (in Fachkreisen auch als „Herz-Lungen-Paket“ bezeichnet) jedoch als lebend. Bis er im Zuge der Explantation auf ziemlich brutale Art getötet wird.

Zwar spricht der „Transplantationskodex der Arbeitsgemeinschaft Organtransplantation“ von der Würde des Verstorbenen während der Organentnahme und von einer achtungsvollen Behandlung des Leichnams. Aber wie sieht diese in der Praxis aus? „Versuchen Sie sich diesen ‚menschenwürdigen’ Akt einmal vorzustellen“, rät Dipl.-Psych. Roberto Rotondo im Buch „Sterben auf Bestellung – Fakten zur Organentnahme“. „Immerhin können bei einer Multiorganentnahme Hornhäute, Innenohren, Kieferknochen, Herz, Lungen, Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse, Magen, Knochen, Bänder und Knorpel, Haut, Adern und Knochenmark entnommen werden.“

Roberto Rotondo zitiert in der Folge auch die Aussagen von Pflegekräften, die den routinemäßigen Ablauf von Organtransplantationen schildern und sich dabei über viele Details – wie zum Beispiel die großen Flüssigkeitsmengen – auslassen, die bei einem solchen Eingriff anfallen. Und er kommentiert: „Diese Pflegekräfte kennen sehr blutige Operationen aus anderen Zusammenhängen und können in diesem Arbeitsbereich mit Blut umgehen. Wenn dann im Zusammenhang mit einer Organentnahme der Begriff ‚Schlachtfeld‘ verwendet wird, dann stellt zumindest diese Pflegekraft selbst den Bezug zum Schlachten her.“

In dem Buch „Sterben auf Bestellung“ kommt auch eine ehemalige Fachschwester für Anästhesie und Intensivmedizin an der Uni Düsseldorf, Liliana Sitar, zu Wort. Sie berichtet, dass Hirntote auf ihrer Station genauso betreut wurden, wie andere Hirnverletzte auch. Sie wurden durch Infusionen ernährt, die Blutwerte wurden kontrolliert, ebenso der Blasenkatheder für die Urinausscheidung, der Schweiß wurde ihnen abgewischt und Medikamente für die Muskelentspannung wurden verabreicht, damit sich die für tot Erklärten, wenn sie auf dem Weg zum OP-Saal an den Verwandten vorbeigefahren wurden, nicht bewegten.

Liliana Sitar berichtet über eine solche „letzte Fahrt“: „Alles, was ich an dem Patienten sah, war sein lebendiger Körper. Der war warm. Der atmete. Der schwitzte. Das tote Gehirn sah ich nicht. Ich hab’ weiter mit dem hirntoten Patienten geredet. Hab’ ihm genau erklärt, was ich gerade an ihm mache. Dass er zur Organentnahme in den Operationssaal gefahren wird, das hab’ ich allerdings nicht über die Lippen gebracht.“

Als Liliana Sitar zum Schluss kam, sie könne es nicht länger verantworten, Menschen in ihrem Sterben zu stören, wechselte sie den Arbeitsplatz.

Die Transplantations-Praxis fordert das Pflegepersonal ganz besonders. Denn während die Chirurgen sich im wesentlichen auf ihre Arbeit an den Organen konzentrieren, erleben Pflegerinnen und Pfleger den Menschen, den sie betreuen – bis zu seinem Ende im OP-Saal. Wo die Hirntoten übrigens ruhig gestellt oder narkotisiert werden, weil es sonst während des Eingriffs zu unberechenbaren Bewegungsreaktionen kommen könnte. Denn sobald der Chirurg das Messer ansetzt, reagiert der Tote.

Einer der Kritiker, die sich seit vielen Jahren für mehr Transparenz im Bereich der Organtransplantation einsetzen, ist der Düsseldorfer Wissenschaftsjournalist Richard Fuchs, der das „Dokumentationszentrum Organtransplantation“ gründete. In einem Beitrag mit dem Titel „Hirntod made in USA“ beschreibt er den Hirntod als „Geschäftsgrundlage der Transplantationsmedizin“. Diese sei medizinisch eine Sackgasse und sorge durch die extrem hohen Kosten dafür, dass die Finanzierung unseres Gesundheitssystem längerfristig auf dem Spiel stehe.

Auch in der Ärzteschaft gibt es Kritiker. So formulierte beispielsweise der Duisburger Mediziner und Psychiater Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsund Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags bereits im Juni 1995: „Erstaunlich an der jetzigen Situation ist eigentlich nur, dass wir alle – einschließlich der Bundesärztekammer, der Kirchen und der Ethikkommissionen – 25 Jahre brauchten, um zu erkennen, dass wir uns hinsichtlich der Hirntod-Definition auf einem Irrweg befunden haben, ein Irrweg, der eigentlich mit logischem gesunden Menschenverstand leicht zu erkennen war, weshalb auch jetzt diejenigen Vertreter des Souveräns, die ‚näher dran sind‘, signalisieren, dass sie nicht mehr bereit sind, diesen Irrweg weiterzuge hen.“ Und außerdem sagte Dörner bei dieser Gelegenheit klipp und klar: „Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen. Dies ist – so peinlich das klingt – auf jeder logischen Ebene zu begründen.“

In ihrem Buch „Ungeteilt sterben – kritische Stimmen zur Transplantationsmedizin“ ließ Dr. Gisela Lermann als Herausgeberin Fachleute und Betroffene zu Wort kommen, etwa den Neurochirurgen Dr. Andreas Zieger. Er sagt: „Transplantationsmedizin ist der ästhetisch und moralisch am meisten verkommene Teil der modernen Chirurgie und Medizin.“

Eine solche Bemerkung ist natürlich hochgradig brisant. Denn unter dem Aspekt der Nächstenliebe wird die Transplantationsmedizin bis heute als über alle Zweifel erhaben hilfreich und gut dargestellt.

In einem Gespräch berichtete mir Dr. Lermann denn auch wenig überraschend, dass es Stimmen gibt, „die die Autoren vehement angreifen. Das stimmt um so nachdenklicher, als manchmal überhaupt nicht auf deren Sachargumente eingegangen, sondern den Leuten einfach die Kompetenz abgesprochen wird, etwas zum Thema sagen zu können.“

Das wahrscheinlich beste wissenschaftliche Buch zum Thema – heute eine kostbare Rarität – verfassten zur Jahrtausendwende Anna Bergmann und Ulrike Baureithel. „Herzloser Tod – Das Dilemma der Organspende“ wurde als „Wissenschaftsbuch des Jahres 2000“ ausgezeichnet.

Dem Autorinnen-Duo gelang auf der Grundlage von Interviews mit Betroffenen, Angehören, Ärzten und Pflegern ein ziemlich erschütternder Blick hinter die Kulissen der Transplantationspraxis. Anna Bergmanns beruflicher Karriere war die Publikation nicht förderlich – um es vorsichtig auszudrücken. In der Sache engagiert ist sie trotzdem noch heute.

Ich traf die Kulturwissenschaftlerin an der Universität Innsbruck zu dem folgenden Gespräch.

Neues Leben oder neues Sterben?

Sie befassen sich seit etwa 15 Jahren mit den Graubereichen der Transplantationsmedizin und haben darüber wissenschaftliche Publikationen verfasst. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?

Bergmann:

Die Organtransplantation beruht auf einer Überschreitung von biologischen, ethischen und anthropologischen Grenzen. Zum einen muss die angeborene Immunabwehr bei den Organempfängern lebenslang chemisch unterdrückt werden, damit sie nicht mehr in der Lage sind, das Organ abzustoßen. Das hat zur Konsequenz, dass diese Therapie mit lebensgefährlichen Folgewirkungen verbunden ist. Zum anderen beruht die Transplantationsmedizin auf der Abhängigkeit von dem Körper und Tod ihrer eigenen Patienten, so dass sie Sitten unserer Sterbe- und Bestattungskultur verwerfen muss. Dann hat sie immer wieder neu das Problem der Organbeschaffung und das Auseinanderklaffen, wie es heißt, von „Angebot“ und „Nachfrage“ zu lösen. Und schließlich ist diese Therapieform auf noch lebende Patienten angewiesen, denn Organe aus dem Körper von Leichen hätten bei Organempfängern eine tödliche Wirkung. Deshalb wurde in den 1960er Jahren der Hirntod – das Konstrukt einer „lebenden Leiche“, die als „tote Person“ mit einem „noch lebenden Restkörper“ definiert ist – als Voraussetzung der Organgewinnung eingeführt.

Sprechen Sie die Definition der Harvard-University an, die 1968 definiert hat: Wenn es keine Gehirnfunktionen mehr gibt, gilt der Mensch als tot?

Bergmann:

Die Harvard-Richtlinien wurden als Reaktion auf die von dem Kapstadter Chirurgen Christiaan Barnard losgetretene Transplantationswelle durch seine 1967 medienwirksam präsentierte Herztransplantation formuliert. Bis dahin fand die Organgewinnung in einer rechtlichen Grauzone statt. Aber die Harvard-Definition legte die Areflexie als Zeichen des Hirntodes fest und zählte das Rükkenmark mit zum Gehirn. Dieses Kriterium wurde noch im selben Jahr aufgegeben, weil „Harvard-Tote“ für Zwecke der Transplantationsmedizin bereits „zu tot“ waren, wie Gesa Lindemann es einmal ausgedrückt hat. Seither dürfen Hirntote bis zu 17 Reflexe aufweisen. Denn man hat auf die Definition des „zerebralen Todes“ der deutschen Neurochirurgen Wilhelm Tönnis und Reinhold Frowein zurückgegriffen und den Hirntod auf die Schädelkapsel eingegrenzt, wobei bemerkenswert ist, dass Tönnis in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus verstrickt war.

Wenn Sie sagen, dass Organtransplantationen gegen biologische Gesetzmäßigkeiten verstoßen – meinen Sie damit die Tatsache, dass Verwesungsprozesse für den Organempfänger tödlich sind?

Bergmann:

Ich meine damit, dass fremde Organe grundsätzlich abgestoßen werden, egal ob sie im vitalen Zustand oder mit bereits nekrotischen Anteilen verpflanzt werden. Wir haben eine angeborene und lebenswichtige Immunabwehr, die sofort reagiert, wenn ein Fremdkörper in unseren Körper dringt. Das ist das Grundproblem der Transplantationsmedizin, das sie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute nicht gelöst hat. In den 1950er Jahren versuchte man noch, die Immunabwehr lahmzulegen, indem man Organempfänger einer radioaktiven Ganzkörperbestrahlung und einer anschließenden Injektion von Knochenmarkzellen unterzog, heute erfolgt sie medikamentös.

Die Immunabwehr muss bis zum letzten Lebenstag eines Organempfängers unterdrückt werden, was zu gravierenden Infektionsgefahren führt. Und es wird ein Zustand erzeugt, der von medizinischer Seite mit dem Krankheitsbild von AIDS verglichen wurde. Entsprechend haben Organempfänger ein 65fach erhöhtes Krebsrisiko. Außerdem ist diese Therapieform mit Nierenschädigungen und anderen schwerwiegenden Folgewirkungen der chemischen Außerkraftsetzung des Immunsystems verbunden. Daher bleiben Organempfänger chronisch krank und sind entsprechend auch als Schwerbehinderte geschützt.

Was hat sich denn in der Transplantationspraxis in den letzten 15 Jahren aus Ihrer Sicht geändert?

Bergmann:

Charakteristisch für ihre Entwicklung ist, dass Transplantationen nicht nur um Hände, Arme, Beine und Gesichter erweitert wurden, sondern die Zahl der Organverpflanzungen steigt insgesamt. Die Transplantationsmedizin geht davon aus, dass sich zukünftig der Organbedarf verzehnfachen wird. Entsprechend gibt es eine intensivierte Forschung unter der Fragestellung, wie die Zahl der Organe potenziert werden kann. Hier stehen momentan drei Strategien im Vordergrund: Die erste bezieht sich auf die Erweiterung von Kriterien der Spenderauswahl und entsprechend auch der Indikation bei den Empfängern. So hat die Transplantationsmedizin den „marginalen Spender“ und sein Pendant, den „marginalen Empfänger“, aus der Taufe gehoben, der entweder über 65 Jahre alt ist oder Erkrankungen aufweist, die in den 1990er Jahren noch als Kontraindikation für eine Verpflanzung galten. Beispielsweise werden Lebern mit einer über 30-prozentigen Verfettung oder auch Raucherlungen in den Körper von Patienten verpflanzt, wenn deren Vorerkrankung oder altersbedingt eine geringere Lebenserwartung wahrscheinlich ist. Begonnen mit der Aufweichung der Spenderkriterien hat die Privatstiftung Eurotransplant schon 1999 durch das Eurotransplant Senior Program (ESP) unter der Floskel „Old-for-Old“.

Mit dieser Strategie zur Vermehrung transplantierbarer Organe wurden erstmals Auswahlkriterien hinsichtlich des Alters von Spendern und Empfängern für die Gewinnung und Verpflanzung von Nieren gelockert. Im Rahmen des ESP-Programms erhalten Patienten, die älter als 65 Jahre alt sind, mittlerweile auch weitere Organe von alten Menschen. Entsprechend hat sich die Altersstruktur sowohl von Spendern und Empfängern markant verändert. In Deutschland war zum Beispiel 2012 jeder dritte Organspender über 65 Jahre alt. Und die Werbung um Organspende macht nicht einmal mehr vor 90jährigen Menschen Halt, so dass Organe aus dem Körper von hochbetagten Senioren ohne Altersgrenze in den Körper von Patienten, die älter als 65 Jahre sind, verpflanzt werden.

Außerdem versucht die Transplantationsmedizin den sogenannten „Spenderpool“ durch Lebendspenden von Nieren, Teilen der Leber und der Lungen zu erhöhen, und drittens durch die neue Spendergruppe der „Non-heart-beating-donors“. Hier handelt es sich um Menschen, die einen Herzstillstand erlitten haben und deren Zahl nicht so begrenzt ist wie die von vornherein nur kleine Gruppe hirnsterbender Patienten, deren Hirnkreislauf aufgrund eines Schlaganfalls, einer Hirnblutung oder eine Schädelverletzung zusammengebrochen und bei denen der „Hirntod“ diagnostiziert ist.

Von welchen Ländern sprechen Sie hierbei? Deutschland, Österreich?

Bergmann:

Die gesamte Entwicklung der Transplantationsmedizin erfolgt international im Rahmen der scientific community, obwohl es national verschiedene Gesetzgebungen hinsichtlich der Organentnahmen gibt. In Deutschland ist die Explantation der „Nonheart-beating-donors“ noch als medizinische Tötung verboten, was meines Erachten jedoch nur eine Frage der Zeit sein wird. Die Verpflanzung – wie es ein Transplantationsmediziner ausdrückte – von „schlechten“, also „marginalen Organen“, ist mit steigender Tendenz im internationalen Maßstab gängig geworden.

Für mein neues Buch habe ich Interviews mit von dieser Verpflanzungspraxis betroffenen Familien durchgeführt, die mir verheerende Verläufe nach der Transplantation ihrer Angehörigen geschildert haben. Sie sind bis heute traumatisiert. Denn sie sahen in der Transplantation die Perspektive, den Tod abwenden zu können. Stattdessen kam es zu einem qualvollen Sterbeprozess, den ich nur noch mit dem Begriff des „Monströsen“ beschreiben kann, weil es diese Art des Sterbens mit dieser enormen Häufung extremer Folgewirkungen der Immunsuppression sonst wohl kaum gibt.

Die Logik des Ersatzteile-Austauschens funktioniert also nicht wirklich

Bergmann:

Wenn ein Organ aus dem körperlichen Zusammenhang heraus gedacht, also nicht in seiner leiblichen Verbundenheit verstanden und entsprechend auch zu heilen versucht wird, handelt es sich um ein mechanistisches Körperkonzept, das selbst in der modernen Medizin überholt ist. Ich denke zum Beispiel an hirnphysiologische oder zellbiologische Forschungsansätze, die insbesondere hochkomplexe Wechselwirkungen ins Zentrum stellen.

Die Transplantationsmedizin hält aber an einem mechanistischen Menschenbild fest. Der selbstverständlich gewordene Satz: „Ein Mensch benötigt ein neues Herz“ beinhaltet die Vorstellung von einem autonom funktionierenden Organ, das in keiner lebendigen Verbindung zum Beispiel zur Leber, Lunge oder Niere steht und insgesamt aus seinem leiblichen Zusammenhang gedacht ist. Die Wechselbeziehungen zu anderen Organen und generell die leibliche Verbundenheit müssen daher ignoriert werden – das Herz wird also im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Körper heraus gerissen, um es mechanisch auswechselbar machen zu können, was jedoch angesichts der schweren Nebenwirkungen eine Fiktion bleibt.

Wie beurteilen Sie im Hinblick auf all diese Schattenseiten die Werbung, die für das Organspenden gemacht wird? Als gezielte Irreführung?

Bergmann:

Es wird genau dieses primitive mechanistische Körperbild reproduziert, das nicht nur eine utopische Vorstellung unseres Leibes suggeriert, ganz nach dem Motto: „Ein neues Organ – ein neues Leben“. Die hohen Sterbe- und Morbiditätsraten werden nicht veröffentlicht und in der Werbung um Organspende verschwiegen. Auch die Formulierung auf den Spenderausweisen – „Für den Fall, dass nach meinem Tod …“ entspricht einer vorsätzlichen Täuschung der Bevölkerung, weil damit eine Leichenvorstellung vermittelt wird, die der Realität von hirnsterbenden Patienten auf einer Intensivstation absolut widerspricht, wenn wir bedenken, dass Hirntote noch über alle Anzeichen des Lebens verfügen und der Blutkreislauf, der Stoffwechsel, das Blutgerinnungs- und Immunsystem erhalten bleiben.

Sie atmen mit technischer Unterstützung des Zwerchfells, sind in der Lage, Infektionen abzuwehren, Stresshormone zu entwikkeln, zu schwitzen, bei der Eröffnung ihres Körpers mit Anstieg des Blutdrucks und Pulses zu reagieren. Hirnsterbende Frauen sind noch fähig, ein Kind auszutragen.

Vor diesem Hintergrund kann von Information keine Rede sein. Meines Erachtens handelt es sich um eine Desinformationspolitik, um an mehr Organe zu kommen – und mittlerweile, das sollte auch bedacht werden, um gratis Gewebe gleich mit gewinnen zu können.

Sofern es sich um Multiorganentnahmen handelt

Bergmann:

Die Multiorgangewinnung bewegt sich inzwischen bei etwa 85 Prozent aller Organentnahmen. Eine Diskussion über die Gewinnung von Geweben fand bisher nicht statt, obwohl bestimmte Gewebe zu Arzneimitteln verarbeitet und teilweise verkauft werden. Die Reklame für Organspende legt es geradezu darauf an, dass sich niemand ein Bild von dem Umfang und dem Prozedere einer Organ- und Gewebeentnahme machen und realisieren kann, wie der sich noch im Sterben befindende Spender erst auf dem Operationstisch durch medizinisches Handeln in eine wirkliche Leiche verwandelt.

Die Werbung operiert mit dem Bild des klinisch Reinen; der Gedanke der Nächstenliebe steht im Vordergrund, alles ist blumig und bestens in Ordnung. Die blutige Wirklichkeit im Operationssaal wird ausgeblendet. Sie haben mit vielen Menschen gesprochen, die berufsmäßig mit Transplantationen zu tun haben: Krankenschwestern, Anästhesisten, Ärzte. Was berichten sie vom Alltag hinter der Kulisse der Werbeklischees?

Bergmann:

Bemerkenswert ist zunächst der hohe Grad der Arbeitsteilung bei einer Organ- und Gewebegewinnung. Die einzelnen Teams der Organentnehmer haben im Operationssaal schon einen abgedeckten Organspender vor sich, den sie als Patienten vorher niemals gesehen haben. Sie betreten als Fremde kurz den Operationssaal, um bestimmte Organe zu explantieren. Diesen beschränkten Horizont haben Operationsschwestern und Anästhesisten nicht, da sie eine Explantation von Anfang bis Ende mittragen müssen. Anästhesisten sind für die Kreislaufstabilisierung der Organspender verantwortlich und müssen zum Beispiel auch eine „frustrane Organspende“ abwehren helfen: Denn wenn der Herzkreislauf eines Spenders vor der Organgewinnung auf dem Operationstisch zusammenbricht, werden auch Reanimationen durchgeführt, um die Organe zu „retten“.

Dies ist medizinethisch eine heikle Situation. Aus der Berufsgruppe der Anästhesisten wurden mir schwere Gewissenskonflikte geschildert und auch berichtet, dass zum Beispiel eine Anästhesistin das Krankenhaus verlassen hat mit der Begründung, sie beteilige sich nicht an Mord.

Und für die Schwestern ist es wahrscheinlich auch eine schwierige Situation.

Bergmann:

Ja, weil sie das gesamte Prozedere miterleben. Wenn nach der Organentnahme außerdem noch Gewebe gewonnen wird, kann es zu solchen Konflikten kommen, dass zum Beispiel OP-Schwestern sich weigerten, an Knochenexplantationen weiterhin mitzuwirken.

Für sie sind auch neuere Entwicklungen problematisch, zum Beispiel die brutalisierte Explantationsweise bei der Gruppe der „Non-heart-beating-donors“ oder die gängig gewordene Transplantation von alten Menschen, die schwer zu behandelnde Wundheilungsprobleme bekommen.

Also Menschen, bei denen keine Hirntodfeststellung erfolgt, die aber einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden.

Bergmann:

Ja, die Gruppe der „Non-heart-beating-donors“ wurde 1995 in mehrere Kategorien eingeteilt. Kategorie III stellt darunter die größte Spendergruppe dar. Hier handelt es sich um Patienten, bei denen aufgrund einer schlechten Prognose ein Behandlungsabbruch erfolgt, der direkt an die Logistik der Organentnahme gekoppelt wird. Allerdings wurde eine „non-touch-period“ eingeräumt, die zwischen 75 Sekunden und 10 Minuten schwankt. Wir haben es hier also mit Patienten zu tun, bei denen der Hirnkreislauf nicht zwingend zusammengebrochen ist, denn bis zu 15 Minuten nach Herzstillstand sind Hirnaktivitäten noch messbar.

Das Hirntodkriterium ist bei dieser Spendergruppe aufgegeben worden. Stattdessen wird versucht, mit allen nur denkbaren Mitteln den Sterbeprozess medikamentös, apparativ und durch Herzmassage rückgängig zu machen sowie unter hohem Zeitdruck die Organe zu gewinnen.

Organtransplantationen waren ja immer auch Experimente am Menschen. Es ging nicht nur um medizinische Hilfe, sondern auch um Erkenntnisgewinn. Wie sehen Sie die Situation heute? Ist die Experimentierphase noch nicht zu Ende?

Bergmann:

Oh nein! 2008 hat in der Fachliteratur ein Transplantationsmediziner hinsichtlich der anstehenden Forschungen auf diesem Gebiet von einem „Goldgräberzeit-Szenario“ gesprochen. Das Forschungsfeld ist weit gespannt, es geht um optimierte Möglichkeiten der Organkonservierung, die Entwicklung neuer Generationen von Immunsuppressiva und nicht zuletzt gibt es ja auch eine wichtige Verbindung zwischen Gentechnologie, Stammzellforschung und Transplantationsmedizin, um Probleme der Abstoßung und Gewinnung von Organen beispielsweise durch ihre Verpflanzung aus dem Körper genmanipulierter Schweinen lösen zu können.

Haben sich die Überlebensaussichten für Organempfänger in den letzten zehn oder 20 Jahren verbessert?

Bergmann:

Das ist schwer zu sagen, denn die Zahlen werden nicht offen gelegt, und die Transplantationsmedizin hat sich nie durch eine erfolgreiche Überlebensrate der Organempfänger beweisen müssen. Dass mit Überlebensstatistiken keine Werbung gemacht wird, sollte jedoch zu denken geben. Was allerdings auffällig ist: Die Einjahres-Überlebensrate hat sich zum Beispiel bei Herzempfängern seit etwa 20 Jahren nicht verändert. Im ersten Jahr sterben nach einer Herzverpflanzung nach wie vor 20 Prozent. Nach einer Lungentransplantation hat sich die Überlebensrate laut Statistik der Pharmafirma Genzyme verbessert, und es sterben im ersten Jahr 28 Prozent. Nierenempfänger haben die beste Prognose, zumal bei einer Abstoßung die Dialyse als Überbrückung möglich ist, so dass Genzyme hier ausschließlich „Transplantatfunktionsraten“ publiziert und eine Funktionsrate bei jedem zweiten Nierenempfänger von 13 Jahren nennt. Die hier veröffentlichten Zahlen sind allerdings in den letzten sieben Jahren konstant geblieben.

Haben Sie bei Ihren Interviews auch Organempfänger gefunden, die sich wirklich rundum wohl gefühlt haben? Die also, ganz im Sinn der Werbung, gesagt haben: „Jetzt habe ich ein neues Organ, ich fühle mich wieder richtig fit und gesund!“

Bergmann:

Nein, ich habe sogenannte Langzeitüberlebende interviewt, die sich damit arrangiert und mit den Folgeerkrankungen der Immunsuppression, mit der Angst vor Infektionen, Krebs und wie lange es noch gut gehen wird, zu kämpfen haben. Aber grundsätzlich gibt es, wie der Psychologe Oliver Decker hervorgehoben hat, ein hohes Maß an Verleugnung der körperlichen und seelischen Probleme.

Der Rockstar Lou Reed, der sich im Mai 2013 einer Lebertransplantation unterzogen hatte und im Oktober 2013 an den Folgen dieser Therapie starb, hat eben ganz nach dem gängigen Werbemotto, er habe eine „neue Leber“ und alles laufe bestens, nach der Transplantation erklärt: „Ich bin ein Triumph der modernen Medizin“; er freue sich, „bald wieder auf der Bühne zu stehen und Songs zu schreiben“.

Auch Claudia Kotter, die eine Lunge eingepflanzt bekommen und die Transplantation überlebt hatte, trat noch kurz vor ihrem Tod im Fernsehsender MDR auf und präsentierte sich in einer Werbesendung als kerngesund.

Werbebotschaften für die Organspende suggerieren im Wesentlichen, dass kranke Menschen sterben müssen, weil es zu wenig Organe gibt – deshalb soll jeder spenden. Können Sie dieser Argumentation gar nichts abgewinnen?

Bergmann:

„In Deutschland sterben täglich drei Menschen“, so heißt es, „weil“ sie kein Organ erhalten haben. Mit dieser Behauptung wird ein falscher Schuldzusammenhang erzeugt und verleugnet, dass Organempfänger todkranke Menschen sind, die sich im Endstadium einer schweren Krankheit befinden und dass auch nach einer Transplantation weiter gestorben wird. Aber auf Grundlage einer fantastischen Vorstellung der Machbarkeit durch eine omnipotente Medizin wird, überspitzt gesagt, die Todesüberwindung zum Programm erhoben und die Botschaft transportiert, die moderne Medizin sei tatsächlich in der Lage, den Tod durch einen simplen Organaustausch therapieren zu können.

Auch wenn eine Transplantation gut geht, kann sich das alte Krankheitsbild weiterentwickeln und/oder diese Patienten sterben nicht selten qualvoll an den Folgewirkungen der Transplantation. Dieses Sterben wird gesellschaftlich ausgeblendet und mit allen Mitteln tabuisiert.

Warum stehen diese Probleme in der öffentlichen Wahrnehmung so weit im Hintergrund? Weshalb nimmt man das alles ohne weiteres in Kauf? Was ist nach Ihrer Meinung die eigentliche Motivation für die Entwicklung der Transplantationsmedizin?

Bergmann:

Meines Erachtens ist die Todesüberwindung ein wichtiger Impuls für den Glauben an diese gewalttätige „Heilform“ und für die Akzeptanz der ungeheuerlichen Körperverwertung von sterbenden Patienten. Selbst die Werbung arbeitet mit dem Gedanken „Mach dich unsterblich und spende Organe!“

Hier wird auf magische Vorstellungen zurückgegriffen und damit geworben, die Spender lebten in den Organempfängern weiter. Und umgekehrt wird hinsichtlich der „Hirntoten“ ein Bild von verwertbarem Müll vermittelt.

In den USA gibt es den Aufruf: „Become a Donor, recycle yourself“.

Es werden also alle Register für eine Ideologie der Lebensverlängerung um jeden Preis gezogen.

Die Frage ist, wie weit unsere Gesellschaft in dem mit der Organgewinnung verbundenen unzumutbaren Umgang mit Sterbenden und Toten zu gehen bereit ist, um das Phantasma der Todesüberwindung aufrecht zu erhalten …

Rückgewinnung des „Weltvertrauens“

Anna Bergmanns kritische Betrachtungen machen klar: Die moderne Transplantationsmedizin ist der (vorläufige) Höhepunkt einer Entwicklung, deren Ursprung schon im mittelalterlichen Pestinferno verortet werden kann. Nach Ansicht der Kulturwissenschaftlerin kann „die Entstehung der Moderne als eine kollektivpsychologische Reaktion auf traumatische Todeserfahrungen gedeutet werden, als Versuch, dem Ursprung von Krankheit, Tod und Naturkatastrophen jenseits von Metaphysik und Religion auf den Grund zu gehen. ‚Weltverbesserung‘ mit dem Ziel der Rückgewinnung eines Weltvertrauens wurde somit zu einem elementaren Anliegen der in der Renaissance entstehenden modernen Naturwissenschaften“, schreibt sie in ihrem Buch „Der entseelte Patient“. Und weiter: „Das Bedürfnis nach einer schuld- sowie angstfreien Erklärung der Naturkatastrophen führte letztlich zur Entstehung einer neuen Auffassung über die Welt, den Kosmos und den Menschen.“

Diese neue Auffassung zeigte sich nicht mehr passiv-aufnehmend, sondern aktiv-gestaltend. Das Wissenwollen ersetzte das Glaubenwollen. Aber es ging nicht allein um neues Wissen an sich. Das Interesse an einer Enträtselung der Natur war gleichzeitig die Suche nach Möglichkeiten, sie zu manipulieren, um, wie Anna Bergmann es formuliert, „letztlich eine von Gott unabhängige Sicherheit durch menschliches Handeln zu gewinnen“.

Heute gehört die Illusion, der Mensch sei immun gegen Naturgegebenheiten oder er könne diese Resistenz wenigstens irgendwann einmal erreichen, zu den kollektiven Gedankenformen der wissenschaftsorientierten westlichen Welt. Der Glaube an einen Schöpfer ist weit in den Hintergrund getreten. Ebenso die früher selbstverständliche Überzeugung, der Mensch verfüge über eine „nicht stoffliche“, immaterielle Seele – und insofern über das Potential für Unsterblichkeit.

Wir werden das von Positivismus, Materialismus und Rationalität geprägte moderne Menschenbild im nächsten Kapitel genau er untersuchen. Denn eines steht bei nüchterner Betrachtung fest: Die hier beschriebenen Entwicklungen – von der Kryonik bis zur Organtransplantation – mögen zwar von der Sehnsucht getragen werden, der Mensch könne den Tod irgendwie doch technisch austricksen. Aber letztlich ist es lediglich gelungen, die Grenzen ein wenig zu verschieben. Wir werden älter. Vielleicht auch gesünder älter. Aber die körperliche Unsterblichkeit bleibt eine Illusion. Und die zwiespältige Furcht vor dem „großen Nichts“ und zugleich vor dem unbekannten „Etwas“ beherrscht unsere Gedanken an den Tod nach wie vor.

Das „Weltvertrauen“ konnte bisher nicht zurückgewonnen werden.

Die Angst vor dem „Untoten“

Einerseits träumen wir von der Unsterblichkeit. Andererseits wollen wir mit einem möglichen Leben nach dem Tod lieber nichts zu tun haben. Ein interessanter Zwiespalt. „Jenseitige“, die uns aus dem Unsichtbaren heraus beobachten und nachts womöglich durch Decken und Mauern spuken? Diese Art Unsterblichkeit ist unerwünscht. Wer tot ist, sollte gefälligst auch tot bleiben!

Woher aber rührt die in zahlreichen Horrorfilmen cineastisch verwertete Angst, ein Toter könne „untot“ sein und auf eine unheimliche, nicht fassbare Art weiterhin existieren?

Sie hat jedenfalls eine lange Tradition und primär mit der Vorstellung zu tun, dem Körper des Menschen wohne eine Seele inne, die den Tod überdauern kann. Aus diesem Grund entwickelten sich in der Vergangenheit Riten, die dazu führen sollten, einen Menschen „ganz“ – „mit Leib und Seele“ – auszulöschen. So wurden in Kriegen bereits getötete Gegner zerstückelt (vom Abschneiden von Ohren oder Genitalien wurde auch aus Kriegen der jüngsten Geschichte berichtet).

Zur Zeit der Inquisition waren Todesstrafen üblich, durch die der Körper des Opfers gezielt mehrfach zerstört wurde. Je höher die Strafe, desto ausufernder konnte malträtiert werden. Abgeschlagene Köpfe wurden geohrfeigt, Gehängte blieben am Galgen, bis die Vögel sie fraßen, Hingerichteten wurden die Herzen (die als Sitz der Seele galten) entnommen und durchbohrt, ehe der Körper viergeteilt und beispielsweise außerhalb der Stadtgrenzen an verschiedene Orte verbracht wurde, um dort als Futter zu dienen oder in ungeweihter Erde bestattet zu werden. Auch die Genitalien und die Gedärme von Hingerichteten wurden bisweilen einer besonderen, zusätzlichen „Tötung“ unterzogen.

Der Henker hatte also einiges zu tun, um im Bedarfsfall nicht nur die „Entleibung“ des Verurteilten, sondern auch dessen „Entseelung“ herbeizuführen. Und im Volk war die Zergliederung des toten Körpers zeitweise noch mehr gefürchtet als das „Menschenschinden“, wie die Folter im 17. Jahrhundert bezeichnet wurde.

Das Konzept, jemanden durch rohe äußere Gewalt auch innerlich zu vernichten und damit jegliche „Rückkehr der Seele“ auszuschließen, hatte sogar noch im 20. Jahrhundert Bedeutung. Im berüchtigten New Yorker Gefängnis „Sing Sing“, wo besonders viele Exekutionen durchgeführt wurden, befand sich unmittelbar neben dem elektrischen Stuhl der Sektionsraum. Eine Verordnung sah vor, jeden hingerichteten Delinquenten zu sezieren, um absolut auszuschließen, dass er nochmals ins Leben zurückfindet. In England galt die Zergliederung eines hingerichteten Körpers als Strafverschärfung und wurde deshalb in besonderen Fällen angeordnet.

In einem Essay zum Thema „Der zweite Tod“ (1998) vermutet der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho, dass die Angst vor den (möglicherweise doch nicht) Toten auch zu den früher bisweilen üblichen doppelten Bestattungen führte: „Wahrscheinlich besteht darin die eigentliche Leistung aller Skelettierungs- oder Kremationspraktiken – die Verwandlung des verwesenden Körpers in ein geradezu kristallines, anorganisches Ensemble von Knochen oder Ascheresten zu beschleunigen. Endlich ist der Spuk vorbei: jene Erfahrung eines faktischen, unheimlichen Weiterlebens des Toten.“

Das Menschenbild des 21. Jahrhunderts, demzufolge unser Bewusstsein lediglich ein Produkt des neuronalen Feuers unter der Schädeldecke ist, hat sich von der Vorstellung einer nicht-körperlichen Seele weit entfernt. Die Angst vor dem unheimlichen „Untoten“ sollte daher weitgehend überwunden sein, macht sich aber im Dunkel des Kinosaals (und wer weiß, wo sonst noch) nach wie vor breit.

Könnte diese Furcht einen realen Hintergrund haben? Oder ist es wirklich mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen, dass etwas von uns – eine Seele, das Bewusstsein, der Geist, das Ich – nach dem Tod des Körpers weiterhin besteht? Und wollen wir das überhaupt so genau wissen – angesichts der Tatsache, dass die Überzeugung von einem wie auch immer gearteten „jenseitigen Leben“ wahrscheinlich unser gesamtes Denken und alle Wertigkeiten verändern würde?

Jedenfalls dürfte zumindest jeder, der sich eingehender mit der Frage der Unsterblichkeit beschäftigt, nach Denkmöglichkeiten und Wahrscheinlichkeits-Befunden Ausschau halten und sich etwas mehr Klarheit wünschen.

Rätselhafte Phänomene in Todesnähe

Denn es gibt Unklarheit. Es existieren Phänomene, die mit der Annahme, der Mensch sei nichts weiter als sein Körper, nicht befriedigend erklärt werden können. Und es gibt ebenso faszinierende wie plausible weltanschauliche Erwägungen, die nur deshalb keine breite Akzeptanz finden, weil sie etablierten Ansichten radikal entgegenstehen.

Zwei Beispiele dafür, die unser Thema „Unsterblichkeit“ unmittelbar berühren, sind die Phänomene „Nahtoderfahrung“ und „Gedächtnistransplantation“.

Wohl schon immer gab es Menschen, die als tot galten, durch glückliche Umstände aber wieder ins Leben zurückkehren konnten – und dann von seltsamen Begebenheiten berichteten: Dass sie sich von ihrem eigenen Körper gelöst und ihn – erstmals in voller Dreidimensionalität, also nicht nur wie im Spiegel oder in Videoaufnahmen – von oben gesehen hätten; dass sie machtvoll durch einen dunklen Tunnel gezogen worden wären, ehe sie in ein strahlendes, überirdisches Licht gehüllt worden seien; dass ihnen verstorbene Verwandte oder Freunde begegnet seien; und dass sie eine Grenze erlebten, an der sie sich letztlich doch zur Rückkehr entschieden hätten.

Von solchen Erlebnissen wurde lange Zeit nur hinter vorgehaltener Hand berichtet, im trauten Familien- oder Freundeskreis. Wer wollte schon als verrückt gelten? Die Allgemeinheit hätte doch nur Spott und Hohn dafür erübrigt, und die Wissenschaft interessierte sich sowieso nicht für solche „Hirngespinste“.

Einen ersten Umschwung führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die in der Schweiz geborene US-amerikanische Ärztin und Psychologin Dr. Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) herbei. Ihr Interesse richtete sich zunächst auf den bis dahin weitgehend tabuisierten Vorgang des Sterbens. Sie wollte wissen, wie Menschen den nahenden Tod erleben, wie sie sich dem Unausweichlichen stellen und es schließlich bewältigen.

In den amerikanischen Krankenhäusern, in denen sie tätig war, bot Kübler-Ross – zunächst gegen den Willen der Ärzte – unheilbar Kranken Gesprächsmöglichkeiten an. Die Patienten reagierten überwiegend wohlwollend, von 200 nahmen 198 die Gelegenheit zur Aussprache an.

Schließlich veröffentlichte Kübler-Ross das Ergebnis ihrer Interviews und beschrieb fünf Phasen des Sterbens, wobei es ihr nicht nur um die betroffenen Menschen, sondern auch um deren Angehörige ging:

1. Nicht-wahr-haben-Wollen:

Der Patient leugnet seine Situation, also die Schwere seiner Krankheit und die Aussicht, sterben zu müssen. Gleichzeitig wird er auf Grund dieser Diagnose von seinen Angehörigen (gedanklich) isoliert. Wenn diese sich nicht mit dem Thema Tod befassen wollen, neigen sie möglicherweise dazu, ihm einen raschen Tod zu wünschen. Denn damit wäre das „Problem“ vom Tisch.

2. Zorn:

Der Patient hat seine Situation eingesehen und erlebt sie als ungerecht. Sein Zorn kann sich gegen alle richten, die sein eigenes Schicksal, demnächst zu sterben, nicht teilen müssen. Er hat auch Angst, als Mensch vergessen zu werden oder ins Abseits zu geraten, und es wäre wichtig, dass die Angehörigen ihm in dieser Phase besondere Aufmerksamkeit schenken und Hoffnung vermitteln.

3. Verhandeln:

In dieser (eher flüchtigen) Phase neigt der Betroffene dazu, dem Leben – oder Gott – einen Handel anzubieten: Er gelobt Änderung in bestimmten Verhaltensweisen, will sich beispielsweise einer Glaubensgemeinschaft widmen oder seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Im Gegenzug erwartet er eine Verlängerung seines Lebens.

4. Depression:

Den ersten drei Phasen folgen oft Depression, Trauer und Sorge. Wurde nicht schon alles vergeblich versucht? Wie wird es weitergehen – mit dem Haus, den Kindern? Nun ist es wichtig, dass die Angehörigen dem Sterbenden behutsam erklären, dass für sie das gewohnte Leben weiterhin gut funktionieren wird. Sie sollen ihn von Sorgen entlasten, seiner Trauer aber auch Raum geben.

5. Akzeptanz:

Der Patient erwartet den Tod und hat mit keinen aufwühlenden Gefühlen mehr zu kämpfen. Er blickt vielleicht zurück auf sein Leben und auf sinnvolle Aufgaben, die er erfüllen konnte. Er schläft länger, braucht viel Ruhe und vermittelt bisweilen den Eindruck, schon eher „drüben“ zu sein.

In dieser Phase tun Angehörige gut daran, „stumme Begleiter“ zu sein.

Diese (hier nur sinngemäß wiedergegebenen) Beschreibungen gehen aus dem Frühwerk von Kübler-Ross hervor. Sie verdeutlichen, dass viele Menschen in der letzten Zeit ihres Lebens ähnliche Gedanken- und Gefühlsregungen äußern. Nur hatte es das gesellschaftliche Tabu lange Zeit nicht erlaubt, den Tod zu thematisieren und dadurch hilfreiche Anregungen für die Begleitung am Sterbebett zu entwickeln.

Die Gespräche mit den Patienten veränderten auch Kübler-Ross’ eigene Weltsicht grundlegend. Später bekannte sie: „Bevor ich mit Sterbenden zu arbeiten begann, glaubte ich nicht an ein Leben nach dem Tod. Jetzt glaube ich an ein Leben nach dem Tod, ohne den Schatten eines Zweifels.“

In späteren Jahren widmete sich die Psychologin vor allem den zunächst rätselhaften Todesnähe-Erfahrungen, von denen viele ihrer Patienten berichteten. Unter dem Eindruck dieser Schilderungen war Dr. Kübler-Ross bald von einem Leben nach dem Tod und sogar von der Reinkarnation überzeugt. Das brachte ihr die Kritik ein, im Lauf der Zeit unwissenschaftlicher geworden zu sein. Als Trägerin von 23 Ehrendoktortiteln, die ihr weltweit an Colleges und Universitäten verliehen wurden, dürfte sie diesen Vorwurf gut verkraftet haben.

Dr. Elisabeth Kübler-Ross gilt heute als Begründerin der Thanatologie, der Sterbeforschung. Diese konzentrierte sich zunächst auf die geschilderten psychologischen Sterbephasen und später eingehender auf die Erlebnisse und Phänomene, von denen Menschen berichteten, die bereits tot waren, aber wiederbelebt werden konnten.

Über die Jahrzehnte wurden weltweit so viele Berichte über Lichterlebnisse, Ausleibigkeitserfahrungen oder die Begegnung mit verstorbenen Verwandten publiziert, dass sie heute mit weniger Skepsis aufgenommen werden. Die Hand braucht beim Erzählen nicht mehr vorgehalten zu werden. Wenngleich es höchst unterschiedliche Interpretationen und Erklärungsansätze für diese Berichte gibt, so steht zumindest fest, dass die menschlichen „Schwellenerfahrungen“ einander bemerkenswert ähnlich sind.

Wissenschaftler glauben nicht so einfach an ein Leben nach dem Tod. Indes kommen viele Menschen, die, wie Dr. Elisabeth Kübler-Ross, selbst Sterbende begleiten, aus einem tief empfundenen Miterleben heraus zu der Überzeugung, dass der Tod das Leben nicht beendet.

Das folgende Gespräch, das ich mit der Hospizhelferin Sieglinde Fuchs aus Petersaurach führte, die seit vielen Jahren ehrenamtlich Menschen am Sterbebett begleitet, ist ein Beispiel dafür. Sie erzählt, dass Sterbende oft „Lehrmeister für das Leben nach dem Leben“ sind.

Die hohe Kunst des Sterbens

Frau Fuchs, Sie sind seit vielen Jahren Hospizhelferin, haben eine reiche Erfahrung in dieser Tätigkeit und sprechen von der „Kunst des Sterbens“. Was ist denn dabei eine Kunst – und wie kann man diese Kunst erlernen?

Fuchs:

Kunst ist verknüpft mit Können, und Können ist verknüpft mit Üben und mit dem Erkennen, was wichtig ist. Die Kunst des Sterbens ist eigentlich die Kunst des Lebens. Wenn ich ein Bild geben darf: Ich möchte diesen Übergang, den wir Tod nennen, als den Antritt einer Reise in andere Dimensionen bezeichnen. Wenn jemand, der eine Reise vor sich hat, klug ist, dann wird er sich erkundigen: Wie schaut es dort aus, wo ich hinreise? Was muss ich mitnehmen? Und was ist wertlos, was kann ich sozusagen jetzt schon hintanstellen? Was die Reise in das Jenseits anlangt, wird er herausfinden, dass er für die Ankunft drüben ganz andere Dinge braucht als die, welche gemeinhin als wichtig erachtet werden – Prestige, Besitz, Verstandesfähigkeiten, die man zeigen kann, oder ähnliches.

Wer sich auf seine Reise innerlich vorbereitet, wird merken, dass er das alles nicht braucht, auch nicht die großen Taten, von denen er meinte, dass sie ihn selbst, seine Persönlichkeit ausmachen. Er wird vielmehr bemerken, dass es drüben heißt: Wie bist du, Mensch? Welche Motivation hattest du für deine Taten? Die Maxime für den Übergang in die jenseitige Welt ist also ganz anders angelegt, und wenn mir die nötigen Qualitäten jetzt schon bewusst sind und ich sie verwirkliche, dann übe ich die Kunst des Sterbens.

Demnach geht es bei der Reisevorbereitung – um bei Ihrem Bild zu bleiben – um innere, seelisch-geistige Werte. Also wäre ein gewissenhaftes Leben, ein Mit-sich-selbst-im-Reinen-Sein die beste Vorbereitung?

Fuchs:

Vorbereiten kann man sich, indem man auf sein Menschsein achtet, auf sein Bewusstsein. Auch, indem man zum Beispiel fragt: Was macht den Kosmos aus? Was macht den Menschen aus? Worin ist der Schöpfer erkennbar? Was sind die innersten Zusammenhänge, die Gesetzmäßigkeiten in der Schöpfung? Wie wirken sie sich auf mich als Menschen aus? Wenn ich genau diese Dinge für wichtig erachte und mein Leben danach ausrichte, die Schwerpunkte richtig setze, dann lebe ich ein bewusstes Leben und habe damit auch immer den Blick ausgerichtet auf diesen Übergang, auf den ja jeder Mensch zugeht. Dieses sogenannte Ende ist etwas sehr Lichtvolles, wenn man es richtig betrachtet. Nur wenn man alle Gedanken an das Sterben wegschiebt, kann es dunkel und angstbesetzt werden.

In unserer Gesellschaft ist es aber leider immer noch üblich, den Tod zu tabuisieren und alle Gedanken an das Sterben soweit wie möglich aus dem Leben zu verbannen.

Fuchs:

Der Tod ist in der Vorstellung vieler Menschen mit einem Tabu belegt, wird immer weiter fortgeschoben und erscheint dadurch wie eine große Katastrophe. Und so glauben und fürchten sie, dass mit dem Sterben tatsächlich ihr Ende kommt. Das ist absolut schade, denn diese große Angst wäre nicht nötig. Die Sterbenden dürfen auf ein Licht zugehen. Sie erleben etwas ganz anderes als die materialistische Denkweise es uns vormacht. Und wenn ich genau diese Dinge über das Menschsein weiß, weil ich mich damit beschäftige und mich kundig mache, wie dieser Vorgang des Sterbens, dieser Wandel, der mich nach drüben führt, vor sich geht, dann bin ich natürlich schon einmal viel ruhiger. Dann überrascht mich der Tod nicht so sehr. Die wichtigen Zusammenhänge zu bedenken, die unser Leben bestimmen und die das Sterben dann erleichtern – das betrachte ich als eine Kunst.

Fast jeder Mensch ist irgendwann in seinem Leben mit dem Tod eines Angehörigen konfrontiert. Nun spielt sich das Sterben bei jedem sicher anders ab. Gibt es dennoch bestimmte Dinge bei der Begleitung eines Menschen am Sterbebett, die aus Ihrer Sicht unbedingt immer beachtet werden sollen?

Fuchs:

Es ist sehr, sehr wichtig zu wissen, wie man sich verhalten soll, um den Sterbenden nicht unnötig zu belasten. Das würde schon dadurch geschehen, dass man ihn festhalten, nicht gehen lassen will, vor allem, wenn man das auch äußert, wenn man zum Beispiel sagt: „Du kannst uns doch nicht allein lassen!“ – was oft passiert.

Solche Worte sind ganz grobe Erschwernisse. Aber auch einfach das innere Festhalten – wenn ich als Angehöriger nicht bereit bin, ihn seinen Weg gehen zu lassen – belastet den Sterbenden. Er muss ihn gehen, wann auch immer. Und es ist meine Aufgabe, ihn loszulassen.

Die absolute Stille im Sterbezimmer – keine Unruhe, keine Hektik, keine Ungeduld … auch das ist so wichtig! Der Sterbende soll seine Zeit nutzen können, denn er muss sich von allem verabschieden, was er bis jetzt um sich hatte, was ihm lieb und was ihm teuer war. Das ist ein schwerer Vorgang! Und dazu braucht er Kraft und Ruhe.

Es ist für Angehörige schwer zu verstehen, dass man seine Trauer gegenüber dem Sterbenden nicht äußern soll. Aber man kann das ja nachher machen, wenn man das Zimmer verlassen hat, aber eben nicht vor den Ohren und im Empfindungsbereich des Sterbenden. Denn der ist enorm sensibel in dieser Zeit. Er ist sozusagen wie ein rohes Ei. Psychologen, die sich mit dem Sterbeprozess sehr genau auseinandergesetzt haben, sagen, die Empfindungstiefe ist in dieser Zeit die allerhöchste im ganzen Leben.

Nun kann man sich vorstellen, wie ein Sterbender empfindet, wenn ich als Angehöriger zum Beispiel immer wieder auf die Uhr schaue. Der nun so hoch Sensible bekommt das alles mit! Oder wenn die Leute am Sterbebett sagen: „Was dauert denn das jetzt so lange? Er kriegt doch sowieso nichts mehr mit!“ Jeder Mensch muss seine inneren Prozesse vollenden. Er will vielleicht noch ein Thema zu einem guten Abschluss bringen, er möchte mit sich selbst ins Reine kommen. Mir wurde schon oft erzählt, dass im Sterbeprozess Dinge hochkommen, die längst vergessen schienen. Alles kommt äußerst lebendig wieder zu Bewusstsein, will angeschaut, will behandelt werden. Die Angehörigen sind dann mitunter sehr überrascht, wenn sie durch den Sterbenden, wenn er zwischendurch wieder bei Tagbewusstsein ist – das ist im Sterbeprozess ja nicht immer der Fall –, plötzlich mit Ereignissen konfrontiert werden, die die ganze Familie längst vergessen hatte. Sie bemerken, dass er sein Leben jetzt ganz anders anschaut, aus einer neuen Perspektive, und sie werden sehr überrascht, wenn sie zuvor der Meinung waren, dass „da jetzt eh nichts mehr ist“. Also: Ruhe und Zeit für den Sterbenden, Unterstützung durch Loslassen, Rücksichtnahme auf sein Feinempfinden – solche Dinge muss man am Sterbebett bedenken, muss man wissen.

Wie würden Sie denn einen Sterbeprozess beschreiben, sofern es sich nicht um eine außergewöhnliche Begebenheit handelt, um einen plötzlichen Unfalltod zum Beispiel?

Fuchs:

Es gibt bestimmte Phasen, sogar sehr deutlich. Die Phasen zeigen sich natürlich bei jedem Menschen ein bisschen anders, mancher durchläuft sie ganz schnell, ein anderer muss vielleicht wieder zurück und neu anfangen. Aber die erste Phase ist bei den meisten Menschen die Reaktion: Nein, jetzt nicht! Jetzt will ich nicht nach drüben gehen! Ich möchte noch das und das erleben … der Enkel wird bald heiraten, da möchte ich noch dabei sein – aber dann bin ich bereit! Also: Es ist immer zu früh.

Aber irgendwann, wenn „der Freund Körper“ das Leben nicht mehr festhalten kann, spürt das der Sterbende. Da können die Ärzte und die Angehörigen sagen, was sie wollen … „Das wird schon wieder! Du wirst gesund, und dann machen wir das und das!“ Der Betroffene spürt ganz genau, dass es für ihn irdisch nicht mehr weitergeht. Und er wird irgendwann erstmals den Gedanken haben: Wie wäre es, wenn ich jetzt wirklich nach drüben gehe? Das ist der zweite Schritt im Sterbeprozess. Und dann geht es weiter.

Von dem Sterbenden wird irgendwie die Bereitschaft verlangt, diese Ebene zu verlassen, den Schritt, den Abschied zu vollziehen. Er hat bis zu einem gewissen Grad den freien Willen zu entscheiden, wie und zum Teil auch wann er geht. Der freie Wille wird ihm nicht genommen. Wenn er aber immer Nein sagt, zieht sich das Ganze sehr quälerisch in die Länge – das muss nicht sein, denn irgendwann einmal muss jeder Mensch Ja sagen. Das ist die psychologische Seite, was die Sterbephasen anlangt.

Auf der physischen Ebene geht es darum, dass die Seele und der Körper zwei unterschiedliche Seinsqualitäten haben, die nicht verquickt, sondern nur aneinander gekoppelt sind. Deshalb lösen sich während des Sterbevorganges Seele und Körper langsam voneinander – ohne dass dabei etwas abrupt reißen muss. Wie wird die Seele festgehalten? Man kann sich ein magnetisch wirkendes Feld vorstellen, das durch das kreisende Blut erzeugt wird. Wenn das Blut schnell und stark kreist, wie es bei einem gesunden Menschen der Fall ist, dann ist die Haltekraft zwischen Körper und Seele stark und gut. Wenn aber Herzschlag und Atmung zurückgehen – im Rhythmus und in den Amplituden –, dann wird dieses Feld schwächer.

Die Seele und der Körper haben durch den Artunterschied sozusagen eine Abgrenzung zwischen sich. Sie sind einander zwar noch nah, aber die Seele kann im Sterbeprozess schon eigene Erlebnisse außerhalb des Körpers haben. Sie hat eigene fünf feine Sinne für die Ebene, in der sie später dann dauerhaft sein wird. Und mit diesen Sinnen kann sie auch schon in der Zeit, in der sich die Lockerung vollzieht, im Jenseits erleben – sehen, hören, sprechen, sich austauschen. Es ist ein bisschen so wie eine Pendelbewegung: Mal ist die Seele weiter draußen, dann ist jenseitiges Erleben möglich, danach ist sie wieder enger dem Körper verbunden und die Patienten kommen auch wieder ins Tagbewusstsein. Man kann sie dann fragen, was sie erlebt haben. Dadurch konnte ich wunderbare Dinge erfahren, an die ich sonst nicht herangekommen wäre.

Diese Lockerung zwischen Körper und Seele ist übrigens auch in der Nacht beim Schlaf möglich, und sie geschieht auch. Man nennt den Schlaf nicht umsonst den „kleinen Bruder des Todes“ – und da ist sehr viel dran! Wir üben sozusagen in jeder Nacht unseren Abschied, ohne dass wir es wissen … meistens wissen wir es jedenfalls nicht.

Sie sind von einem Weiterleben nach dem Tod überzeugt. Gibt es aus Ihrer Erfahrung in der Hospizarbeit besondere Erlebnisse, die Sie in dieser Überzeugung bestärkt oder bestätigt haben?

Fuchs:

Es ist sozusagen das Geschenk der Sterbenden an alle Begleitenden, dass sie ihnen zu dieser völligen Überzeugung verhelfen – dass es nahtlos weitergeht. Besonders klar wird das zum Beispiel, wenn die Seele aus dem Körper hinaus schwingt, wenn sich die feinen Sinne öffnen und der Sterbende dann im Jenseits Menschen trifft, mit denen er einst verbunden war. Früher schon verstorbene Verwandte stehen dann oft am Bett, besuchen den Sterbenden, laden ihn manchmal auch ein zum Mit-nach-drüben-Gehen. Das alles bekommt man in der Sterbebegleitung mit – zum Beispiel wenn jemand, der sonst ganz apathisch daliegt, fast nichts mehr spricht, plötzlich mit geschlossenen Augen im Bett hochkommt, die Hände ausstreckt und sie schüttelt, um andere zu begrüßen, Namen nennt und sich dann in hohem Sprechtempo voller Freude unterhält.

Diese strahlende Freude im Gesicht, dass da jemand da ist, mit dem der Sterbende viel lieber zusammen ist als mit den grobstofflichen Besuchern, das habe ich immer wieder erlebt, es ist so wunderbar!

Und dann, wenn diese Phase wieder vorbei ist und die Seele wieder drin ist im Körper, wenn also diese Öffnung nach drüben wieder beendet ist, dann frage ich schon manchmal nach: „Wer hat Sie denn jetzt besucht?“ Oder ich sage: „Wie schön, dass Sie Besuch hatten!“ Ja, und dann erzählen mir die Menschen, um wen es sich handelt, wer da anwesend war – und wir freuen uns! So etwas mitzuerleben, ist absolut überzeugend. Es lässt gar nicht die Möglichkeit zu, dass es anders sein könnte.

Zum Thema Leben nach dem Tod gibt es naturgemäß sehr viele traditionelle religiöse Vorstellungen, zum Beispiel das Bild von der Hölle oder von einem Fegefeuer, durch das der Mensch muss. Solche Bilder verstärken oft die Angst vor dem Sterben. Auf der anderen Seite berichten Menschen mit Nahtoderlebnissen – Sie haben es vorhin ja auch schon erwähnt – von einem wunderbaren Licht, in das sie hineingehen dürfen. Wie sieht es denn nach Ihrer Meinung, nach Ihrer persönlichen Erfahrung mit Sterbenden nach dem Tod aus? Was erleben wir? Was erwartet uns in der jenseitigen Welt?

Fuchs:

Nachdem der Geist das Eigentliche ist, das nur temporär den Körper bewohnt, würde ich sagen, dass das Leben nahtlos weitergeht, und zwar mit dem, was wir jetzt das Innenleben nennen …

… die seelische Innenwelt wird also sozusagen zur Außenwelt.

Fuchs:

Ja, genau! Und es geht darum, wie bist du, Mensch, in Deinem Inneren? Diese Frage stellt sich für jeden Sterbenden. Was ist deine Vorstellung vom Jenseits? Jeder wird das antreffen, was er an Bildern in sich trägt. Wenn er keine Vorstellung von dem Jenseits hat und glaubt, dass es nach dem Tod nichts gibt, wird er zunächst einmal dieses Schwarz, dieses Dunkel antreffen. Erst im Lauf der Zeit wird er merken: Ich sehe zwar nichts, ich höre nichts, aber ich bin doch lebendig. Und alles ist anders. Dann muss er sich davon überzeugen, dass er mit seiner Meinung, danach würde „nichts“ kommen, völlig falsche Erwartungen hatte. Dieser oft lange und bittere Erkenntnisprozess wäre nicht nötig, denn man kann das Wichtigste über das Leben nach dem Leben jetzt hier schon wissen. Jede Seele erlebt genau die Ebene, die Umwelt, die Umgebung, die Landschaft, die ihrer inneren Gleichart entspricht.

Sie wird auch mit Menschen zusammentreffen, die genau so sind wie sie selbst. Wenn jemand also gern im Jenseits mit lieben Menschen beieinander sein möchte, dann wird er auch selbst hier im Diesseits entsprechend leben müssen, um dieses Geschenk zu bekommen. Wenn jemand aber in irgendeiner Weise sehr übel ist, anderen Menschen und dem Leben gegenüber, dann wird er in der jenseitigen Welt entsprechend das Gleiche antreffen, und das kann wie eine Hölle sein. Aber bestimmte, fest gefügte Orte, wie man sie aus religiösen Vorstellungen kennt – die Hölle als Ort, wo die ganz Bösen hin müssen, oder das Fegefeuer, wo die hinkommen, die nicht ganz so schlimm waren – solche Orte existieren für mich nicht. Denn es wäre auch sehr ungerecht, wenn die Menschen in so grober Art eingeteilt würden.

Das Leben und die Gesetze in der Schöpfung sind so fein abgestimmt, dass sich alles in absoluter Gerechtigkeit von selbst regelt. Nach dem Übergang werde ich in die Ebene geleitet, die mir zukommt. Es braucht gar niemanden zu geben, der mich da hinführt, wie Platon es im Phaidon beschreibt. Ich werde in die entsprechende Ebene hingezogen – auf Grund der Anziehung der Gleichart. Und das ist gerecht. Denn ich kann durch meine Lebensführung ja bestimmen: Wie bin ich? Wie ist meine Innenwelt?

Es kann mich also nach dem Tod, wie ich schon erwähnt habe, Schlimmes erwarten, es kann tatsächlich brennen wie Feuer – zum Beispiel auf Grund der Reue, die ich wegen versäumter Gelegenheiten empfinde oder wegen übler Taten und Aussagen, weil ich zum Beispiel jemanden schlecht behandelt habe.

Das ist auch etwas, was jedem Menschen im Sterbeprozess ganz deutlich gezeigt wird: Er sieht seinen sogenannten Lebensfilm, der ihm aber nicht nur zeigt, was er gesagt oder getan hat, sondern ihn auch miterleben lässt, was seine Handlungen beim anderen bewirkt haben, wie sehr er jemanden zum Beispiel durch Nichtachtung oder durch harsches Verhalten verletzt hat. Das alles wird dem Sterbenden jetzt bewusst. Man kann sich natürlich fragen: Warum sehen wir die Dinge im aktuellen Zustand nicht? Warum weiß es aber die Seele und bringt es am Ende des irdischen Lebens an die Oberfläche?

Vielleicht wüssten wir das Wesentliche, wenn wir einfach auf die sogenannte Stimme des Gewissens hören könnten

Fuchs:

Ja. Für mich zeigt es, dass unser Seelenkörper ein wunderbarer Speicher für alles Erlebte ist, auch wenn es der Verstand nicht aufgenommen hat. Erst im Sterbeprozess kommen viele Dinge sehr quälend hoch – und dann kann Reue wirklich wie Feuer brennen!

Zusammenfassend gefragt: Müssen wir aus Ihrer Sicht Angst haben vor dem Sterben?

Fuchs:

Nein, durchaus nicht – wenn wir vorbereitet sind, so, wie auf eine schöne Reise, und wenn wir loslassen können. Denn der Körper „beherrscht“ das Sterben, darum brauchen wir uns nicht zu sorgen. Ängstigen müssen wir uns eventuell vor den Rückwirkungen, deren Ursachen wir selber in die Welt gesetzt haben. Aber wir halten unser Leben – auch das jenseitige – nun ja wirklich in der Hand, hier und jetzt, wir können es in einem aufbauenden Sinn gestalten. Mit unseren Entschlüssen prägen wir unser Verhalten und unsere Innenwelt – und damit das, was wir drüben antreffen werden. Es geht mit uns so weiter, wie wir wirklich innerlich sind.

Bemerkenswert finde ich auch, was das gemeinsame Erleben aller Menschen ist, die eine Nahtoderfahrung hatten: Sie sprechen von einem wundervollen Licht. Dieses Licht beschreiben sie als Wärme, die sie förmlich einhüllt, die sich anfühlt wie Liebe. Ich glaube, jeder Mensch kann am Ende seines Erdenlebens voll kindlichem Vertrauen auf dieses Licht zugehen!

Erlebnisse in der „Aus-Zeit“

Einer Weltsicht, wie sie bei Sieglinde Fuchs zum Ausdruck kommt, stehen heute viele Menschen kritisch gegenüber: Anrührend, gemütvoll, tröstlich – ja, sicher.

Aber das Weiterleben der Seele nach dem körperlichen Leben als echte Realität akzeptieren?

Dafür müsste man doch etwas mehr verlangen dürfen als persönliche Erlebnisschilderungen, die ja nie und nimmer objektiviert werden können.

Im zweiten Kapitel werden wir daher die Frage nach dem Wesen des Menschseins vertiefen, und dann erörtern, ob tatsächlich etwas dafür spricht, dass es ein persönlich-bewusstes Leben nach dem Leben gibt. Dabei wird Astrid Dauster aus Weilheim in Oberbayern zu Wort kommen und authentisch von einer typischen Nahtoderfahrung berichten. Solche Schilderungen von einfachen, glaubwürdigen Menschen, die weit davon entfernt sind, nur auf sich selbst aufmerksam machen zu wollen, wirken überaus beeindruckend.

Aber welchen sachlichen Wert haben sie?

Persönliche Erfahrungen können natürlich nicht nach den üblichen wissenschaftlichen „Objektivitäts-Kriterien“ beurteilt werden. Allenfalls ist es möglich, sie statistisch zu erfassen und vergleichende Studien anzustellen.

Der ausgeprägte Subjektivitätsfaktor war über mehrere Jahrzehnte auch ein Kernproblem in der Thanatologie.

Nach der Pionierarbeit von Dr. Elisabeth Kübler-Ross haben Forscher wie der US-amerikanische Psychiater und Philosoph Dr. Raymond Moody mit ihren Publikationen über das „Leben nach dem Tod“ weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Zumindest vorübergehend. Denn in den 1970er und 1980er Jahren erschien die Erkenntnis, dass offenbar alle Menschen an der Schwelle des Todes Ähnliches erleben, einigermaßen sensationell.

Es war vermutet worden, dass der kulturelle Hintergrund, das Bildungsniveau oder beispielsweise die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend für die Art der Erlebnisse sein müssten. Aber nein. Viele Details in den Nahtoderfahrungen ähneln einander über alle Länder-, Kultur-, Alters- und Geschlechtsgrenzen hinweg. Das konnten Moody & Co zweifelsfrei belegen.

Aber auch wenn Tausende oder Zehntausende Berichte von Menschen gesammelt worden waren, die den Schritt über die „Schwelle“ erlebt, aber doch nicht endgültig vollzogen hatten und von auffallend ähnlichen Ereignissen berichten konnten, so blieben die dokumentierten Begebenheiten doch bis zu einem gewissen Grad fragwürdig. Denn teilweise lagen die Ereignisse zeitlich weit zurück, und in nur wenigen Fällen war es möglich, genau zu rekonstruieren, wie „tot“ der Betroffene wirklich gewesen war, als er seine Erfahrungen gemacht hatte. Die meisten Wissenschaftler blieben deshalb skeptisch. Nahtoderfahrungen galten fortan zwar als diskussionswürdiges Phänomen, aber keineswegs als Beweise für ein Leben nach dem Tod.

Erst um die Jahrtausendwende kam wieder neuer Schwung in die Thanatologie – und zwar vor allem durch den niederländischen Kardiologen Dr. Pim van Lommel (ein Interview mit ihm finden Sie in meinem Buch „Über den Kopf hinaus“ – Was ist das Wesen unserer Gedanken, Komplett Media, 2013). Van Lommel arbeitete unter kontrollierten Bedingungen mit mehr als 200 Personen, die einen Herzstillstand durch Reanimation überlebt hatten, also nachweislich klinisch tot und ohne Hirnfunktion gewesen waren. Ihre Schilderungen über Erlebnisse während dieser „Aus-Zeit“ – es waren abermals die bekannten Tunnel-, Licht- und Ausleibigkeitserfahrungen – führten den Arzt zu der Überzeugung, dass menschliches Bewusstsein auch ohne einen Körper existieren kann.

Seither ist Pim van Lommel weltweit unterwegs, um über seine Forschungsergebnisse zu berichten.

Steht unser Menschenbild in Frage?

Nicht nur Todesnähe-Erfahrungen stellen unser gegenwärtiges Menschenbild in Frage. Auch das Phänomen der Gedächtnistransplantation nagt an der heute verbreiteten Vorstellung, wir seien eine aus Einzelteilen zusammengesetzte biologische Maschine, gesteuert durch das „Königsorgan“ Gehirn, das so nebenbei Bewusstsein produziert.

Bei diesem seit erst knapp 15 Jahren bekannten Phänomen handelt es sich um die offenbar gar nicht so seltene Erfahrung, dass ein Organempfänger typische Verhaltensweisen des Organspenders (den er freilich nie kennengelernt hat) zu zeigen beginnt.

So wurden Fälle bekannt, in denen Personen, nachdem sie ein Spenderherz erhalten hatten, ihre Sprechweise änderten, völlig neue Vorlieben – etwa für klassische Musik – entwickelten oder auch bestimmte „Ticks“ zu zeigen begannen, zum Beispiel eine besondere Angewohnheit, mit ihrer Nase zu spielen. Und immer waren es Auffälligkeiten, die zuvor der Organspender gezeigt hatte.

Wie ist so etwas möglich?

Eigentlich gar nicht, sofern man das individuelle Bewusstsein ausschließlich im Gehirn der Einzelperson verortet. Aber vielleicht ist das eben doch ein Irrtum.

Die Erklärungsansätze für das Phänomen der Gedächtnistransplantation reichen von „Bewusstseinsfeldern“, die über die DNA in die Körper einwirken, bis hin zur esoterisch anmutenden „spirituellen Besetzung“ (früher mit dem Begriff „Besessenheit“ bezeichnet). Den meisten Erklärungen ist gemein, dass sie unser bewusstes Sein nicht auf den sterblichen Körper beschränken.

Sollten wir das heutige Menschenbild einmal grundlegend in Frage stellen?

Natürlich könnte man es sich leicht machen und die genannten Phänomene sowie dazugehörige philosophische Erwägungen einfach vom Tisch fegen. Alles Einbildung. Wunschdenken. Wahnideen. Ein paar nette Begriffe und Totschlag-Argumente sind schnell gefunden, um Diskussionen zu vermeiden. Aber man würde damit einen Umstand vernachlässigen, der zwar nicht wissenschaftlich fassbar, aber dennoch wesentlich für die Wahrheitsfindung ist: die persönliche Erfahrung.

Wir werden uns der Thematik „Unsterblichkeit“ daher in den folgenden Kapiteln nicht nur wissenschaftlich und philosophisch, sondern auch lebensnah zuwenden, also mit dem Fokus auf subjektive Wahrnehmungen, Erlebnisse und Schlussfolgerungen.

Forschung und Medizin mögen weiterhin daran arbeiten, Leben zu verlängern und Leben zu erhalten. Und Science-Fiction-Fans mögen weiterhin von Wegen in die physische Ewigkeit träumen – ob sie nun über das Einfrieren führen, über die Gentechnik oder den Transfer von Bewusstsein in Maschinen.

Wir schauen jetzt einmal in eine andere Richtung.

Sind Lebewesen Sterbewesen?

Jedenfalls sind komplexe biologische Organismen sterblich und meist auch recht kurzlebig, ein paar Hydren vielleicht ausgenommen. Aber ist der Mensch nur sein Körper? Oder könnte der Geist, der von ewigem Leben und Unsterblichkeit träumt, in seinem innersten Wesen vielleicht doch nicht dem Tod unterworfen sein?

Wenn wir nur wüssten, was Geist ist! Und Seele. Und überhaupt: Bewusstsein …

Unsterblich?!

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