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Alles in Aufruhr

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Sefire - der Name war so schön wie das Mädchen, in das ich mich spontan hätte verlieben können. Zum ersten Mal stand sie jetzt aufrecht vor mir, in ihrer ganzen grazilen Größe, ihrem harmonischen Körperbau, und schaute mich aus ihrem ebenmäßigen, sanft gezeichneten Gesicht an. Die weiße, makellose Haut - nur ihre Augenränder waren von Tränen oder Überanspannung gerötet - bildete einen fast feenhaften Kontrast zu den langen, schwarzen Haaren, die - jetzt befreit vom Tschador - über die Schultern herabfielen.

Sefire - ein bedeutungsvoller Name schien mir, denn Zephir nannten die Griechen den Westwind, jenen Wind, der den Geist einer anderen Zeit, eines freieren Denkens auch in den Iran getragen hatte. Und dieser Geist hatte wohl das Mädchen Sefire umweht, die jetzt für ihre Freiheit auf alles zu verzichten bereit war. Zephir, so erklärte man mir später, sei auch die Bezeichnung für ein weiches, zartes Baumwollgewebe. Ich weiß nicht, ob ein Tschador aus Baumwolle, aus feinem Leinen oder gar Seide ist. Ich sah ihn nur zusammengeknüllt aus dem Papierkorb quellen, wo er unter gar keinen Umständen bleiben durfte. Denn wenn es mir je gelänge, Sefire aus diesem Hotel herauszuschmuggeln, dann dürften in meinem Zimmer keinerlei Spuren zurückbleiben.

Aber die weitschweifenden Gedanken über Zephir, den Westwind, über Zephir, der eigentlich ein Mann und Verführer gewesen sein soll, und Zephir, den Stoff, aus dem die Schleier sein könnten, das muss ich ehrlich zugeben, habe ich erst viel später aus meinem Gehirnkastl und Google kramen können. Jetzt, hier und heute, in dieser Viertelstundenpause, mit der Polizei und dem wütenden Scheich an der Rezeption und der zu allem entschlossenen Frau vor mir musste ich mich arg zusammen reißen, damit nicht die Panik mir noch den letzten Rest an Vernunft aus meinem Kopf pustete.

Ohne Hilfe von draußen, das war mir klar, kämen wir hier nicht heraus. Wenn es nicht schon geschehen wäre, würde es jedenfalls nicht mehr lange dauern, bis alle Ausgänge des Hotels bewacht und strengen Kontrollen unterworfen würden, einschließlich der Tiefgarage. Und wo hätte ich schließlich Sefire unterbringen sollen? Wo wäre eine Anlaufstation? Die romantische und romanhafte Phantasie, man könne sich solch ein exotisches Findelkind wie eine Puppe mit nach Hause nehmen, war zwar überaus verheißungsvoll und ließ von glutvollen Nächten, heißen Umarmungen mit Scheherazade Sefire träumen, aber hier waren die Realitäten derart zum Greifen nahe, dass ich mich gar nicht erst in eine solche Illusion flüchtete. Nein, es gab ein paar ganz handfeste Probleme zu lösen:

Wie konnte ich bis morgen mittag, spätestens 12 Uhr, dieses Mädchen aus einem bis dahin sicher noch intensiver bewachten Hotel hinausschmuggeln? Wohin könnte ich sie dann bringen? Und welche Schritte waren dann zu unternehmen, damit sie irgendwie, irgendwo eine legale Aufenthaltsgenehmigung erhielte? Und schließlich - wie könnte sie sich vor den doch sehr wahrscheinlichen Nachstellungen ihrer Familie oder sogar politischer Instanzen in Sicherheit bringen? Wenn es mir nicht doch noch gelänge, sie zur Aufgabe ihrer Pläne zu bewegen?

Und ob es großen Eindruck auf einen dieser Hotelwächter gemacht hätte, ihn auf die wahrscheinliche Volljährigkeit dieser Studentin hinzuweisen? Auf eine Volljährigkeit, die ihr bei deutscher Staatsangehörigkeit jeden Weg in die Freiheit, ja sogar aus der Unfreiheit eines Gurus geöffnet hätte? Aber als Iranerin, als Tochter eines gewichtigen Mannes, wo möglich sogar mit diplomatenähnlichem Status, hätte man wohl jegliche Einmischung vermieden. Und ich wäre wegen einer Entführung, und wahrscheinlich sogar aus vermuteten unsittlichen Motiven zunächst mal hinter Gitter gekommen. Und wenn man mich nicht als Mädchenräuber entlarven könnte, würde man mir immer noch böswillige, politische Beweggründe unterschieben.

Also galt es, in aller Schnelle und mit der gebotenen Vorsicht - würden nicht möglicherweise die Telefone abgehört? - einen in jeder Beziehung vertrauenswürdigen Helfer zu gewinnen. Ich erinnerte mich an Irena, eine ehemals heiße Freundin. Mein Gott, ja, es war einiges zwischen uns gelaufen, wahrscheinlich mit großen Erwartungen auf ihrer Seite, mit größeren jedenfalls als bei mir, und so war es zum Knatsch gekommen. Für mich nicht mal eine der sogenannten Beziehungskisten. Für mich war es - unfair? - ein schönes Erlebnis, eine kurze, wilde Zeit. Und wir machten die ganze Landschaft südlich von München zu unserem Lotterbett, nicht nur die Pupplinger Au, in der alles seinen Anfang genommen hatte. Jetzt Irena anrufen? Würde sie sich rächen wollen? Ich beschloss, das doch noch einmal sorgfältig zu durchdenken, um jetzt nicht einen verhängnisvollen Flüchtigkeitsfehler zu begehen.

Also beruhigte ich zunächst noch einmal Sefire. Unterwies sie in der Bedienung des Sperrhebels unter der Türklinke. Bat sie abermals um Geduld. Zeigte ihr meine Kosmetiktasche und bedeutete ihr, dass sie nehmen sollte, was sie bräuchte. Dann schlich ich mich wieder aus dem Zimmer. Die Pappdame mit dem steilen Zeigefinger baumelte wieder am Knauf. Peinlicherweise war nun jede Menge Personal unterwegs. Alles summte irgendwie wie ein Bienenstock. Als ich unten an der Rezeption vorbeiging, erschien mir der Vergleich mit einem aufgestörten Ameisenhaufen treffender.

Wieder tarnte ich mich mit einem "Na, hat man das arme Mädchen schon gefunden?" Und setzte kess hinzu: "Vielleicht ist sie nur in der Sauna?" "Das wär' eine Idee!" meinte irgend so ein bayerisches Mannsbild. "Aber da trau’n sich halt die Moslems nicht rein! Dann müss'ns halt zur Strafe dreimal nach Mekka wallfahrten!" - "Und überhaupt, ich versteh' die ganze Aufregung nicht", meinte da ein anderer, "die ist doch wahrscheinlich nur mal nach Schwabing bummeln gegangen. Da braucht doch der Herr Chomeini hier nicht ein solches Theater abzuziehen. Sollen sich doch schleichen, die Nachthemden!"

Ja, auch in einem Grandhotel hört man heute Volkes Stimme. Im Salon "Heidelberg" wusste man sogar schon mehr. Sie soll nämlich ihr ganzes Gepäck mitgenommen haben und ein paar Tausend Dollar! Weltmännisch ging ich über diesen ganzen Smalltalk hinweg. Es gelang mir sogar, meine alte Konzentration wiederzugewinnen. Niemand hätte mir anmerken können, dass die schöne Sefire zur gleichen Zeit in meinem Zimmer die ersten Stunden einer neuen Freiheit auszukosten begann.

So konnte ich den Auftrag gerade noch retten. Konnte Zweifel zerstreuen, Missverständnisse klären und schwache Stellen in meiner Argumentation, die mir erst jetzt wieder so richtig bewusst wurden, überbrücken. Vielleicht hatte sich das Blättchen inzwischen auch gewendet: Während am Frühnachmittag mir der glutäugige Flüchtling nicht aus dem Kopf ging, badeten sich vielleicht jetzt die Phantasien der Marketingherren in der Vorstellung, was wäre wenn! Mit Hinweis auf die gerade mühsam wiedererweckte Kondition und die Gefahr eines Rückfalls gelang es mir sogar, die nachtschwärmerischen Verpflichtungen abzuwimmeln und die Herren sich selbst zu überlassen.

Misstrauisch beäugt verließ ich kurz darauf das Hotel. Der Auflauf an der Rezeption hatte sich verstreut. Aber wohin man auch blickte, standen ganze Pulks von persischen Männern. Eigenartigerweise waren die verschleierten Matronen und die Kinder verschwunden, die sich - mit lebendigen Augen und sehr selbstbewussten Blicken - die Hotelhalle zum Spielplatz erkoren hatten. Vor dem Hotel keine Polizei. Der blinkende Streifenwagen war abgezogen worden. Sollte man lieber schnell handeln? Das Risiko eingehen, dass Sefire auf dem Wege zum Fahrstuhl, im Lift und auf dem Weg durch die Tiefgarage zu meinem Auto erkannt würde, aber dann, wenn es gut gegangen wäre, zunächst einmal einen Vorsprung gewinnen? Ein Blick zur Ausfahrt belehrte mich jedoch eines besseren. Dort hatten gleich zwei Polizeiwagen Stellung bezogen. Also vermutete man hier auch den naheliegendsten Fluchtweg.

Von der Zelle rief ich Irena an. Ihre Stimme klang ganz und gar nicht begeistert.

"Na, hat der Kavalier Langeweile? Ist dir heute noch nichts Resches begegnet?"

Es dauerte eine Weile, bis ich sie auf die andere Schiene gebracht hatte.

"Du, ob du's jetzt glaubst oder nicht, ich bin da in eine heiße Sache reingezogen worden. Und wirklich, ich kann da überhaupt nichts dazu. Ich weiß selbst nicht, weshalb diese Frau sich nun ausgerechnet auf mich gestürzt hat und bei mir Asyl erbat!"

"Na, das muss dir doch aber ungeheuer gut getan haben. Du, ja auch nicht mehr der Jüngste, und ausgerechnet du als der Retter! Mein Gott, da kann man dir ja nur neidvoll gratulieren! Ist sie denn hübsch? Hat sie einen tollen Busen? Da schaust du doch als erstes drauf. Also, worum geht's?"

"Irena, hör' mal ganz genau zu. Ich gestehe dir ja zu, dass du mich mit deinem Spott übergießt. Und schon aus Zeitmangel bin ich bereit, dir in allem Recht zu geben. Nur jetzt geht es um ein ganz und gar überlegtes und verantwortungsvolles Handeln. Könntest du nicht hierherkommen und ihr in aller Ruhe, von Frau zu Frau, die Fluchtidee ausreden? Und wenn das nicht geht, fällt dir vielleicht ein Weg ein, wie wir das Mädchen hier herausschleusen können? Die Tiefgarage ist bewacht. Wahrscheinlich stehen auch im gesamten Haus Detektive und Mitglieder des ganzen Familienclans herum und beobachten jede Tapetenritze."

"Du, ich hab' heute abend noch was anderes vor, als da so ein durchgedrehtes Weib zu bekehren! Ich find' das mit dem Tschador ja auch Scheiße und weiß ja, dass es da für die Frauen wieder ganz gewaltig rückwärts geht. Mittelalter und so! Aber hast du nicht noch ?ne andere Freundin in deinem unermesslichen Harem, die dir zu Diensten steht? Oder gibt's nicht bei der Kirche irgend so ein Ressort, Ausland, oder so, die sich da viel besser auskennen?"

"Du hast es ja nie glauben wollen, dass du in München meine Einzige bist ...."

Der Rest meines Satzes ging in schepperndem Gelächter unter. Solche Sätze klingen ja auch blöd, ob sie nun ehrlich sind oder nicht.

"Zählt Schwabing noch zu München? Und war da nicht so ne Evelyne aus Waldtrudering? Mir kommen ja die Tränen vor soviel Treue!"

"Mensch, Irena, mir ist jetzt nicht zum Spaßen zumute. Und selbst wenn du dich an weit mehr Namen erinnern solltest, als mir je bekannt waren, bedeutet es dir denn nichts, dass ich nun gerade dich anrufe? Das ist doch nun wirklich keine Situation, die man mit Jedermann bewältigen könnte. Wenn ihr Frauen mal zusammenhalten müsstet, dann ist es aus mit der Solidarität. In politischen Diskussionen groß reden, aber dann, wenn es mal ernst wird, wenn ein konkreter Mensch in Not ist, und das gleich nebenan, dann geht Kino vor! Irena, bitte, bitte!"

"Und was, um des Himmels willen, soll ich denn tun?"

"Komm hierher ins Hotel. Möglichst bald. Bring am besten eine große Tasche mit ...."

".... den Buko?"

".... was ist das denn?"

"Du bist wohl wirklich ein Mönch geworden. Beischlaf-Utensilien-Koffer - Buko! Nie gehört?"

"Ich habe gedacht, du packst da ein paar Sachen rein, als wolltest du in die Sauna gehen. Und da drunter - getarnt sozusagen - ein paar Sachen zum Anziehen. Moment mal, Größe, na vielleicht einen Kopf kleiner als ich. Also wahrscheinlich so etwa deine Größe ..."

"Ich war nie einen Kopf kleiner als du. Nie und in keiner Beziehung. Na ja, lassen wir das! Mantel auch? Und Schuhe? Einen Hut oder eine Mütze?"

Endlich spielte sie voll mit. Jetzt war sie sozusagen "angesprungen". Und dann, wusste ich, konnte man sich ganz auf sie verlassen.

"Du bist ja doch ein prima Mädchen!"

"Okay, in cirka einer Dreiviertelstunde bin ich da! Ich frage an der Rezeption nach dir. Das ist vielleicht ganz gut, um dich aus dem Kreis von Verdächtigen zu streichen."

Eilends lief ich nach Schwabing hinein. In der erstbesten Pizzeria ließ ich mir zwei kräftige Quattre Stagione in Warmhaltefolie einsiegeln und spurtete wie ein rekordsüchtiger Jogger zurück in den Glanzpalast.

Angesichts meiner Don-Vittorio-Plastiktüte fiel das Spießrutenlaufen durch die stechenden Blicke der Koran-Wächter, die sich jetzt unauffällig über die ganze Lobby verstreut hatten, ohne sonderliches Misstrauen aus.

Wegen des Türriegels musste ich eine ganze Weile klopfen, ehe Sefire es wagte, mir Einlass zu gewähren. Wir hatten vergessen, ein Signal zu vereinbaren. So presste sie sich wie in einem Krimi eng zwischen Wand und Türblatt. Wie musste die Angst in ihr emporsteigen, wenn sie doch hinter jeder Person, die sich hier Einlass verschaffen wollte, äußerste Gefahr wittern musste.

Dann, als sie sicher war, dass nur ich es war, der, den sie aus irgendwelchen Gründen zu ihrem Fluchthelfer erkoren hatte, kam sie zum ersten Mal aus ihrer Distanz heraus, ging auf mich zu und reichte mir zögerlich ihre rechte Hand. In dieser Geste lag soviel Vertrauen, soviel Freundschaft, dass ich gar nicht anders konnte, als nun auch ihre Linke zu ergreifen und beide Hände fest zu schütteln, so als ob ich damit sagen wollte: Wir schaffen das schon! Beinahe hätte ich sie auch in meine Arme geschlossen, ja, hätte ihr beinahe auch ganz spontan einen Kuss auf die Stirn gegeben - da konnte ich mich gerade noch beherrschen. Wusste ich denn, was das in ihrem Land bedeutet?

Ich berichtete - bei eingeschaltetem Fernsehen, um unsere Unterhaltung zu übertönen - von meinen Wahrnehmungen im Hotel. Von dem Aufsehen, das ihr Weggehen bereits ausgelöst hatte. Und von Irena, die bald hier sein musste. Und wir verspeisten unsere Pizzen, vom Pappteller und mit weißem Plastikbesteck.

In diesem Augenblick kam ich mir vor, als säße ich mit Sefire in einer Arche, in einem Rettungsfloß, beim Verspeisen unseres Notvorrats, und in der völligen Ungewissheit, an welches Ufer das Schicksal uns treiben würde.

Jetzt hatte ich auch einen Blick für ihre Kleidung. Ein schlichtes dunkelblaues Kleid, fast wie eine Schuluniform. Mit einem großen weißen Hemdkragen und einer Andeutung von Dekolletè, das von einer zierlichen Goldkette mit einem Rubinanhänger geschmückt war.

Noch einmal versuchte ich, sie von den Schwierigkeiten ihres Vorhabens zu überzeugen. Ich fragte nach ihrem Pass, den sie verständlicherweise nicht hatte mitnehmen können. Somit fehlte ihr jegliches Papier, das ihre Identität hätte ausweisen können.

"Aber ich habe etwas Geld! Dollar und Deutschmark!" sagte sie, mit einem Ton, der wie eine Entschuldigung klang, aber letztlich doch nur verriet, dass sie glaubte, hierzulande mit Bestechungen ebenso alle Türen öffnen zu können wie in ihrer Heimat. Geld, das versuchte ich ihr - wahrscheinlich vergeblich - klarzumachen, könnte alles nur noch erschweren, denn man könnte sie des Diebstahls bezichtigen.

"Ich kann nach Paris gehen. Habe dort Freunde. Auch aus dem Iran. Studenten. Sie können mir ganz bestimmt helfen. Und dann sehen wir weiter."

Sefire

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