Читать книгу Der Tod ist keine Frau - Werner Siegert - Страница 3
Eine flüchtige Begegnung
ОглавлениеWollte ich mich heute noch daran erinnern, wie hoch die alte Burg über dem Dorf lag, könnte ich es mir nicht genauer ins Gedächtnis zurückrufen als durch diese Beschreibung: Man konnte von oben erkennen, dass ein Mädchen unten zwischen den Häusern und Ställen hindurch lief und herauf winkte. Und dass es eine weiße Bluse anhatte. Denn dieses Bild hat sich mir tief eingeprägt.
Ein Mädchen - oder erkannte ich eine junge Frau? - kam hinter den Häusern hervor, lief einige schnelle Schritte an der alten Scheune vom Jennerbauer entlang, blickte nach oben zu mir. Ich stand ganz zufällig, um meinen Augen einen Moment der Erholung zu gönnen, am offenen Fenster. Sie winkte und nahm dann mit hastigen Sprüngen den Abkürzungspfad über den Wiesenhang.
Ich erwartete keinen Besuch. Ich erwartete keine junge Dame. Ich erwartete in dieser von Hinfälligkeit zernagten Klause überhaupt niemanden - es sei denn .... mich selbst. Und dennoch zweifelte ich nicht eine Sekunde, dass das Winken mir gegolten hatte und dieses Mädchen bald vor mir stehen würde, ein wenig keuchend - denn der Hang war steil - mit lachsroten Wangen und aufgelöstem Haar. Irgendein Zauber, eine magische Wolke (wenn es so etwas geben sollte), ein Zukunftshologramm ließ mich mit absoluter Transparenz im Voraus erkennen, was sich - vor einer Sekunde noch jeglicher Phantasie entrückt - hier gleich abspielen würde. Ich wusste, dass wir uns in die Arme schließen und ein langer, vieles erzählender Kuss eine ebenso köstliche wie geheimnisvolle Schlinge um uns ziehen würde. Ja, ich war dessen so sicher, dass ich hastig begann, dies und jenes zu ordnen, nicht um irgendetwas zu verbergen, sondern um dieser Frau ein schöneres Willkommen zu bieten.
Wenn ich von einer Burg geschrieben habe, dann mag das zu Missverständnissen Anlass geben. Hier oben wohnten damals die Ausgeflippten, die Unsteten, die Gescheiterten, die Flüchtlinge der Gesellschaft. Hier oben wohnten eigentlich die, die unten waren.
Unten im Dorf war das geregelte Leben. Waren die geordneten Vermögensverhältnisse, war das Eigentum ordentlich vermessen und im Kataster eingezeichnet. Da gab es noch Alteingesessene, Menschen, deren Haut von der Arbeit auf dem Felde gegerbt und deren Rücken vom Pflanzen, Jäten, Ernten und Tragen gekrümmt wurde. Meist waren sie nicht über die nähere Umgebung hinausgekommen. Vielleicht hatte irgendein spendabler Firmpate sie mal zu einer Reise nach Salzburg oder gar München eingeladen. Aber dort war ganz sicher für viele von ihnen die Welt zuende, und das genügte ihnen auch. Natürlich knatterten gelegentlich schon Mopeds über das Kopfsteinpflaster. Auch schwere Maschinen heulten auf, wenn die Jüngeren von der Arbeit in den umliegenden Gewerbestädtchen zurückkehrten oder - später dann - zu Disco, Kino und Imponierkorso wieder abbrausten. Alles ging tagaus, tagein seinen Lauf.
Die Burg- oder Schlossherren lebten schon längst nicht mehr. Kein Adliger trug - soweit mir bekannt war - heute noch den Namen dieses vergammelten Anwesens, das einst Herrschaftssitz, Zollstätte und Raubritterburg, später Jagdschloss und Refugium wilder oder auch verträumter Grafen war. Das Geschlecht verarmte. Mit der Ökonomie hat es offensichtlich ebenso gehapert wie mit der politischen Klugheit und der Heiratsstrategie. Irgendwann hat es sich dann endgültig auf die falsche Seite geschlagen. Ein besonders Widerspenstiger wurde eingekerkert und enthauptet, jedenfalls erzählte man sich das. Der Besitz wurde zerschlagen, verschleudert und geplündert. Später suchten wechselnde Herrschaften die restlichen Baulichkeiten zu nutzen. So dienten sie als hoheitliche Verwaltungsräume, als Hofhaltung des Gauleiters in der Nazizeit, als Fliegerleitstelle im Krieg, als Garnisonsgefechtsstelle, als Unterstellräume für Kunstgegenstände, als Flüchtlingslager, als Kommandantur der einrückenden Amerikaner, als Puff, als Umschlagplatz einer Schwarzmarktmafia mit dicken, protzigen Ami-Schlitten. Dann war einer ebenso spinnert wie eloquent, dass er die Gemeinde für den Plan zu begeistern vermochte, den Burghof für Freilichtaufführungen zu nutzen und durch jährliche Ritterfestspiele Weltruf zu erlangen. In der Tat, die Komparserie war ja schon da; denn insgesamt kann man an der Aufzählung unschwer erkennen, dass das Burgschloss stets seiner Bestimmung treu geblieben war, von jenen bewohnt zu werden, die sich auf die falsche Seite geschlagen hatten.
Daran hatte sich bis zum heutigen Tage nichts geändert. 17 Namensschilder, deren Internationalität sich nicht nur durch Schreibweise und Wortklang, sondern auch durch ihre Sorgfalt oder Unbekümmertheit verrieten, wiesen den Besucher zum Beispiel „ganz hoch, unter Dach, fünftes Türr links". Auch einige Klingeldrähte verwurstelten sich zur Gewölbedecke, als habe man bunte Spaghetti mit einer Gabel empor gezerrt. Einige stammten sicher noch von der deutschen Wehrmacht, andere aus US-Beständen. Meist war die Klingel jedoch nur Statussymbol. Der Draht endete im Nirgendwo. Die Fortsetzung diente wahrscheinlich längst im Hof als Wäscheleine. So, das mag genügen, um dem Ruch zu entkommen, diese Geschichte entspringe im Schlossherrenmilieu und die Gänsemagd schicke sich gerade an, den feschen Junker zu verliebäugeln.
Übrigens - die Miete zahlte man an die Gemeinde. Es war eher eine symbolische Handlung, denn die Summe war der Rede nicht wert. Stets in der Hoffnung, es verirre sich eines Tages ein stinkreicher Amerikaner nach T. und wolle ein echtes deutsches "castle" kaufen, es zerlegt, Stein für Stein nummeriert und verpackt nach Texas schicken oder an Ort und Stelle zu einem romantischen Hotel und Party-Place ausbauen, ließen sich die Gemeindeväter stets auch die Erklärung unterschreiben, monatliche Kündigung sei vereinbart.
Hatte ich mich auch auf die falsche Seite geschlagen? Dies zu beantworten, überlasse ich meinen späteren Leben. Diese Geschichte ließ es zunächst vermuten. Zwei der ehemaligen Prunkräume hatte ich billigst von einem Maler übernommen, der hier Zuflucht gesucht hatte, aber seines Rheumas wegen seinerseits wieder die Flucht antreten musste. Überhaupt, so glaube ich, war das Rheuma einer der strengsten Herrscher unter dem schwammsüchtigen Gebälk. Man war auf elektrische Heizungen angewiesen, hier jedoch zu niedrigen Anschlusswerten gezwungen, weil die Installation abenteuerlich genannt werden musste. Uralte Steckdosen, teils noch aus vielfach gesplittertem Porcellan (mit "c"!) und nur in meinen Rittersälen als Hinterlassenschaft der Army bereits aus hässlichem Bakelit, wiesen jeden Schukostecker von sich. Brände brachen wohl nur deshalb nicht aus, weil dafür nun wirklich alles zu feucht war.
Warum mietete man eine solche Bruchbude? Dafür gab es drei überzeugende Argumente. Eines und das wichtigste breitete sich vor dem Betrachter aus, wenn er aus den Fenstern weit in die Landschaft schaute, bei Föhn bis tief ins Gebirge. Heute, an diesem Maientag über die prangende Baumblüte, über das strotzende Frühlingsgrün bis zu den näheren Höhenzügen, von denen schlanke Barockzwiebeltürme herübergrüßten. Wer hier aus dem Fenster sah, pflegte sofort zu fragen "Ist hier noch etwas frei?" und hielt den Bewohner fortan tatsächlich für einen Schlossgrafen. Der zweite Grund, hier dem Gliederreißen zu trotzen, war die Abgeschiedenheit ohne Telefon - eine Fluchtburg für Kreativität. Und drittens war es ein herrliches Gefühl, wenn man in den Büros der nicht gar zu nahen Großstadt München saß, sich sagen zu können: Ich kann jederzeit "auf mein Schloss" fahren, und dann könnt ihr mich alle mal. Allerdings musste man der Verlockung widerstehen, irgend jemandem ein Sterbenswörtchen von diesem Paradies zu verraten oder auch nur eine Andeutung zuviel auszuplaudern.
Wie ich dennoch auf die fixe Idee kommen konnte, das Mädchen habe mir zugewunken und wolle zu mir - ich weiß es bis heute nicht. Für Bruchteile von Sekunden, für irrlichternde Gedankenblitze, brach in mir sogar die Vorstellung aus, so komme der Tod daher. Er biege plötzlich um die Ecke und winke so eindeutig, dass es gar keinen Zweck habe, sich umzusehen, ob nicht doch ein anderer gemeint sein könne, und erwische einen ganz kalt, ohne verabredet, ohne vorangemeldet zu sein, vorgelassen zu jeder Stunde. Aber der Tod ist wohl keine junge, durch Wiesengrün springende Frau - und wenn es so wäre, dann wollte ich mit ihr in einem letzten Orgasmus davon stieben.
Immerhin, schon beim ersten Gewahrwerden dieser Fee hatte sich bei mir jeder Gedanke an meine Arbeit davongestohlen. Meine Hand wurde unsicher, die Farbe anzumischen. Das Papier war schon wieder zu trocken, und mein Herz pulste zu rasch, als dass ich noch hätte ertragen können, dass dieses Mädchen zu einer der 16 anderen Wohnungen gegangen wäre.
Muss ich zu dem illustren Völkchen noch etwas sagen, das sich unter diesem windschiefen Dach zusammengefunden hatte? An einem Tag wie diesem, in dieser frühen Nachmittagsstunde, mischten sich die Schreie spielender Kinder mit dem Keifen missgünstiger Vetteln, aber gelegentlich auch mit dem ekstatischen Quieken wenig verborgener Lust-Spiele. Wozu sie verheimlichen, wenn sie in Wirklichkeit von den drallen Weibern mit unverhohlenem Stolz kundgetan wurden: Schau her, meiner oder einer treibt es noch mit mir!
Auf einmal spürte ich ganz deutlich, dass jemand näher und näher kam. Nicht dass ich durch das Brodeln des Milieus irgendeinen Stapfer hätte hören können. Auch war niemand aus meinem Fenster auszumachen, der näher als hundert Meter an die abblätternden, morbiden Mauern herangekommen war. Nein, es war einfach die Nähe dieses Menschen, diese unaufhaltsam auf mich zukommende Begegnung, die mir Herzklopfen bereitete. Mehr noch als Herzklopfen, es war eine Angst, eine eigenartige Aura, ein Magnetfeld, in das ich geraten war und aus dem es kein Entrinnen gab. Wenn so etwas möglich wäre, so musste sich wohl das Feld elektrischer Wellen, das mich umgab, innert Sekunden anders gepolt haben. Ich hätte mich nicht gewundert, wäre ein Bild von der Wand gefallen, ja, nicht einmal, wenn es sich von selber wieder aufgehängt hätte. Obwohl die Sonne durchs Fenster schien, erwartete ich einen Donnerschlag. Die Erde hätte beben können. Und dann war dieses ganz normale Klopfen.
Exakt zu dem Zeitpunkt, zu dem es kommen musste. Die Tür öffnete sich. Ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt "herein" gesagt hatte. Die junge Frau ging auf mich zu, schaute mich mit ihren großen Augen an, umarmte mich wortlos, und wir versanken in einem langen, schwindelhaften Kuss. Wir ließen nicht voneinander. Die Wärme ihres Körpers floss in mich über. Beide hatten wir - wie wir uns später bekannten - eine Scheu, durch irgendwelche Sätze dieses dichte Leben, diesen innigen Augenblick zu stören.
Nein, der Tod ist keine Frau, wie ich sie hier in meinen Armen hielt, eine Frau mit diesem herrlichen Duft nach Weiblichkeit. Eine solche Frau gibt Leben - und ich trank dieses Leben in mich hinein.
Als wir uns voneinander lösten, sagte sie nur "Hans, da bin ich, endlich!" Dann ging sie zum Fenster und ließ den Mai und die ganze liebliche Landschaft in sich hinein, wandte sich dann mit einer entschlossenen Kopfbewegung zu mir und sagte:
"Und hier bleibe ich jetzt! Darf ich doch? Oder?"
Ich hörte mich sagen "Wie schön! Wie schön, dass du gekommen bist!" Dabei raste es in meinem Gehirn. Ich wusste zu ein und derselben Sekunde, dass ich diese Frau nicht kannte - und dass sie mir Zeit meines Lebens vertraut war! Ich konnte sie nicht mit Namen anreden, aber es gab zwischen uns sofort eine innige Verbundenheit. Stutzig wurde ich noch mehr, als sie mich, ein paar achtlos durcheinanderliegende Aquarelle durchblätternd, nach einem ganz bestimmten Bild fragte. Und gerade dieses hatte ich noch niemandem gezeigt.
Ich wankte, ergriff die Tischplatte, krallte mich dort fest, bis ich Schmerzen spürte, weil mich doch Zweifel beschlichen, ob mich dieser Engel vielleicht schon weggeholt hatte und der Tod zwar keine Frau, aber eben doch ein Engel sei. Brücken, verlässliche Brücken zu meinem Leben suchte ich und nahm den Schmetterling dafür, der sich für wenige ruhige Flügelschläge auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte.
"Annemarie", sagte ich plötzlich, "Annemarie, darf ich dir einen Kaffee machen, nach deiner langen Reise?"
Nie hatte ich bewusst eine Annemarie gekannt. Aber der Name kam wie selbstverständlich über die Zunge. Sie lächelte scheu, warf mir einen fragenden Blick zu und sagte ganz leise "ja". Dann trat sie wieder auf mich zu, um mich noch einmal innig zu umarmen.
"Ich bin ja so glücklich, wieder bei dir zu sein! So glücklich, dich endlich, endlich gefunden zu haben!"
Wieder ging sie zum Fenster. Mit dem Wassertopf zu hantieren, kaltes Wasser einströmen zu hören, die Kochplatte einzustöpseln, die Tassen aus dem Regal zu holen, das alles waren Tätigkeiten für mich, die mir ungeheuer wichtig wurden, bestätigten sie mir doch, noch am Leben zu sein. Und vor allem bestätigten sie mir auch, dass diese junge Frau, dieses strahlende Mädchen lebendig war, Fleisch und Blut - und nicht nur Phantasie.
"Wir müssen meine Tasche nachher noch vom Brückenwirt holen. Ich dachte, du zeigst mir die Gegend, und wir machen einen Spaziergang. Auf dem Rückweg holen wir die Sachen ab."
Immer wieder schaute ich sie an. Eine schöne, vitale, junge Frau. Ihr langes, dunkel glänzendes Haar war vom Wind strähnig verweht. Sie war barfuss in ihren Sandaletten. Aber wer war sie? Wer?
Immer, wenn ich ansetzte zu fragen, verschlossen sich meine Lippen. Als ob ich, wie in einem Märchen, zum Schweigen verdammt wäre.
Glaubte ich an ein Leben nach dem Tode? An eine Wiederkehr? Ich hatte viele Bücher darüber gelesen und war immer skeptischer geworden. Die Autoren hatten sich, so meinte ich es zu spüren, mit irgendwelchen Floskeln als Wichtigtuer und Scharlatane verraten.
Um ihr aus einer schweren Depression herauszuhelfen, hatte ich mich einmal mit einer Frau verabredet, für den Fall, dass wir noch einmal leben würden, wollte ich sie mit ihren Lieblingsblumen, einem Strauß von zartrosa Rosen und weißen Freesien an einem Denkmal auf dem Rossmarkt in Frankfurt wiedertreffen. Sie war kurz darauf so schmerzhaft jung an Krebs gestorben. Sie hieß Michaela. Nicht Annemarie.
In einer meiner Novellen, die ich schreibend durchlitten hatte, war Barbara plötzlich verschwunden. Zur Konditorei gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Auch eine Lelia kreuzte so meinen literarischen Weg und verschwand in ein hoffentlich schönes Leben.
Häufig war es mir passiert, dass ich in der S-Bahn oder auf der Straße plötzlich in ein Frauengesicht schaute, das mir ungeheuer vertraut schien - im doppelten Sinne dieses Adverbs: ungeheuer war mir dabei. Auch dann raste mein Herz - aber nie so wie heute. Übrigens: Nie war mir das bisher bei einem Mann passiert.
Gut, ich versuchte, diesem Phänomen mit psychologischen Erklärungen auf die Spur zu kommen, und es gab viele, teils wenig schmeichelhafte Deutungen, zu denen sich ein Mann gar nicht leicht bekennt. Und jetzt - Annemarie?
Ich deckte ihr einen Platz am Fenster. Stellte den Wiesenstrauß dazu, den ich morgens vom Jogging mitgebracht hatte. In der alten Kaffeedose hatte ich noch ein paar Kekse.
"Und du?" fragte sie.
"Ich? Ich kann vor Aufregung gar nichts essen oder trinken. Ich muss dich einfach immer wieder anschauen. Und anfassen. Ganz einfach anfassen muss ich dich!" Dabei strich ich immer wieder über ihr Haar, ließ es durch meine Hände fließen und küsste sie ganz sanft in den Nacken. Sie wehrte es nicht. Das "Du" floss mir ohne jedes Zögern von den Lippen.
"Freust du dich?" fragte sie mich. Und nie habe ich ehrlicher "ja" gesagt.
So sehr mir dieses "Ja" aus dem tiefsten Herzen kam, so fühlbar war die Anspannung in mir. Denn in dieser Begegnung gab es so gar keine Belanglosigkeiten. Jede Geste, jeder Blick, jedes Wort wog für mich bedeutungsschwer, während meine Besucherin ganz im Gegensatz dazu einen überaus entspannten, sehr fröhlichen, fast ausgelassenen Eindruck machte. Immer wieder wurde mir unbehaglich, wenn sie mich sehr präzise nach meiner Arbeit fragte, Details nannte, die nur jemand wissen konnte, der mir jahrelang über die Schulter geschaut hat. Wieder und wieder formten sich auf meinen Lippen Sätze wie "Annemarie, woher weißt du das alles?" oder "Wer, zum Teufel, bist du denn?". Aber so, wie man in Todesangst kein Wort herausbringt, pressten sich meine Lippen zusammen, wann immer ich diesem Rätsel auf die Spur kommen wollte.
Schließlich, bei einer ganz und gar menschlichen und weiblichen Situation glaubte ich für einen Moment, dieses Geheimnis geradezu lachhaft einfach entschlüsselt zu haben: Annemarie war mit sicheren Schritten zu meiner Mini-Toilette gegangen. Dazu musste sie immerhin mein Schreib- und Schlafzimmer durchqueren. Ich hatte aus sehr praktischen Gründen Schreiben und Malen getrennt. Hier lagen die vielen gescheiterten Versuche, etwas in Farben auszudrücken, drüben war der Boden rings um den kleinen Erker mit Manuskriptblättern übersät. Mein Bett war unordentlich aufgeschlagen. Es zu machen, schien mir hier überflüssig, denn Schlafenszeit durfte mich hier jederzeit überfallen. Vor allem bei Regen und Nebel schlief ich häufig tagsüber und fieberte dafür nachts über diesen und jenen Papieren. Fast in der Mitte der großen Außenwand verdankte ich dem Sanitärwahn der US-Army eine Nasszelle, einen von außen überaus hässlichen, funktionalen Anbau, der jedem Denkmalsschutz Hohn sprach. In Backstein bis zur Dachkante hochgezogen, nicht verputzt und eindeutig in seinem Zweck erkennbar: kein Bergfried, sondern ein Donnerturm mit Wasserspielen, um wenigstens verbal einigermaßen romantisch zu bleiben.
Hierhin war Annemarie, oder wie meine himmlische Besucherin hieß, mit schlafwandlerischer Sicherheit entschwunden. Keine der üblichen Fragen "Wo ist, bitteschön ...." oder "Darf ich mal ....?" die Nase pudern. Nein, sie setzte die Schritte, als könne sie den Weg auch im Dunkeln finden.
Und da durchschoss mich der schalkhafte Gedanke, ob sie vielleicht eine Freundin des Malers sei, der vor mir war. Ob sie vielleicht hoffnungslos kurzsichtig und ebenso eitel war, so dass sie keine Brille trug. Dass sie mich mit Martinicz, meinem Vorgänger, verwechselte, den das Rheuma vertrieben hatte? Vielleicht hieß er auch Hans? Denn so hatte sie mich zumindest einmal angeredet. Welch' eine Desillusionierung!!! Welch' lachhaftes Komödienspiel, reif für eine Posse der bisher gescheiterten Burgfestspiele. Das Mittelalter hätte sich an einem solchen Stoff in Opern ergötzt!
Aber hatte sie mich nicht nach meinen Arbeiten gefragt? Und nach jenem Bild, das ich bis heute in die hinterste Ecke verbannt hatte, weil es mich immer wieder aufs äußerste beunruhigte? Diese Auseinandersetzung mit Dingen zwischen Himmel und Erde, von denen sich meine Schulweisheit nichts träumen ließ und auch nichts träumen lassen wollte, brachte mich noch - so fühlte ich es jedenfalls - an den Rand des Irrsinns. Ich nahm meine Zuflucht zu Erklärungen derart, dass ich ja auch schon oft durch Landschaften und Städte gefahren bin, ja, mich in Gebäuden aufgehalten habe, in denen ich mich so zuhause gefühlt habe, als sei ich dort geboren oder aufgewachsen, obwohl ich tatsächlich nie vorher in meinem Leben dort gewesen sein konnte. Auch hatte ich schon fremde Wohnungen betreten, in denen mir die Räume, ja, die Schränke und Bilder äußerst vertraut vorgekommen waren. "Déjà-vu" nannte man das wohl.
Warum sollte es Annemarie nicht ebenso ergehen? Vielleicht hatte sie in einem ihrer früheren Leben als Burgfräulein hier gelebt? War sie eine verwunschene Prinzessin? Ein gar liebliches Burggespenst? Für eine Kolportage ein trefflicher Entwurf!
Jede Frau, die sich ausgehfertig macht, kämmt ihre Haare. Annemarie aber kam so ein bisschen zerzaust, wie sie war, aus dem kleinen Boudouir zurück. Nur ein wenig mehr Stolz hatte sie aufgelegt, und sie riss mich durch ihre blutvolle Gegenwart und die erotische Ausstrahlung ihrer ganzen Persönlichkeit radikal aus meinen Gedanken. Ja, ich verscheuchte jetzt jeden Versuch einer Analyse des phantastischen Geschehens und beschloss, mich mit vollen Herzen und erwiderter Schalkhaftigkeit in dieses Abenteuer zu stürzen. Mochte sie sein, wer sie ist, ein solch unverhofftes Geschenk des Himmels durfte man nicht verschmähen. So gesehen hätte ich sie Dorothea = Gottesgeschenk taufen müssen. Und ich wollte probieren, wie weit sie und die Götter mitspielen würden.
Bald schlenderten wir Hand in Hand, wie frisch Verliebte, den romantischen Bachsteg hinunter. Das plätschernde Wasser hatte früher den Burggraben gefüllt und so den Zugang von der Bergseite erschwert. Jetzt rauschte der Bach in kleinen Kaskaden zu Tale. Leider von den grässlichen Spuren der Plastikgesellschaft gesäumt, über die das junge Maigrün nur einen schütteren Schleier zu legen vermochte.
Lange Zeit liefen wir schweigend nebeneinander her. Längst waren wir vom eigentlichen Ziel, die Koffer zu holen, abgekommen. Auf steinigen Feldwegen folgten wir den üppig grünenden Wiesen und Rainen. Eine "sentimental journey" dachte ich, in Erinnerung an einen Erfolgsschlager meiner Pennälerzeit. Aber war dies wirklich sentimental? Beim Anblick der vielen Millionen Pusteblumen zurückzukehren in jene frühen Jahre, in denen eine Pusteblume für mich noch eine Pusteblume und kein abgeblühter Löwenzahn war? In denen Glockenblumen noch von Elfen bewohnt wurden, wie ich sie auf einem meiner Lieblingskinderbücher abgebildet fand? Woher kamen diese Erinnerungen ausgerechnet in der Begleitung dieser jungen Frau? War das nicht zu wenig männlich?
"Ich möchte sehen lernen, wie du siehst!" sagte sie unvermittelt, als habe sie versucht, in meinen Gedanken zu lesen. "Ich will die Dinge wahrnehmen, wie du sie wahrnimmst."
"Aber warum?" fragte ich. "Warum willst du, als Frau, mit meinen Augen sehen? Wo doch das Weibliche in dir nicht nur die Augen viel weiter öffnet, sondern deine Sinne insgesamt. Während ich als Mann ständig an meine Grenzen stoße."
Und dann floss ganz spontan ein Satz aus meinem Mund, den ich nie bewusst erdacht hatte und der mich selbst aufs äußerste berührte:
"Für mich sind meine künstlerischen Versuche allesamt eine einzige erotische Begegnung mit dem Weiblichen, indem ich mich fast verzweifelt bemühe, die Welt so zu erahnen, wie eine Frau sie sehen könnte. Das, was mir von meiner Natur lebenslang verschlossen bleibt, will ich durch Striche, Farben, Konturen, durch Wörter und Sätze wenigstens in Schemen darzustellen versuchen ...."
".... und bist dabei so tief in mein Inneres vorgedrungen, dass ich mich zutiefst beunruhigt fand. Du hast übersetzt, was ich selbst von mir nur ahnte, aber bei dir in aller Klarheit wiederzuerkennen vermochte! Das war es ja, was mich nicht ruhen ließ, den Weg zu dir zu suchen."
"Und wie hast du ihn gefunden?"
"Für jemanden, der so intensiv mitzuschwingen beginnt, war die Spur unverkennbar, die du selbst gelegt hast. Sei ehrlich, dein Rückzug hier in diese Einsamkeit war doch zugleich ein Schrei nach Menschen, die dich verstehen. Natürlich verborgen in einer Art Code, den zu entschlüsseln nur jemand vermag, der auf derselben Wellenlänge Botschaften zu empfangen in der Lage ist."
"Nach e i n e m Menschen!" korrigierte ich. "Und deshalb wusste ich, als ich dich zwischen Scheune und Haus auftauchen sah, dass du dieser Mensch sein musstest und dass du zu mir kommen würdest!" Ich wusste nicht einmal, ob das gelogen war.
"Aber du kennst mich nicht?!"
"Nicht deinen Namen!"
"Du weißt also, dass ich nicht Annemarie heiße ...."
"Ich nannte dich so ...."
".... und ich finde den Namen gut. Er engt mich nicht ein. Verpflichtet nicht. Ist kein Programm."
"Wer bist du dann?"
Verschmitzt lächelte sie mich an: "Wenn du lieb bist, sage ich es dir in der zweiten Hälfte der Nacht!"
"Wozu dieses Spiel?"
"Wieso, ist der Name so wichtig? Irgendwann wirst du mich erkennen!"
Erkennen? Im biblischen Sinne?
Ich versuchte, aus ihrem Dialekt, ihrer Sprache Schlüsse zu ziehen. Der Klang war dunkel und warm. Eher süddeutsch, ohne dass man auf Bayern hätte tippen können. Österreich? Dann meinte ich wieder, andere Akzente, weichere Konsonanten herauszuhören.
"Verschwende die Zeit nicht, um zu grübeln, wer ich bin. Ich bin einfach da. Ich habe dich gesucht, wochenlang, jahrelang, und ich habe dich endlich gefunden ...."
".... aber ich selbst suche mich seit Jahren und habe mich noch nicht gefunden!"
"Weil es ein Irrtum ist zu glauben, man fände sich selbst, wenn man sich mit sich und zu sich selbst zurückzieht. Du beginnst nur zu gründeln, und je mehr du den Grund aufwühlst, desto mehr Schlamm wirbelst du auf, und dein Blick wird trüber mit jedem Tag. Irgendwo habe ich mal gelesen 'Beim Fallenlassen in deine eigenen Abgründe erkennst du vielleicht dich selbst', doch meine Abgründe offenbarten mir nur eine grässliche Fratze ....“
„.... das ist es ja gerade: Ich bin nicht nur gekommen, um ich zu finden, sondern dabei auch mich."
Annemarie ließ Gräser durch ihre Finger schlüpfen und erfreute sich an den kleinen Grannensträußen.
"Ich habe keine Botschaften ausgesandt!" nahm ich den Faden wieder auf.
"Oh ja! Du hast Kurzgeschichten geschrieben. Geschichten mit einer irren Sehnsucht nach Zärtlichkeit, wie sie vielleicht nur einer Frau auffällt. Ich habe Aquarelle von dir gesehen, und die sagen eigentlich dasselbe ...."
"Das wäre eine magere Botschaft!"
"Wie man's nimmt. Nicht in dieser Zeit. Nein - es sprach aber noch mehr daraus: Achtung auch vor gescheiterten, vor strauchelnden Menschen, Versuch der Verständigung zwischen Gegensätzen, die Fähigkeit, in einer unermesslichen Spannweite zu leben und zu erleben. Und, jetzt, wo ich darüber spreche, wird es mir erst richtig bewusst: Du suchst Begegnungen und nimmst ihren Zauber, ihre Bereicherung so dankbar in dich auf. Ja, das ist es. Deshalb möchte man dir begegnen, immer und immer wieder!"
"Begegnungen sind für mich die schönsten Erlebnisse auf diesem Lebensweg. Jede Begegnung mit einem anderen Menschen ist, als ob sich das Tor zu einer neuen, weiteren Welt öffnet. Zumal die Begegnung mit einer Frau .... Mit einer Frau deshalb, weil mir ihre Welt so zwangsläufig, so endgültig verschlossen bleibt. Einer Frau zu begegnen, heißt für mich, einen kleinen Blick in das mir ewig Verborgene wagen zu dürfen ...."
"Vorsicht! Enttäuschungen können dabei nicht ausbleiben!"
"Enttäuschungen - das heißt zunächst: Ich habe mich getäuscht. Nicht: Der andere hat mich getäuscht. So hart sich diese Aussage gegen mich selbst wendet."
"Werde ich dich enttäuschen?"
"Ich gehe mit dir diesen Weg. Ich freue mich an deiner Begleitung. Ich genieße die Spannung. Das Geheimnisvolle an dir. Und ich spüre unsere Nähe. Kurzum, ich erlebe diese wunderbare Begegnung in vollen Zügen, wie weit sie uns auch immer führen mag."
"Wir sind uns schon einmal begegnet!" sagte Annemarie mit einem überlegenen Lächeln. "Ich war damals noch sehr jung, sehr wild, sehr aggressiv. Ich hätte das Zeug dazu gehabt, Terroristin zu werden. Und zwar, weil ich partout nicht ich selbst sein wollte. Es schien mir nicht 'in' und außerdem langweilig. Und weil ich weder mich selbst akzeptierte, noch das Schicksal um mich herum, wollte ich das Ich in mir umbringen, und hatte ich den Drang, auch andere, mir ähnliche Ichs zu töten. Dich zum Beispiel!"
Ich zuckte zusammen. Aber das Mädchen schaute nicht einmal zu mir herüber. Ihr Gesicht nahm jetzt wie ihre Worte eher fanatische Züge an. Sie sprach laut und scharf, als ob sie irgend etwas zerschneiden, zermetzeln wollte.
".... zumal du mich durchschaut hattest. Obwohl ich mich grässlich verstellte, obwohl ich mich .... mit einem beträchtlichen masochistischen Potenzial .... entstellt und verätzt hatte, obwohl ich eigentlich meilenweit neben mir stand .... hast du mich erkannt und meine Not beim Namen genannt. Das war eine Unverschämtheit, und es hat meine Wut auf dich damals nur noch gesteigert. Und dass du ein Mann warst, der nicht in das mühsam indoktrinierte Hassklischee von Mann passte .... dass du es wagtest, dort nicht hineinzupassen, das hat mich völlig aus dem Gleis geworfen. Du hast mich regelrecht umgekippt .... ja, das ist das richtige Wort. Heute erst fällt es mir ein! Erinnerst du dich jetzt?"
Nein, wenn überhaupt, so dämmerte es nur schwach in mir. In meinem Beruf hatte ich selten, ja, fast nie mit Jugendlichen zu tun. Irgendwann immer mal mit der Protestszene. Irgendwelche Pulks von Gammeltypen, Anarchisten und Utopisten hatten gelegentlich mal versucht, irgendwelche Aktionen unserer Klienten zu stören. Nur in der Gruppe fühlten sie sich stark, nur als Masse waren sie aggressiv und schaukelten sich gegenseitig in ihrem Destruktionswahn. Und nur vor Gruppen verspürte ich auch Angst - damals. Wann war das? Ja, da war dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, die lebhafte Erinnerung an faschistische Bedrohungen. Mag sein, dass eines dieser Mädchen inzwischen zur Annemarie herangewachsen war.
"Du sagtest damals zu mir, als du mir in meine hasserfüllten Augen schautest, du wollest gern einmal mit mir verreisen. Und ich schrie dich an .... so etwa `Das könnte dir so passen, du chauvinistisches Schwein` .... und dann war ich doch so dämlich, dich zu fragen, wohin denn? Und du sagtest ganz ruhig, und ohne mich aus den Augen zu lassen, `Zu deinem Selbst!` - Das hat vielleicht gesessen! Wie ein Pfeil, der durch die Luft gezischt kam! Du meintest es nicht aggressiv. Und auch nicht so widerlich pädagogisch. Einfach nur so. Und dann gingst du weg. Das alles ließ mir keine Ruhe. Nach außen bemühte ich mich, cooler als cool zu sein. Aber innen kochte ich. Es brodelte so in mir, dass ich mich noch am selben Tag erkundigt habe, wer denn dieser widerliche Typ gewesen sei."
"War das .... vor Jahren mal .... könnte das in Frankfurt gewesen sein?"
"Vielleicht dämmert es dir noch mal! - Jedenfalls hast du dir auf eine so raffinierte Art und Weise eine Freundin verschafft, du Eremit!"
Eigentlich war ich jetzt ein wenig traurig darüber, dass ich den Schleier des Geheimnisvollen um einen Spalt gelüftet hatte. Annemarie - eine Demonstrantin? Eine Beinahe-Terroristin? Schemenhaft glaubte ich, mich erinnern zu können. Aber da blieb auch so noch vieles rätselhaft. Die Spur zu mir! Die Frage nach dem Bild!
Ich stellte mich Annemarie in den Weg, fasste sie fest an den Armen und studierte in ihren Augen.
"So hast du mich auch damals angeschaut. Und ich wusste: Deine Welt ist auch meine Welt. Und nun bin ich hier, um deine Einladung anzunehmen!"
"Welche?"
"Du wolltest mit mir eine Reise zu meinem Selbst unternehmen!"
"Bist du nicht dort schon angekommen? Ich meine .... deine Wanderschaft .... dein Weg hierher .... dein Weg zu mir .... war er nicht in erster Linie dein Weg zu dir?"
Skeptisch blickte mir Annemarie in die Augen. Als ob sie etwas anderes erwartet hatte. Als sei sie enttäuscht, nach einer solchen Reise auf sich selbst zurückgeworfen zu werden.
"Dass du mich nicht missverstehst: Ich fände es wunderbar, ein Stück des Weges zusammen mit dir zu gehen .... so, wie wir hier .... wie eine symbolische Handlung .... durch die Felder streifen. Aber ich bin nicht dein Vater, nicht tauglich für ein Idol, für eine Leitfigur. Dazu bin ich viel zu sehr Dilettant. Und ich könnte "Frau" nicht gut akzeptieren als hilfsbedürftiges Wesen. Dazu bist du zu stark. Zu sehr ausgeprägte Persönlichkeit!"
Noch immer hatte sie schwer an etwas zu knacksen, wie ich das immer zu nennen pflegte, wenn jemand im Gespräch nicht über seine selbst gestellten Hürden kam. Ein wenig Wind war aufgekommen. Am Himmel hatten sich Föhnwolken zusammengeschoben. Die Berge waren uns noch näher gerückt. Wir hatten das Dorf - oder war es doch ein Städtchen? - weit umrundet. Stets beherrschte die Burg das Szenario. Ja, man konnte sogar von hier aus erkennen, dass meine beiden Fenster offengeblieben waren. Sie bildeten zwei schwarze, steil aufragende Rechtecke. Burg - Geborgenheit? War es dies, was Annemarie suchte?
"So, wie ich dich in den wenigen Stunden bisher kennengelernt habe, so, wie ich mich ganz vage an eine Demonstrantin erinnere, nehme ich an, dass du in deinem Gepäck Manuskripte mitgebracht hast. Vielleicht auch Bilder. Und dass dieser Besuch vor allem auch eines bezwecken soll: Dem, der dir damals - unbeabsichtigt - einen Flankenstoß versetzt hat, dem, der dich damals gedemütigt hat, zu zeigen, dass du deinen Weg gegangen bist!"
"Nun gut, wenn ich ehrlich sein soll, dann ist es so oder jedenfalls so ähnlich. Zum Teil. Aber ich möchte mehr. Ich möchte darüber hinaus. Und deshalb habe ich nach dir gesucht. Ich bin `Person`geworden, aber bin ich auch `Frau`?"
Nun war ich es, der schwieg. Jedes Wort, das mir auf die Zunge kam, erschien mir chauvinistisch. Am Äußerlichen orientiert. Ich wagte nicht einmal, diese Vollblutfrau anzusehen. Noch viel weniger, sie in diesem Augenblick in den Arm zu nehmen. Für diese Frage fühlte ich mich überhaupt nicht kompetent.
"Welche Anforderungen stellst du an dich, um dich als Frau anzuerkennen? Biologische stehen ja außer Zweifel ...."
".... Oh nein, nein, nein, überhaupt nicht! Du müsstest das doch spüren. Du, der du mich durchschaut hast wie kein anderer. Du weißt vom Manuskript in meiner Tasche .... und ich wette, du kannst dir auch meine Bilder schon jetzt vor deinem inneren Bildschirm ausmalen....."
".... so, wie du mich vorhin nach einem meiner Bilder fragtest, das bisher niemand, aber auch niemand zu sehen bekommen hatte. Woher wusstest du? Woher kanntest du meine Burg? Meine Räume? Mein Leben? Du hast mir Angst eingejagt ...."
"Frag' nicht. Ich weiß es doch selbst nicht. Einige Signale hast du in deinen Geschichten versteckt. Anderes formte sich wie selbstverständlich und unverrückbar in meiner Vorstellung. Mein Gott, ich fühlte mich mehr denn je als Teil von dir .... als deine Zwillingsschwester. Ich kannte in etwa auch die Burg. Als ich sie sah, ich wusste nur sehr ungefähr, frag` nicht von wem, wohin du dich zurückzuziehen pflegst .... aber als ich sie sah, erkannte ich sie. Ich hätte mit den Fingern auf die Fenster deuten können, hinter denen ich dich vermutete. Der Wirt in der Kneipe hat mir nur bestätigt, was in mir bereits Gewissheit war. Und jetzt bin ich hier, bin ich bei dir, um mit dir darüber zu sprechen, wie`s weitergehen soll!"
Der Wind trieb jetzt in Böen von Norden her aufs Gebirge zu. Der Föhn hatte den Machtkampf verloren und musste sich fluchtartig hinter die Alpenkette zurückziehen. Und wir mussten uns beeilen, um noch trocken zum Brückenwirt zu kommen.
"Du, und wenn es jetzt hundertmal zu regnen anfängt, und wenn die Blitze runterzucken, ich muss es dir jetzt sagen: Ich möchte ein ....."
Ein ungeheurer Donnerschlag ließ ihr die Worte im Hals erstarren. Entsetzt schaute sie mich an. Und hastig, als ob sie sich schnell korrigieren, als ob sie sich für etwas Unaussprechliches entschuldigen wollte, beeilte sie sich, ihren Satz anders zu vollenden, als er wohl durch den Donnerschlag zerfetzt wurde: "Du wolltest mit mir eine Reise zu meinem Selbst unternehmen. Ich bin ein großes Stück allein gegangen. Das war mühsam und gefährlich. Ich habe oft an Abgründen gestanden, symbolisch und tatsächlich, aber dann hast du mich weggezogen, damals .... und viele Male später, hast mir ein WEITER! zugerufen. Den nächsten Teil des Weges kann und will ich nicht alleine gehen!"
Annemarie hatte sich mir in den Weg gestellt und versuchte, in meinen Augen zu lesen.
"Sag ja .... jetzt und hier!"
"Wozu?"
"Mach' es mir doch nicht so schwer .... so schwer, wie dieser Wetterschlag .... ich will .... nein, jetzt verlässt mich mein ganzer angestauter Mut .... ich will nicht allein durch dieses Leben gehen und wenn meine so oft geträumten Träume schon nicht in Erfüllung gehen, ich will .... ein Kind ...."
Die ersten dicken Tropfen kamen mir zu Hilfe .... meine Überraschung zu verbergen und die Antwort vor mir herzuschieben. Ich musste schon gegen das Donnergrollen anbrüllen.
"Ein Kind ist ein eigener Mensch! Ein Kind wäre nicht dein Eigentum! Ein Kind würde nicht zu deiner Persönlichkeit, zu deinem Selbst führen, sondern zu einem neuen Selbst! Hast du das schon einmal bedacht?"
Wir rannten die letzten hundert, zweihundert Meter auf die Häuser zu. Als wir beim Willi in die Gaststube hineinstürzten, waren wir schon pladdernass. Aber geborgen. Und ich konnte dieses Gefühl an Leib und Seele spüren: geborgen sein. Geachtet sein. Angesprochen werden. Einen Obstler hingestellt bekommen, ohne dass man ihn bestellt. Weil jemand freundlich - eben: wie ein Freund - sein möchte. Etwas Gutes, Kräftiges zu essen bekommen. Auf einer Eckbank unterm blumengeschmückten Herrgottswinkel sitzen, während draußen ein Gewitter tobt. Und Geborgenheit abgeben können. Die warme Decke auch um die Schultern des anderen legen. Ihm mit dem Taschentuch und der Papierserviette das Haar trocknen, die Tropfen von der Stirn und aus den Augenbrauen tupfen. Mit den Lippen die Fingerkuppen streicheln.
"Ja, das ist was Recht`s! Mein God, des hot dir g`fehlt, Maler!" meinte der Willi, als er sich die Annemarie anschaute. "Jetzt geht`s aber zua!"
Ich wusste nicht, was er damit meinte. Das Wetter. Oder mein Leben. Oder auch nur die Leberknödlsuppe, das Bier und den Schweinsbraten.
"Mei Frau hot schon g`sagt, der Moaler, hot sie g`sagt, hot a'fs Einkaf`n vergess`n. Und hot mir ein Sackl hi`g`stellt, mit dem Wichtigsten."
Auch das gehört dazu, zum Geborgensein. Die Leute waren hier so gut, mir von ihrer Heimat ein Stück auszuborgen. Nein, es herzuschenken an jene, die sie mochten. Und, siehe da, in der Tüte war schon die doppelte Ration. Die Kathl mit ihren lebhaften, kleinen Augen, sie hatte den klaren Blick. Ihr gehörte der Kaufladen nebenan. Und während ich der Annemarie davon erzählte, schaute sie durch die Küchentür hinein und meinte:
"Ja, eeendlich moal ein Weiberl! Nix iss, allweil so alloa sein da drob`n! Da muass ja so ein spinnerter Moaler ganz auf verschrobene Ideen komm`!"
Ich galt hier als der Maler. Obwohl niemand meine Bilder je zu sehen bekommen hatte. Ausgenommen halt der Bub vom Willi oder die Sophie, die mir manchmal das "Sack`l" mit Brot und Milch heraufgebracht haben. Dass ich auch Geschichten schrieb, in denen diese liebenswürdigen Menschen hier vorkamen, hatte entweder nichts zu sagen oder war ihnen bei aller Neugier ganz verborgen geblieben.
Einen Koffer und eine schwere Tasche schleppten wir später über den glitschigen Weg hinauf zur Burg. Es war nach dem Gewitter gar nicht mehr hell geworden. Noch immer rollten die Donner wütend an der Alpenkette entlang. Wetterumschwung - Lebensumschwung. Nichts war mehr so wie heute morgen.
Wie tief sich diese Veränderung bereits in mir vollzogen hatte, spürte ich, als wir gewahr wurden, dass die üppigen Regenschauer meine beiden Ateliers in Mitleidenschaft gezogen hatten. Der Stoß von Aquarellen, die Annemarie heute nachmittag durchgeblättert hatte, schwamm in den Pfützen auf dem großen Arbeitstisch. Und drüben, im Schreibzimmer, hatte es einen Ordner mit Manuskripten erwischt. Es machte mir eigentlich nichts aus! Gelassen nahm ich die Bilder und stopfte sie allesamt in den Papierkorb. Irgendwie hatten sie sich überflüssig gemacht. Der Tag, auf den ich sie hin gemalt hatte, war da. Und ich war ertappt worden. Nie hatte ich ertragen können, wenn mir jemand beim Malen oder Schreiben über die Schultern schaute oder auch nur in den Raum kam, um neugierig über den Block zu lugen. Meist nahm ich dann das jeweilige Blatt und zerfetzte es - nicht ohne meine Wut zu zeigen.
Heute nahm ich alles gelassener hin. Wenn ich auch Probleme spürte: So lange Annemarie bei mir zu Gast wäre, könnte ich weder malen noch schreiben. Überhaupt war mein Refugium zugleich entzaubert wie auch verzaubert. Eremit konnte ich nicht mehr sein. Ich konnte mich nicht mehr mit mir selbst und zu mir selbst zurückziehen. Jetzt war da ein anderer Mensch - eine Frau. Jetzt hatte ein anderes Flair von Intimität von diesen Räumen Besitz ergriffen. Als ich die knarrende Tür hinter uns verschloss, knisterte die Luft vor Erotik. Es war, als würde sich nun eine Hochzeit vollziehen. Der Zauber der ersten Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann.
Annemarie war in die kleine Kabutze gegangen, um sich abzutrocknen. Ungeduldig hatte sie das Gepäck nach ihrer Kosmetiktasche durchwühlt. Ohne weiteres hätte ich ihre Abwesenheit dazu nutzen können, um einen der Lederanhänger aufzuknöpfen und ihren Namen zu erforschen. Ihre Initialen hatte ich gleich bemerkt: I.v.D. Aber es wäre mir geradezu wie eine verräterische Tat erschienen, so heimlich und verstohlen ihre Identität aufzudecken. Bald hörte ich, dass sie sich nebenan umzog. In Pulli und Jeans erschien sie, um mir beim Aufwischen zu helfen.
Dann saßen wir noch lange in den tiefen Fensternischen. Der Himmel war aufgerissen. Wolkenfetzen trieben rasch vor einem fahlen Graugelb am Mond vorbei, während vom Gebirge her immer noch Wetterleuchten herüberzuckte. Wir sprachen wenig. Ja, es schien mir geradezu, als seien wir allzu schnell bis zu jenen Botschaften vorgestoßen, die sich - unaussprechbar - jeder verbalen Kommunikation verweigerten. Beim Blick hinunter, auf das verträumte, schläfrige Städtchen, ein einstiges Wehrdorf, kam es mir vor, als stünden wir jetzt vor dem verschlossenen Tor zu jenen Aussagen, von denen wir nicht wussten, ob sie Freund oder Feind, ob sie lust- oder angstbesetzt wären, und wir hatten beide nicht den Mut, beherzt anzupochen. Hinter dem Tor hätte vielleicht ein UND JETZT? gelauert, mit dem wir nicht so leicht fertig werden könnten.
Ich hatte meinen Arm um "I" gelegt. Schade, so recht gab es jetzt die Annemarie nicht mehr. Und "I" hatte sich unter meine Jacke gekuschelt. Eine Weile kommentierten wir das Spiel der Lichter in den Häusern unter uns, auf den Gassen und Straßen. Wir sogen die würzige Luft ein und lauschten den Nachtigallen, die sich in der Bachschlucht ein Konzert gaben. Beethovens Pastorale drängte sich auf. Und gerade, als ich dachte, sprach "I" es aus. Da legte ich die Platte auf und wir gaben uns der Musik hin.
Als die letzten Akkorde verklungen waren, spürte ich, dass das Mädchen an meiner Seite eingeschlafen war.
Behutsam löste ich mich von ihr. Der Grad ihrer Erschöpfung war zu groß, als dass sie es gewahr geworden wäre. So trug ich sie auf mein Bett, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie zu. Später schlüpfte ich behutsam neben sie und berauschte mich am Duft ihrer Haare und ihrer Haut. Und ich erkannte, dass ich die Zartheit dieser erotischen Begegnung viele Male zu malen versucht hatte - vergeblich. So musste es wohl sein.
Zum ersten Mal nahm ich mir nun auch Zeit, ganz entspannt in ihrem Gesicht zu lesen. Erst eine schlafende Frau offenbart sich ganz in ihren Zügen. Das Trotzige, Aufrührerische, Rebellische war nicht zu übersehen. Da war keine hilflose, sanftmütige Verehrerin in mein Leben eingebrochen. Und doch war es so, als ließe sie jetzt ganz allmählich ihre Waffen sinken, als lege sie einen Panzer ab, eine Rüstung, die ihr irgendwie Schutz und Halt gab. Als begänne sie jetzt erst, ganz sie selbst zu sein. Ihre schmalen Nasenflügel bewegten sich. Im Traum formten sich ihre Lippen zu einem zuckenden Lächeln. Ganz kurz gingen ihre Augen auf, als wollten sie sich überzeugen, dass ich hier an ihrer Seite läge. Dann löschte ich das Licht und spürte, alles um mich herum war nur noch A-n-n-e-m-a-r-i-e ! Das "I" wollte sich noch nicht verfestigen.
Ganz leicht legte ich meine linke Hand auf sie. Und spürte, was ich schon ein-, zwei- oder mehrmals glaubte, wahrgenommen zu haben, bei anderen Gelegenheiten, nämlich, dass es Menschen gibt, aus denen schon bei der leisesten Berührung, durch alle Kleidung hindurch, ein intensiver Strom von wohltuender Wärme in mich hinüberzufließen begann. Einmal war es ein kleines, vielleicht zehn- oder elfjähriges Mädchen in der S-Bahn, das sich eher zufällig an mich gelehnt hatte. Damals spürte ich dieses eigenartige Wärme, die fast wie ein Stromstoß in meinen Körper fuhr, wie ein unsichtbarer Lichtbogen, dann schaute ich verdutzt hinter mich und entdeckte das Kind, ein Türkenmädchen - und erschrak, als es mich mit seinen großen dunklen Augen überaus ängstlich ansah.
Und nun wieder. Wieder strömte wie ein Schwall diese Wärme über meine Hand den Arm hinauf und erfüllte meinen ganzen Körper. In dieses Wohlgefühl freilich mischte sich auch irgendeine undefinierbare Angst, Angst, mit mir geschähe etwas, das ich nicht unter Kontrolle zu halten imstande sein könne. Zaghaft wollte ich meine Hand zurückziehen, doch Annemarie ergriff sie und legte sie wieder genau an jene Stelle zurück, wo diese Glut aus ihr heraus floss, als sei es die Lava ihrer Seele.
Sehr früh am Morgen begannen meine Sinne, die Welt um mich herum wieder schemenhaft wahrzunehmen. Die letzten Traumbilder fügten sich in die quadratischen Felder von erster Morgendämmerung angegilbter Fenster. Meine Hand war kalt geworden. Der Mund trocken. Im ersten Dämmerlicht des allmählich wiedererwachenden Bewusstseins tauchte eine vage Erinnerung auf. Dann waren es die Sensoren meiner Geruchsnerven, die als erste Alarm schlugen. Der so liebliche Duft nach Frau, nach Haar, nach Haut, der mich betörend in einen wohligen Schlaf hatte hinüber gleiten lassen, war verweht. Blitzschnell hochfahrend stützte ich mich auf meine Arme und sah: Das Mädchen neben mir war fort!
Fahrig tastete ich das Kopfkissen ab, das Leintuch neben mir, und glaubte - zunächst ganz selbstverständlich - es fühle sich noch warm an, denn sicher war Annemarie nur in die Kabutze gegangen und käme gleich wieder. Jetzt würde sie ihre Jeans ausziehen und ihren Pullover. Und ich spürte, wie sich mein Körper nach der Berührung dieser Frau zu sehnen begann. Erst in der zweiten Hälfte der Nacht, so hatte sie es geheimnisvoll versprochen, wollte sie ihr Inkognito lüften. In der zweiten Hälfte der Nacht wirst du mich erkennen, hatte sie gesagt. Erkennen - welch ein Wort, und ich konnte es jetzt nur noch im biblischen Sinne verstehen: Verschmelzen von Mann und Frau. Eins werden. Eins sein. Alles in mir war Erwartung. Ich lauschte auf jedes kleine Geräusch. Ich versuchte, ihren Atem zu hören. Ihre Bewegungen. Das Hantieren mit einem Becher. Oder war es ein Kamm? Ein Flacon? Ich versuchte, ihren Duft einzuatmen. Aber vergeblich.
Allmählich tilgte die absolute Stille jede Vermutung, sie könne tatsächlich im Bad sein. Hastig stand ich auf und lief ganz leise ins Nachbarzimmer. Saß sie vielleicht im Fenster? Hatte sie sich in ihren Schlafsack zurückgezogen? Zaghaft klopfte ich an die Toilettentür. Nichts rührte sich. Zögernd öffnete ich die Tür. Aber der Raum war dunkel und leer.
Bestürzt drehte ich mich in alle Richtungen um und rief laut "Annemarie!", wieder und wieder. Machte überall Licht. Panik überfiel mich, als ich sah, dass all ihr Gepäck, der Koffer, die Tasche fort waren.
Eilig schlüpfte ich in meine Sachen und hetzte aus dem Haus. In großen Schritten lief ich den Berg hinunter. Versuchte, jemanden zu erkennen. Als ich den Wiesensteig bis zu den ersten Häusern überblicken konnte und sah, dass Annemarie dort nicht sein konnte, rannte ich wieder hinauf und auf die andere Seite der Schlucht. Angst überfiel mich, sie könne sich etwas angetan haben. Ich hastete den Weg bis hinunter in die Straßen, zum Hauptplatz, wo die Bushaltestelle war. Nirgendwo eine Spur. Zu Willi traute ich mich nicht hinein.
"Annemarie", sprach ich halblaut vor mich hin, "Du kannst mich doch jetzt nicht mehr verlassen. Du kannst doch so nicht von mir weggehen! Warum fliehst du vor mir, wenn du mich jahrelang gesucht hast?"
Atemlos raste ich wieder zur Burg hinauf. Hatte ich mich doch geirrt? War Annemarie da? Lag sie im Bett? Saß sie am Tisch? War sie nur in den Burghof gegangen? Voller Zweifel und zitternd am ganzen Körper öffnete ich die Tür. Alles war still. Alles war einsam. Verlassen! Leer! Nirgendwo eine Spur. Kein Zettel. Kein einziger Satz! Kein Abschiedswort! Nichts.
Ich nahm das Fernglas und verfolgte im Licht der aufbrechenden Morgenröte den Weg, den wir gestern gegangen waren. Alle Hoffnungen brachen in sich zusammen.
Ich hatte keine Adresse. Nicht einmal den Namen. Nur "I.v.D.". Ihre Andeutungen. Vage Hinweise auf Ereignisse in Frankfurt. Halluzinationen? Was blieb von der Wirklichkeit? Gab es den gestrigen Tag? Die nassen Bilder, die verwaschenen Blätter, sie steckten im Papierkorb. Die Blumen standen auf dem Tisch. Wo waren die beiden Weingläser aus der Fensternische? Als ob sie nie woanders gestanden hätten, starrten sie mich aus dem Wandschränkchen an. War ich verrückt? Hatte sie mich ver-rückt? Tränen schossen mir in die Augen. Kälte überfiel mich. Ich wollte schreien, schreien, schreien. Aber es war mir, als ersticke ich im gleichen Moment. Es würgte in mir. Abscheu brach in mir auf. Abscheu vor all den Dingen, die mich höhnend umstanden. Abscheu vor dem Blick hinaus, Abscheu vor der Mailandschaft. Alles höhnte mich an. Trieb ein lachhaftes Spiel mit mir. Ich hielt es nicht mehr aus!
Rasend packte ich alle Sachen zusammen. Das Nötigste nur, was ich noch brauchen würde. Ich floh zurück in die Stadt. Schon um sieben Uhr tauchte ich wieder unter all den normalen Menschen unter. In der Zivilisation. Sie musste mir Halt geben.
Später ließ ich meine Bücher holen. Ein paar von den alten Möbeln. Die Bilder und Manuskripte warf ich in einen Müllcontainer. Ich habe die Burg nie wieder gesehen.
Ist der Tod wirklich keine Frau?