Читать книгу Zwischen Lust und Flammenschwert - Werner Siegert - Страница 5
Cappuccino oder nur Milchkaffee?
Оглавление"Ich soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!" hat er gesagt. Fröhlich und beschwingt nahm Frau Raphael vom Frühstücksraum Besitz. "Und schauen Sie mal, was ich gefunden hab'!"
Sie schwenkte triumphierend ihre Scheckkarte.
"Hatte ich verkramt in den Tiefen meiner Handtasche. Und bei Karin hebt immer noch keiner ab. Dabei habe ich Karl vorgeflunkert, ich könne mit Karin für eine Woche auf so eine Art Alm im Gebirge fahren. Bleib' doch, wo der Pfeffer wächst, war seine einzige Antwort. Nix von Polizei und so, Suchaktion. Was geht in einem solchen Mann vor?"
Tiemann wehrte sich gegen Vermutungen, die in ihm aufkeimten. Aber das Wort "Nervensäge" hätte beinahe die Schleusentore seines Mundes passiert. Es fiel nicht nur der Zensur zum Opfer, sondern auch gewissen Irritationen. Verdammt, so unübel erschien ihm die Frau heute morgen gar nicht. Jetzt, wo sie Lebensfreude ausstrahlte, gelöst war, die Selbstvorwürfe, etwas ganz und gar Unerlaubtes, Skandalöses gewagt zu haben, sich verflüchtigt zu haben schienen, da konnte er sich gegen das Gefühl nicht wehren, diese Raphael sei erstens doch eine ganz sympathische und überdies gebildete Person. Und zweitens sei sie ihm vom lieben Gott oder einer Muse geschickt worden.
Wie hatte sein Verleger Kerkhoff gestern mahnend zu ihm gesagt: Tiemann, schreiben Sie mal was für die reifere Generation, für die Senioren. Das ist ein Marktsegment, dem wir uns in Zukunft verstärkt widmen müssen. Ein Drittel der Kunden in den Buchhandlungen, das haben Untersuchung zu Tage gefördert, sind Menschen jenseits der Lebensmitte, insbesondere Frauen. Und er hatte ihm noch entgegnet, dazu fiele ihm so schnell nichts ein.
Sollte er sich einlassen? Sollte er ....? Keine Recherche könnte so ergiebig, so echt, so prall sein wie das eigene Erleben.
Raphaela, der Erzengel, saß bei ihm am Frühstückstisch. Greifbar nahe. Und sprudelnd. Aber diese Haare! Trug man das heute so? Gekämmt ungekämmt? Ungekämmt gekämmt? Haare waren für Tiemann sehr wichtig. Ein äußerst erotisches Element. Oft war er schon viele schnelle Schritte hinter einer Frau hergelaufen, die wunderschöne lange oder kunstvoll geflochtene Haare hatte. Er wollte sie dann von vorn sehen; denn er glaubte, die Erfahrung gemacht zu haben, dass Frauen, die ihre Haare pflegen und schmücken, sehr dem Eros zugeneigt seien. Samtschleifen waren für Tiemann beinahe das, was für andere Reizwäsche bedeutete. Spangen wollte er öffnen, um herrliche Katarakte von langen, seidenglänzenden Haaren zu entfesseln. Wenn ich mal wegen eines sexuellen Übergriffs ins Gefängnis geworfen werde, hatte er sich immer wieder gesagt, dann, weil ich die Haare einer wildfremden Frau in der S-Bahn zu streicheln versucht habe. Halte an dich! musste er sich oftmals selber mahnen.
Aber Raphaelas Haare waren ihm ein Gräuel. Wie konnte man nur!
"Nun, wo fahren wir heute hin?"
Diesen Satz konnte er nicht selber geformt haben. Der platzte so aus ihm heraus, als hätte ihn ein anderer - vorgefertigt - ihm auf die Zunge gelegt. Musste er sich nicht eben noch zügeln, das Wort "Nervensäge" nicht zwischen seinen Lippen durchzischeln zu lassen? Und jetzt diese Einladung? Tiemann, weißt du, auf was du dich da einlässt?
Durch den Körper von Frau Raphael schoss ein Blitz, ein Energieschub. So muss das Aussehen, wenn jemand von sich sagt: Ich war wie neugeboren!
"Heißt das, dass Sie mich nicht in Memmingen rausschmeißen? Dass ich mit Ihnen weiterfahren darf?"
Tiemann nickte, ein wenig erschrocken vor seiner eigenen Courage. Jetzt hatte er einmal Ja gesagt, da gab es kein Zurück mehr. Kerckhoff, Ihr Roman!!! Die ersten beiden Kapitel sind schon so gut wie fertig.
"Und? Wohin?"
"Darf ich unbescheiden sein? Dann - Italien! Toscana! Florenz! Siena!" Danach folgte ein Schwall italienischer Sätze, schwärmerische Begeisterung.
"Okay, dann zahlen wir und ab geht's!"
Tiemann studierte das Weib an seiner Seite; denn inzwischen war es Weib geworden. Nicht mehr die verhuschte Frau von gestern morgen. Das Wrack auf dem Rastplatz. Die Verzweifelte. Die von ihrer für sie bis dahin unvorstellbaren Freveltat Gezeichnete: Spontan in das Auto eines Fremden einsteigen und abhauen. Mit nichts als einer Einkaufstasche. Auf dem Weg zum ALDI oder Tengelmann ausbrechen. Mit dem Ziel der Ziellosigkeit. Raus aus dem Dasein der Strümpfestopferin, der Büglerin, der Kartoffelschälerin, der ALDI-Kundin. Der Britta-Gedemütigten, die vor dem Spiegel ihre erschlaffenden Brüste hochhebt. Jugend, Liebe, Wollust vorbei, vorbei, vorbei. Nur noch abwaschen, staubsaugen, Schuhe putzen. Einmal die Woche zum Kegeln. Damenkränzchen schon lange nicht mehr; denn natürlich wussten alle von Britta. Warum lässt du dir das gefallen. Dieses Schwein. Wehre dich doch. Wenn das der meine wäre! kUnd jetzt: Auf Abenteuer! Statt Gemüseeinkauf direkt nach Würzburg. Mit 'nem Schriftsteller oder so ins Blaue. Nachtspaziergang an der Erms oder Iller. Frühstück mit Einladung nach Italien. Aber wo krieg' ich frische Unterwäsche her? Für ALDI und Tengelmann musste es ja nicht die beste sein. Gottseidank, wenigstens das Lucia-Kostüm. Aber pastellgrün schmutzt so leicht.
Tiemann phantasierte sich ganz schön tief in Seele und Alltag seiner Beifahrerin hinein, während draußen die sonnenreiche Allgäuer Landschaft vorbeiflitzte. Kurs: Bodensee!
"Wie haben Sie denn eigentlich Ihren Mann mal kennengelernt? Irgendwie muss er Ihnen doch damals imponiert haben?"
"Imponiert ist das richtige Wort. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich als Dolmetscherin viel auf Messen zum Standpersonal gehörte. Wann immer Italiener, Franzosen oder Spanier auftauchten, waren wir gefragt. Karl gehörte auch zum Standpersonal eines solchen Ausstellers. Wir waren beide jung und knusprig. Er sieben Jahre älter, spielte den weltgewandten Charmeur. So ist er zwar nicht in den Pool, aber auf mich hereingefallen. Oder ich auf ihn. Und wie das so geht ... Pille gab es damals noch nicht ... zack, war ich schwanger. Und das hieß damals wie selbstverständlich: heiraten. Wie sagt man doch: Zwanzig Sekunden Lust - zwanzig Jahre Frust. Na ja, ganz so schlimm war es nicht. Wir hatten schöne Jahre miteinander. Fast jedes Jahr eine tolle Reise, wobei ihm und mir natürlich meine Sprachkenntnisse zugute kamen. Wenn es die Kinder zuließen, habe ich auch nebenher in meinem Beruf gearbeitet. Aber wie es so ist: Irgendwann ist der Schmelz weg. Erst hatte ich Vermutungen, dann wurde Gewissheit draus, dass Karl mich betrügt. Anfangs hat mich das total fertiggemacht. Wenn die Kinder nicht gewesen wären, hätte ich mich scheiden lassen. Dann bin ich meine eigenen Wege gegangen."
"Eigene Wege?"
"Na ja, so kleine Racheakte. Wie du mir, so ich dir! Wie gesagt, ich war ja auch immer mal wieder unterwegs, in schönen Hotels, in bester Gesellschaft. Wenn man noch jünger ist, dann will man sich nicht so schnell damit abfinden, dass nichts mehr ist mit der Liebe. Erst habe ich mich sehr schwergetan mit dem Seitensprung. Habe tage- und nächtelang an meinem schlechten Gewissen gelitten. Noch dazu, weil es ziemlich schale Erlebnisse waren. Es gibt sehr wenige wirklich gute Liebhaber. Die meisten sind schweinische Egoisten. Vielleicht habe ich gestern spontan "Hannover" als Ziel genannt, weil ich dort mal einen wunderbaren Galan kennengelernt habe. Der hat mich eine ganze Nacht, einen herrlichen Tag und noch eine tolle Nacht in ein anderes Land entführt, von dem ich bis dato nichts, aber auch gar nichts ahnte. Danach habe ich auch diese Sprache gesprochen. Mein Pech: Er war Venezolaner. Und wir haben uns nie wiedergesehen. Keine Briefe. Keine Telefonate. Es war wie ein Märchen. Und erstmalig hatte ich überhaupt kein schlechtes Gewissen. Aber mit Karl lief danach gar nichts mehr. Für Würstchen mit Kartoffelsalat war ich nicht mehr zu haben."
Würstchen mit Kartoffelsalat. Wäre eigentlich ein guter Titel für den neuen Roman, sinnierte Tiemann vor sich hin. Raphaela - das hätte ich dir nicht zugetraut. Würstchen mit Kartoffelsalat.
"Und für was wären Sie zu haben - ich meine rein theoretisch? Die Formulierung gefällt mir. Was wäre denn das Gegenstück, sozusagen die venezolanische Feinschmeckerplatte?"
"Och Gott, Herr Tiemann, das war einmal. Das ist so lange her. Da spielt sich nichts mehr ab. Keine Austern, keine Spargelspitzen. Mir fällt dazu wirklich nichts mehr ein. Vielleicht ist das bei Frauen anders als bei Männern. Irgendwann ist der Tisch abgegessen, das Geschirr gespült und das war's dann. Man weiß sich zu beherrschen. Was bringt es schon, wenn einem köstliche Düfte durch die Nase ziehen, aber die Teller werden von den Jüngeren abgeschleckt. Da bleibt nichts als Trauer. Ich muss mich ja schon hüten, einen Cappuccino zu bestellen!"
"Wie das?"
"Ach, na ja, Sie lassen sich hier eine Sünde nach der anderen von mir beichten, und von Ihnen weiß ich so gut wie nichts. Na ja, der Cappuccino. Das war ein lustiger Italiener. Amore, amore, amore. Auch so ein Leckermäulchen - und dann, wenn die Tasse leer ist, arrividerci! Später hat er mir ein Gedicht geschickt, an meine Adresse zuhause. Wenn das mein Mann gelesen hätte! Irgendwo hab' ich es noch.
An der Landesgrenze durchlief beide ein mulmiges Gefühl! Der Beamte nahm den Ausweis von Frau Raphael mit in sein Glashaus. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder heraus kam und ihr wortlos das Ding zurückgab. Doch keine Vermisstenmeldung? Wann prüft man schon das Grenzdokument einer älteren Dame? In Begleitung eines älteren Herren?
"Übrigens - ich heiße Renate. Vielleicht sollten wir mal den Raphael begraben!"
Tiemann kam diese Geschichte zu sehr in Fahrt. Natürlich blieb ihm nichts anderes übrig als seinen Thomas zu offenbaren.
"Thomas Tiemann - Te-Te! Ein Namen wie ein Stabreim?"
"Ja, so zeichne ich meine Artikel, mit TT! Aber ich mag den Thomas nicht. Es geht auch mit Tiemann und du."
Was sollte sich schon noch aus dieser Story entwickeln? Ein untreuer Durchschnittsehemann, eine ebenfalls nicht treue Mama. Ein bisschen Cappuccino, Austern statt Würstchen mit Kartoffelsalat. Das gibt nicht allzuviel her. Auch nicht, wenn sich Frau Renate hintergründig lächelnd in Chur einen Cappuccino bestellt. Aus einem Nebenfach ihres Portemonnaies holte sie dann einen ziemlich abgegriffenen, tausendfach zerknitterten Zettel hervor:
Cappuccinodu wollüstiges Getränk!Geschlürft in der quirligen Lust der Piazza!Musik, Farben, Temperament sprühen wie Springbrunnen der Wonne!Begehrende Frauen mit wiegenden Schritten!Begehrliche Männer mit lüsternen Blicken!Alles flimmert - auch in mir flimmertungestillt Sehnsucht.Der weiße Schaum mit der verführerischen braunen Haube,wie die Knospe einer weißen Mädchenbrust, überzuckert –mit der zärtlich tastenden Zungenspitze genascht ....das Vorspiel erst!Dann gleitet die Zunge in die Tiefe des Alabastergefäßes,dorthin, wo die sanfte Bitternis unbeschreiblichen Genusses lockt ....weißer Schaum des süßen Verlangens quillt zwischenlüsternen Lippen, rinnt hinab in den hitzigen Schlund ....Niemand weiß, was ich fühle und sinne,während ich unschuldig, langsam, genussvollmeinen Cappuccino, seine lustvolle Süßein mich hineinschlürfeund irgendwo, in einer Orchideenschluchtüppiger Tau quillt.Cappuccino will ich sein für ihn, den Geliebten!Meine weißen, zarten Alabasterhaubenmit ihren braunen Gipfelnsoll er zuckern und wonnevollden Schnee zwischen seinen Lippen zerschmelzen lassen.Tiefer soll er seine Zunge in mein schönstes Gefäß hinabsenken.Er soll das süßherbe Getränk kosten bis zum letzten Tropfen!Aber mich nicht lechzen lassen!Auch ich will lustvollen Schaum -überzuckert mit zuckender Lust.Cappuccino!TT
Tiemann lächelte still in sich hinein.
"Dem müssen Sie - oder du, da kann ich mich noch nicht so schnell dran gewöhnen, also, da musst du ihm aber eine wirklich schöne Nacht geschenkt haben, wenn er so talentiert in die Tasten greift."
"Na ja, aber dann Arrividerci! Eben nur ein Cappuccino! Viel Schaum, etwas bittere Süße - und dann doch nur Milchkaffee!"
Frau Raphael verabschiedete sich zu einigen Einkäufen. Schließlich kann man ein pastellgrünes Lucia-Kostüm nicht eine Woche lang tragen. Und für da drunter musste Jelmoli wohl auch etwas parat haben.
Als sie sich wieder trafen, hatte Tiemann ein paar Buchhandlungen abgeklappert, hatte vergeblich nach seinen eigenen Büchern gefragt. Zuletzt konnte er nicht widerstehen, zwei kleine antiquarische Stiche "Durchquerung der wilden, tosenden Schlucht der Via Mala" zu kaufen. Für sein Hobby: Geschichte der Alpenübergänge.
Genoss er es eigentlich, endlich mal allein - ohne die Raphaelin - zu sein? Ja und nein. Ohne sie wäre er wahrscheinlich in irgendeinem Alpendorf hängengeblieben, faul, und er hätte gewartet, bis eine Kerckhoff-genehme Story wie eine Flaumfeder auf ihn herabgeschwebt wäre. So hatte er mit seiner gereiften Anhalterin eine Geschichte "wia aus dem richtig'n Leb'n".
Seine Siesta auf der Bank am Domplatz wurde dann auch jäh beendet von der fröhlichen Renate, bepackt mit drei prallen Kaufhaus-Tüten und der Erklärung, sie hätte ja auch Zahnpasta und Haarwaschmittel einkaufen müssen. Und so weiter.
Drei pralle Einkaufstüten voll? Hoffentlich hatte da drin auch ein Kamm Platz!