Читать книгу Zwischen Lust und Flammenschwert - Werner Siegert - Страница 3
Die Anhalterin
ОглавлениеEr nahm nie jemanden mit. Nie. Das hatte er sich zum Prinzip gemacht. Früher ja. Da hatten die Anhalter oder Anhalterinnen noch Manieren. Sie fragten zumindest, ob sie rauchen dürften. Sie stellten sich mit Namen vor. Man konnte sich mit ihnen wenigstens noch über irgendetwas unterhalten. Aber seit dieser dummen Tucke, Studentin nach Berlin stand auf ihrem Pappschild, die ihm rücksichtslos das Auto voll gequalmt hatte, ja, das Auto eigentlich in Besitz genommen hatte, ihm mit ihrem Politgedusel in den Ohren gelegen und wie selbstverständlich Bayern 3 mit Rock und Techno auf Superlautstärke gestellt hatte, seither war er, wie er sagte, geheilt, geheilt - ein für allemal! Auch wenn so 'ne Type noch so hübsch anzusehen wäre.
Denn es hatte noch ein unschöne Szene gegeben. Natürlich war er in Streit mit ihr geraten. Hatte das Radio abgedreht und sich das Rauchen verbeten. Vorwürfe musste er sich anhören. Ganz schön zurückgeblieben - und so. Wahrscheinlich konservativ bis auf die Knochen, CSU-Wähler. Er war dann kurzerhand bei der nächsten Raststätte rausgefahren und hatte diese widerliche Person zum Aussteigen aufgefordert. Was sie nicht tun wollte. Warum denn eigentlich? Er habe ihr doch versprochen, sie bis vor Nürnberg mitzunehmen. Und bloß wegen des bisschen Rauchs. Schließlich hat sie laut fluchend sein Auto verlassen und ihm noch mit ihrer superqueren Sporttasche einen Kratzer in den Lack gezogen. 2000 Euro Reparatur.
Also aus Prinzip nicht. Und wegen der schlechten Erfahrungen.
Nun aber saß bereits seit der Ausfahrt München diese ältere Frau neben ihm. Ziemlich zerzaust. Blass. Ohne jegliches Make-up. In einem dünnen Gabardine-Mäntelchen, das sie trotz des warmen Frühsommertages nicht ablegen wollte. Mit nichts als einer Einkaufstasche. Was ihn hätte stutzig machen sollen; denn sie wollte nach Hannover. Nur so - mit einer Einkaufstasche? Höflich war sie, aber äußerst schweigsam. Und er fragte sich ständig, warum er seinen Prinzipien so mir nichts, dir nichts untreu geworden war.
War es, weil er sie als Frau etwa seines Alters eingeschätzt hatte? Wies sie Ähnlichkeit mit irgendeiner Person auf, die er als sympathisch in Erinnerung hatte? War es Mitleid? Angst vor Langeweile?
Gut - er hatte natürlich aufgrund des kleinen Gepäcks geglaubt, sie wolle nur bis zur nächsten Abfahrt mit. Es hätte aber sein können, dass sie einen größeren Koffer im hohen Gras abgestellt hatte.
Oder war es, dass eine ältere Frau (Dame? Er blickte zu ihr hinüber) am Rande der Autobahn eher Seltenheitswert hatte? Ältere sind doch auf Sicherheit aus. Auf Ordnung. Auf Wasmantutundnicht. Verarmt? Verzweifelt? Wäre das nicht eher ein Grund, sich nicht auf einen solchen Samariterdienst einzulassen? Jemanden ein-zu-lassen? Sich schließlich auch weiter einlassen zu müssen? Gar Verantwortung zu übernehmen? Übernehmen zu müssen?
Der erste Versuch, ein Gespräch zu beginnen, schlug fehl. Auf die übliche Wetter-Ouvertüre erntete er nur ein kurzes "Ja!" Später sagte sie ihm, sie sei ihm sehr dankbar, dass er sie ein Stück mitnähme. Aber sie sei kein gesprächiger Mensch. Er solle sich keine Mühe mit ihr geben. Vielleicht habe er sich was anderes erwartet. Verwandtschaft in Hannover? Freunde? Nein. Später, im Autobahn-Restaurant Ellwanger Berge, bestand sie darauf, ihren Kaffee, mehr wollte sie nicht, selber zu bezahlen.
Schade, dachte er sich. Wenn sie sich ein bisschen pflegen würde. Wenn sie sich wenigstens gekämmt hätte. Arm könne sie nicht sein. Das Kostüm von Lucia. Neue, dazu passende Schuhe. Und die kleine lederne Handtasche, aus der sie ein schmuckvolles Portemonnaie zog.
Übrigens: "Ich heiße Tiemann!"
"Raphael - angenehm!"
Eine Weile schauten sie den Kindern zu, die sich auf dem Spielplatz austobten.
"Schön haben die's hier! Schön - und so heiter!"
"Na ja, sie wissen halt nicht, was ihnen noch alles blüht!" meinte Frau Raphael. Oder Rafael. Oder so.
Schade, dachte er sich, dass sie kein Auge hat für die herrliche Landschaft. Für die blühenden Bäume. Für die dahin treibenden weißen Wölkchen. Für die Wälder. Die tiefen Täler unter den schier endlosen Brücken.
"Wir leben doch in einem wunderschönen Land! So recht, wie wir's früher geschmettert haben: Kein schöner Land in dieser Zeit ...."
Frau Raphael zupfte nur den Rand ihres Rockes wieder nach unten, der ein wenig hochgerutscht war.
"Ich möchte aussteigen!" bat sie schließlich. "Am nächsten Parkplatz oder so!"
"Aber Sie wollen doch nach Hannover. Da können Sie doch noch ein Stück weiter mitfahren. Oder behagt Ihnen irgendetwas nicht? Fahre ich zu schnell? Sind Sie ängstlich? Oder ist Ihnen nicht gut?"
"Nein, nein - damit hat das alles nichts zu tun. Es ist nur, ich weiß überhaupt nicht, wohin ich will. Was soll ich in Hannover? Das habe ich vorhin nur so gesagt. Weil Sie mich fragten, wohin ich mitgenommen werden wollte ...."
Da hatte er den Schlamassel. Er hätte sie nicht mitnehmen sollen. Nicht seine Prinzipien durchbrechen sollen. Nicht aus Mitleid. Nicht aus irgendeinem anderen Grund. Nie. Niemals. Vielleicht ist sie eine Irre? Irgendwo aus einer Anstalt entwichen?
Wenn man Parkplätze sucht, dann kommen keine. Schließlich aber doch. Mit WC, ein paar Holzbänken. Manche sogar mit Tischen. Und Mülltonnen.
"Sie wollen doch hier nicht wirklich aussteigen, Frau Raphael. Hier können Sie nicht bleiben."
"Ich geh' auf die andere Seite und fahre zurück!"
"Aber Sie können nicht auf die andere Seite gehen! Da kommen Sie ja nicht lebend rüber. Außerdem über die Leitplanke ... die sind hoch und mit scharfen Kanten. Nein, das ist völlig unmöglich!"
"Ich weiß sowieso nicht, wo ich hin will!" antwortete sie fast trotzig. "Warum machen Sie sich denn überhaupt Sorgen um mich. Ich kann Ihnen doch völlig egal sein."
"Nein, Sie sind mir ganz und gar nicht egal. Ich spüre doch, dass Sie verzweifelt sind. Dass Sie nicht ein noch aus wissen. Da kann ich Sie doch nicht auf einem einsamen Autobahn-Parkplatz allein zurücklassen."
Tiemann hatte es eilig. Einen Termin in Würzburg. Keine Zeit für ein mitfühlendes Gespräch. Für geduldige, neugierige und doch taktvolle Fragen.
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir sind bald in Würzburg. Da habe ich zu tun. Ich bringe Sie zum Bahnhof. Von dort geht fast jede Stunde ein Zug nach München. Oder nach Hannover. Oder nach wohin Sie wollen."
Die Frau war fertig. Fix und fertig. Kraftlos war sie auf der Bank in sich zusammengesunken. Er reichte ihr seinen Arm und geleitete sie wieder zum Auto.
"Dass Sie nicht glauben, ich sei verrückt oder durchgedreht, lieber Mann. Sie müssen ja annehmen, ich sei krank oder so. Nein, ich bin einfach weggelaufen. Weggelaufen von zuhause. Eigentlich wollte ich das gar nicht. Ich wollte nur Einkaufen gehen. Nur Einkaufen gehen. Zu ALDI und zu Tengelmann. Morgens hat mich mein Mann wieder so fertig gemacht. Er war wieder so schäbig zu mir. Ich hab' mir gedacht, ich halte es nicht mehr aus. Wie ich über die Straße will, hält da ein Auto an. Der Fahrer lässt die Scheibe runter und fragt mich, wie er am schnellsten zur Autobahn nach München käme. Da kam mir die Idee, einfach mitzufahren. "Da will ich auch gerade hin - aber mit der Bahn!" hörte ich mich plötzlich reden. So als ob nicht ich gesprochen hätte, sondern irgendein anderer Mensch. Natürlich machte er die Tür auf und lud mich ein. "Wenn Sie keine Angst vor mir haben, fahren Sie einfach mit!" sagte er. Und schon saß ich in seinem Auto.
Es geschieht ihm ganz recht, wenn ich nicht zurückkomme. Dann merkt er mal, was er an mir hat, habe ich mir gedacht. Zuerst fand ich das eine gute Idee. Es überkam mich wie ein Rausch: Endlich frei sein. Frei. Rausfahren. Wegfahren. Nicht fragen. Einfach fahren. Als wir so eine Stunde oder so unterwegs waren, dachte ich mir, ob wohl mein Mann unruhig würde. Quatsch, soll er doch. Nein, wenn schon, dann wollte ich ihm so richtig eins auswischen.
In München bin ich in die erstbeste Trambahn gestiegen und habe bis zur Endstation gelöst. Da stand dann auch gleich ein Bus. Ich muss wohl tatsächlich irgendwie berauscht gewesen sein. Ich wollte nur fahren, fahren, fahren. Nicht stehenbleiben. Nicht nachdenken. Fahren. Einfach fahren. Durch die Scheiben gucken und alles an mir vorüberziehen lassen ...."
Richtig gesprächig wurde sie plötzlich.
".... aber jetzt bin ich schon über fünf Stunden weg. Jetzt ist er sicher schon zur Polizei gegangen. Oder zu Nachbarn. Hat bei Bekannten angerufen. Meine Frau ist verschwunden. Hat sie jemand gesehen, wird er fragen. Vorhin, als Sie im Stau standen, da war mir, als wäre ganz plötzlich der Rausch verflogen. Von mir abgefallen. Da wurde mir klar, ich muss zurück. Ich kann ihn doch nicht so allein lassen. So mir nichts, dir nichts. Einkaufen gehen und dann nicht mehr wiederkommen. Männer gehen so weg. Abends zum Zigaretten-Automaten - und weg sind sie. Auf Nimmerwiedersehen."
"Sie könnten telefonieren!"
"Zu früh. Nein, er soll erst noch eine Weile zittern. Wenn er überhaupt zittert. Nur wegen der Ungewissheit. Wenn er wüsste, wo ich bin, so weit weg, Würzburg, mindestens ein paar Stunden, bis ich zurück bin, wär' er gleich bei seinem Flittchen. Toll, meine Frau ist weg. Sturmfreie Bude!"
Tiemann nannte ihr noch das Hotel, wo er sich gleich mit seinem Verleger treffen würde. Für den Fall der Fälle. Dann nahm sie ihre Einkaufstasche und verschwand im Bahnhof.
Was es so für Leute gibt, dachte er bei sich. Bis dass der Tod euch scheidet. Aber vorher durch den Vorhof der Hölle?