Читать книгу 15 Märchen für Erwachsene - Werner Siegert - Страница 7

Sie ließ mir keine Melodie

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Es gibt Tage, da ist der Regen kälter und durchdringender für mich als für alle anderen. Die Häuserfronten, an denen ich entlang flüchte, sind grauer, abgeblätterter, hässlicher als sonst. Die Autos sind lauter, rücksichtsloser - und sie spritzen ihren Gischt mehr gegen mich als gegen andere. Das Telefon läutet schriller, und alle Nachrichten, die es mir zu schreit, sind schlimmer für mich als an allen anderen Tagen.

Ich fliehe diese Tage, die mich töten wollen wie ein Schwarzer Vogel, der die Beute schlägt. Sie sind so tückisch, weil sie lautlos daherschweben, ohne Warnung, ohne ein Sausen in der Luft, ohne ein Omen, das mir signalisieren könnte: Dies ist kein Tag für dich.

An solchen Tagen wird mein Leben kürzer, ohne dass ich es erleben darf. Depressionen schleichen sich heran. Sie springen mir aus dem Spiegel entgegen, in den ich morgens schlaftrunken blicke und Bestätigung dafür suche, dass es mich noch gibt. Wenn die Züge dessen, der mich aus dem beschlagenen Silberglas verschreckt, ohne Freude sind, wenn die Brauen schwer über müden Augen liegen, weil schon die Nacht nicht Ruhe spenden mochte, dann haftet sich die Fratze an mich und lässt mich straucheln fast bei jedem Schritt.

Natürlich weiß ich längst, dass all dies Unsinn ist. Mein Kopf weiß es. Die andere Instanz. Ich weiß, der Arzt könnte mit einem unleserlichen Federstrich Mittel verordnen, die den Grauschleier wegschwemmen und meinem Grimm keine Chance mehr lassen. Weil die Chemikalien es so wollen, muss ich dann heiter werden. Oder wenigstens normal - so wie die anderen Leute einfach nur nass werden, wie jeder halt, der durch Regen läuft. Wie andere das Donnern eines leeren Camions nur grässlich laut empfinden, aber nicht als tödlich für eine hochsensible, fragile Seele. Ich kann auch wohlfeilen Rezepten folgen. Mir autogenes Training verordnen, meine Nerven überlisten und kommandieren, sie mögen meine Hände warm durchfließen, da sie frieren.

Ich kann es nicht, weil ich nicht will. Irgendetwas treibt mich, die schwarze Tiefe bis zum letzten Tropfen auszukosten. Ich bin auf Nebel, Tiefdruck, Kafka, Krähen, Kopfschmerz, auf Katastrophen und auf Tod vorprogrammiert.

Es war an einem solchen Untag.

Er hatte tückischerweise ganz anders begonnen. Er hatte sich herausgeputzt wie ein Agfa-Color-Werbespot. Die verschneiten Berge leuchteten, sie prahlten ultraviolett vor azurblauem Himmel. Vor dieser Kulisse eilten die Menschen geschäftig dahin, um nur jede Minute an sich zu reißen und auf ihrem Glückskonto zu verbuchen. Wussten sie denn schon, dass hinter diesen Felsmauern schon jenes Unwetter zusammengebraut wurde, das uns alle in Flüchtlinge verwandeln würde?

Wenigstens ich hätte es genauer wissen müssen. War nicht mit dem ersten, noch schlafverwobenen Anspielen meines Nachttischradios meine private Schicksalssinfonie erklungen? Wie Laras Song die Wehmut des Doktor Schiwago, seine Sehnsucht und Einsamkeit in der schneeverwehten russischen Steppe zu malen versucht, so waren diese Klänge an die Jahre mit Beatrice vergeben. Sie waren Beatrice - und Beatrice war nicht mehr. Sie lebte, aber nicht für mich.

Geblieben war die Erinnerung an sonnendurchflutete Weidenzweige über dem Spiegel eines Weihers und eine Melodie. Oft habe ich bei dieser Weise einen Vorhang in mir aufgezogen und im Traum jene schönen, übermütigen, zärtlichen Tage inszeniert. Erfüllt vom Glück vergangener Jahre habe ich das Liebeslied mit in den Tag genommen und gesummt. Nur heute benetzte es mich mit Trauer. Tränen drangen in die Augen. Die Noten setzte ich in Moll. Wortfetzen aus Sonetten, aus Rilkes "Abschied" gesellten sich hinzu. Worte, Zeilen, tief hängend nun wie Trauerweiden. Nicht waren es nun die gelben, saftigen Zweige mehr, das frische Grün, das Frühling heißt. Jetzt trieben welke Blätter, kleinen leckgeschlagenen Schiffchen gleich, auf brackigem Wasser hin und her.

Ich hätte wissen müssen, dass dies kein Tag mehr werden konnte.

Nicht, dass ich ihn dennoch zu suchen begann. Ich wollte mich nicht beugen. Ich begann, ihn an Plätzen zu suchen, die ungewöhnlich für mich sind. Glaubte ich vielleicht, der große Schwarze Vogel würde mich dort nicht aufspüren? Mir dorthin nicht folgen?

Ich weiß nicht, ob es diese Hoffnung oder einfach Zufall war, dass ich, dem Orgelspiel in einer kleinen Kirche folgend, Zuflucht hinter ihren Mauern suchte. Hinten, unter dem Empore, auf narbigen Bänken, zerschnitzt von jugendlicher Langeweile in Bibelstunden vieler Jahrzehnte. Zuflucht im Halbdunkel. Ein Platz für Penner und Flüchtige wie mich.

Leise richtete ich mich ein, um den Organisten nicht auf mich aufmerksam zu machen. Ich hatte Angst, er käme als des Schwarzen Vogels Racheengel, um mich aus meinem Paradies zu vertreiben.

Allmählich löste sich mein Krampf und ich begann zu lauschen. War es Händel? Einer seiner Zeitgenossen? Wer mochte hier zu dieser Stunde aufspielen? Ein Virtuose gar? Auf wessen Lockruf hatte er den Weg in diesen kleinen Ort gesucht, wo es kein Konzertleben, noch feierliche Levitenämter zu zelebrieren gab? War's ein Phantom? War nur mir sein Spiel gewidmet, mir, in meiner Zerrissenheit? Oder stand er nur im Bunde mit dem Beutevogel, um mich tiefer zu rütteln und zu erschüttern?

Eine Mischung von bleierner Müdigkeit und innigem Genuss lähmte meine selbstquälerischen Fragen. Die Zeit versank. Als plötzlich Knarren meinen Herzschlag jäh nach oben peitschte. Die Tür schlug zu, vom Wind erfasst. Mit Fluchtgebärde drückte sich ein Mensch vorbei an Schriftenstand und Opferstock. Er taumelte in meine Richtung und fiel - wie von Erschöpfung übermannt - in meine Bank. Eine Frau. Eine junge Frau? Hatte sie mich wahrgenommen? Da ich doch nur wenige Handbreit neben ihr kauerte. War sie geblendet von der Tagwelt draußen, dass sie mich nicht sehen konnte? Hatte sie mich einfach ausgeblendet? Ignoriert? Würde ich sie zu Tode erschrecken?

Leise und mit äußerster Behutsamkeit stellte sie zwei Taschen ab. Sie legte ihren nassen Schirm auf die alten Schieferfliesen und begann, sich ihre Brille mit dem Schal trockenzureiben. Draußen schien ein Schneegestöber dem gleißenden Tag ein Ende bereitet zu haben.

Ich trachtete danach, mich irgendwie bemerkbar zu machen. Aber mein dünnes Räuspern hatte gegen die kraftvolle Passacaglia in C-Moll keine Chance. Auch nicht das Übereinanderschlagen der Beine. Sollte ich meine Handschuhe fallen lassen?

Jetzt aber wandte sie sich um zu mir. Und blickte mir zu meiner Überraschung ruhig und voll in die Augen. Länger als einen absichtslosen Augenblick. Ihr Mund war halbgeöffnet. Kein Wort. Sie wirkte selbstbewusst. So sicher. Als ob sie "Ja" zu jeder Sekunde sagen konnte, die ihr das Leben schenkte. Ihre nassen, strähnigen Haare strich sie mit langgliedrigen Fingern ganz langsam und zärtlich zurück, als könne sie mit hastigeren Bewegungen die Musik stören.

Aber ein Lächeln wollte sich aus ihren Lippen nicht formen. Das weiß ich noch heute genau. Wie bei einer Multimomentaufnahme bannte ich jede kleine Regung, das Zittern ihrer Nasenflügel, die Hektik der Augenlidschläge, das Tasten ihrer Finger, den Faltenwurf ihres schwarzen Wollrockes, die Winkelstellung ihrer Füße auf einen Film in meinem Gehirn. Ja, selbst ihrem Schweigen lauschte ich.

Für einen kurzen Moment flammte in mir Furcht und unbändige Eifersucht auf, meine neue, innig Geliebte könne die Frau des Organisten sein oder seine Freundin. Auch wäre sie nur seine stumme Verehrerin, so peinigte mich dieser Verdacht aufs Ärgste, ja, weckte sofort wieder jenes Inferno in mir, diese quälende Eröffnung sei nur wieder Teil jener intriganten Verfolgung meiner selbst. In tiefe Liebe stürzen, um mir das Objekt erbarmungslos und mit kalter Selbstverständlichkeit wieder zu entreißen. Das musste es sein. Und diese Perfidie verstopfte meine Ohren, mein Sinne. Verdarb für allzu viele Sekundenbruchteile alle Poesie, vergällte mir das Zauberhafte.

Ich musste diese Panik überwinden. Musste mir Klarheit verschaffen. Ich musste wissen, wie es um sie stand. Denn sie war mein geworden. Sie war schon jetzt Bestandteil von mir selbst. Sie war mein neues Leben. Ich liebte sie. Nicht Bach, nicht Pachelbel oder Albinoni, nein, es war die Namenlose jetzt, mit dem schwarzen, in vielen kleinen Knoten geflochtenen Kopftuch, mit den dunkelgrünen Strümpfen und hoch geknüpften Stiefeletten.

Der Organist hatte sein Spiel unterbrochen. Der Schall verlor sich viel zu schnell in diesen kurzen Kirchenschiffen. Er stimmte jetzt einzelne Töne an. Man hörte, wie er verschiedene Register zog und ihren Klang testete.

Da drehte sie sich zu mir hin. Und - fassungsloses Glück oder wieviel mehr war es! - sie legte ihre Hand auf meine, mit der ich, ohne es gewahr zu werden, die Bank umklammert hielt, das zerschnitzte Brett, viel zu schmal für bürgerliche Gesangbücher. Ja, sie legte ihre Hand auf meine! Mit ihren Lippen deutete sie mir an zu schweigen. Dabei war alles in mir aufgewühlt. Mein Kreislauf pochte. So war ich aufs Äußerste gespannt und doch so ohne jede Möglichkeit, mich von meinem inneren Sehnsuchtsschrei zu befreien.

Fast scheue ich mich, darüber zu schreiben, weil ich damit diesen schönsten Augenblick in meinem Leben durch unfähige Prosa, durch klobiges Wortwerk zerstümpere - dass sie, die Unbekannte, auch ihre zweite Hand auf meine legte, dann ihren Kopf darauf bettete, so dass die kalten Tropfen aus dem Haar, die geschmolzenen Schneeflocken, herunter rannen. Doch ich merkte bald, dass sich warme Tropfen darunter mischten. Ihr Körper zuckte mehrfach kurz, bäumte sich in unterdrücktem Schluchzen auf.

War es eine halbe Stunde, waren es zehn Minuten oder eine Stunde, die wir so ausharrten? Ich strich ihr langsam, zärtlich über ihre Schultern. Gab ihr ein Taschentuch, bis sie - ängstlich - wieder wagte aufzublicken. Ich nahm sie fest in meinen Arm.

Wir lebten dann zwei Tage wie in einem Rausch. Man kann das nicht erzählen. Wir brauchten Worte nicht, weil sie, so schien es, dasselbe Schicksal mit mir teilte. Zwei Tage liefen wir wie übermütige Kinder durch den Schnee, stapften mitten hinein in die tiefen Verwehungen und kugelten uns im frischen Weiß. Wir kletterten auf Aussichtstürme, liefen nachts durch Parks und Wälder. Wir berauschten uns an Musik. Dabei lag sie, eingerollt vor einer Tasse Tee, auf dem Teppich. Sie rauchte viel. Zu viel. Und ich war eifersüchtig auf die Zigaretten, denn die Sprache ihrer hastigen Lungenzüge raubte die Zeit der Lippen und Gebärden. Sie weinte viel. Ihr Körper war zerbrechlich. Wie zierliches, weißes Porzellan. Keine Farbe belebte ihr Gesicht.

Und dann verschwand sie. Auf einmal war sie nicht mehr da. Vergebens wartete ich auf ihre Wiederkehr. Vergebens kaufte ich "ihre" Zigaretten. Hielt stets ein Kännchen Tee für sie bereit. Vergebens lief ich mehrfach in die kleine Kirche. Versuchte es am selben Wochentag zur selben Stunde. Kein Organist. Kein Schatten nur von der Geliebten. Ich fragte auch den Küster. Der Bruder des Pastors war es, der manchmal aus der Stadt hierher kam, um ganz für sich, ohne Zuhörer, Orgel zu spielen. Nirgends aber eine Spur von ihr.

Bis eines Tages, als der Regen wieder kälter, kriechender war und der Schwarze Vogel wieder seine Krallen zeigte, als ich von einer Hölle in die andere taumelte und um Jahre alterte, ein Brief in meinem Kasten steckte. Zu spät, um Hilfe herbei schreien zu können. Und zudem ohne Absender.

An schönen Tagen aber, wenn die Sonne auch in meine Seele scheint, erwacht in mir die wahnwitzige Hoffnung, sie hätte vielleicht die Tabletten doch nicht genommen. Oder wäre rechtzeitig gefunden worden. Dann gehe ich in die alte Dorfkirche und warte stundenlang. Ich versuche, die Musik von damals in mir wachzurufen. Doch es bleibt stumm. Sie ließ mir keine Melodie.☺

15 Märchen für Erwachsene

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