Читать книгу Der Fluch der Etrusker oder die Jagd nach dem Goldenen Geparden - Werner Siegert - Страница 4
Vereinsamt in Kensington
ОглавлениеDie Pension, vor deren Tür Budd ihn absetzte, war eine von vielen in den ruhigeren Seitenstraßen von Kensington. Er liebte diesen Teil Londons und alles kam ihm bekannt vor. Budd verabschiedete sich, dann betrat Elsterhorst den kleinen Vorraum. In diesen Pensionen war alles klein. Auch die Zimmer. Man könnte denken, auf einem Schiff zu sein, so schmal waren die Gänge. Im zweiten Stock öffnete die junge Frau, die ihn begrüßt hatte, eine Tür zu so einem Raum, der einer Kabine glich. Ein schmales Bett, eine Art Schreibtisch, der fast ganz von der Teemaschine eingenommen wurde, und eine Duschnische, die so eng war, dass er sich fragte, wie Leute, die nicht so schlank waren wie er, damit zurecht kamen, ohne dauernd anzustoßen. Es gab weder Fernseher noch Telefon.
Elsterhorst fragte sich, was wohl aus seinem Koffer geworden war, der ja auf dem geplanten Weg nach London Victoria Station transportiert worden war, wo er ihn hätte in Empfang nehmen sollen. Er griff in seine Jackentasche und stellte fest, dass auch sein Handy verschwunden war.
Detective Inspector (DI) Budd hatte ihm mitgeteilt, dass er erst am nächsten Morgen beim CID erwartet würde. Eigenartig, dass man ihn zwei Tage früher hatte anreisen lassen. Da er nichts auszupacken hatte und auch niemanden erwartete, machte sich Elsterhorst auf den Weg, um irgendwo etwas zu essen und die Straßen und Orte wieder zu sehen, die er von früheren Reisen so gut kannte. Elsterhorst war nie ein geselliger Mensch. Dennoch hatte er jetzt das Bedürfnis, mit irgendjemandem über seine Erlebnisse zu sprechen.
Nein, nicht mit irgendjemandem! Warum hörte er nicht auf, sich etwas vorzumachen? Es war doch Judith, an die er dachte. Und sie war in London. Was, wenn sie jetzt zufällig hier vorbei käme, ihn sähe und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuliefe, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte, wenn er sie als ihr Beschützer zur Schule gebracht hatte, obwohl er nur wenig älter war? Ja, er hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen, als sie nach England ging, ohne sich zu verabschieden. Doch dann hatte sie ihn plötzlich in seiner Münchner Wohnung geradezu überfallen, als er mitten in dem Fall steckte, der auch in der internationalen Presse für Aufsehen gesorgt hatte: „Spurlos“ - Der Fall der vier spurlos verschwundenen Witwen. (Ebenfalls als eBook erhältlich.)
Judith war selbst in die Sache verwickelt gewesen, aber sie war an seiner Seite geblieben bis zum bitteren Ende. Und dann war sie abermals wortlos abgereist. Einfach so. Und wer war schuld? Er, Elsterhorst, der sich benommen hatte wie ein ungezogener Schuljunge. Er verscheuchte die Gedanken an sie. Morgen würde er vielleicht die Gelegenheit nutzen, über alles mit ihr zu reden. Aber was in aller Welt sollte er mit Judith anfangen?
Er fand ein kleines italienisches Restaurant, das ganz in der Nähe seiner Pension lag. Besonders attraktiv sah er nicht aus in der Kleidung, die er seit seiner Abreise in München trug. Er würde sich einige Sachen kaufen müssen, für den Fall ....
Italienische Restaurants sind doch überall gleich, dachte er, als er an einem freien Tisch Platz nahm. Kein Wunder also, dass er sich sogleich wieder daran erinnerte, wie er mit Judith „beim Italiener“ saß und sie gemeinsam zu Abend aßen. Jetzt fühlte er sich völlig allein. Er verzehrte seine Pizza, trank dazu ein deutsches Bier, das auf der Karte stand. Judith hatte seinerzeit Rotwein getrunken. Judith, immer wieder Judith! Verstockt verließ er das Lokal unnötig schnell und verweigerte sogar den Espresso, den der Padrone ihm anbot.
Ja, nun würde er die Kensington Road Richtung Hyde Park entlang schlendern, sich die Bilder ansehen, die auf beiden Seiten ausgestellt waren und sich dann eine öffentliche Telefonzelle suchen.
Wozu denn? Er kannte doch hier niemand. Was natürlich nicht stimmte.
Kensington Road fand er unverändert. Er sah sich die Bilder an, übersah geflissentlich einen Maler, der ihm anbot, ihn zu porträtieren und blieb dann an einem Stand stehen, an dem Becher mit Namen verkauft wurden. Jennifer, Judy, Joy las er. Dann ging er weiter zum Park, setzte sich auf eine Bank und sah den Schwänen zu.
Jogger, Pulks von Müßiggängern und einsame Spaziergänger schlenderten an ihm vorbei. Warum nur versuchte er, allen ins Gesicht zu sehen? Elsterhorst, du bist ein hoffnungsloser Fall, beschimpfte er sich innerlich selbst und wandte sich dann in Richtung Marble Arch, wo er einige gute Geschäfte vermutete.
Als er den Rückweg antrat, hatte sich sein Aussehen verändert. Er trug eine elegante Sporthose, ein modisches Hemd und einen Anorak. In seiner Pension fragte er nach dem Telefonbuch.
„Schwertfeger“? Davon konnte es doch nicht allzu viele geben. Beim dritten Mal hatte er Glück.
„Ja, bitte?“
Dass er ihre Stimme sofort erkannte, ärgerte ihn mehr, als dass er sich darüber freute.
„Judith? Hier ist Maurice. Ich bin hier! In London! Ich wollte dich fragen, ob ....“
„Maurice?“ Es klang weder überrascht noch erfreut.
„Bitte, leg nicht auf. Können wir uns treffen?“
Hätte er sich hören können, er hätte selbst nicht geglaubt, dass er es sei, der da redete, aufgeregt, unsicher, abgehackt. Er verachtete sich zutiefst, und noch inbrünstiger, als er spürte, wie sein Herz klopfte, als Judith sagte:
„Maurice? Ach wirklich? Du hast Glück. Ich habe ausnahmsweise morgen Abend nichts vor.“
„Wo? Judith, bist du noch da? Ich weiß nicht, ob ich morgen ....“
„Ja, ja. Ist schon gut Maurice. Also heute. 20:00 Uhr.“
Sie nannte ein kleines Lokal in Soho.
„Ich komme!“
Elsterhorst hörte noch, wie Judith lachte und dann auflegte. War sie etwa nicht allein?
Obwohl es noch zu früh war, machte er sich sofort auf den Weg. Warum auch nicht? Es gab doch viel zu sehen in Soho. Er schlenderte durch die Gassen, schaute sich ohne großes Interesse die zum Teil bizarren Auslagen an, und sah alle zehn Minuten auf die Uhr. Dabei widmete er allen vorübergehenden Frauen große Aufmerksamkeit. Es hätte ja immerhin sein können, dass sich auch Judith zu früh auf den Weg gemacht hatte.
Den Eingang zu dem verabredeten Lokal ließ er bei alledem nicht aus den Augen. Schließlich betrat er das Restaurant. Der Chinese bot ihm einen kleinen Tisch am Fenster an und brachte den Begrüßungstee. Ein Taxi hielt. Elsterhorst erhob sich halb von seinem Sitz, aber nur ein behäbiges Ehepaar schälte sich aus dem Wagen, so unverkennbar deutsch, dass er sich sofort auf sein „Spanisch“ besann. Wie oft er auf seine Armbanduhr schaute! Endlich rückten die Zeiger auf 20 Uhr. Aber noch immer ließ Judith auf sich warten. Dabei war sie doch sonst immer pünktlich? Elsterhorst rutsche auf seinem Stuhl nervös hin und her. 20:15 Uhr. Noch immer keine Judith. Hatte sie sich doch auf morgen eingerichtet? Gab es irgendwo einen Stau? War was mit der Underground? Es ging auf 20:30 Uhr. Der Kellner umkreiste ihn mehrmals mit der Speisekarte. Er winkte immer wieder ab.
Um 21:00 Uhr hatte sein Ärger den Höhepunkt erreicht. Sie hat mich versetzt, dachte er. Keine sehr angemessene Rache für das bisschen Unaufmerksamkeit, das er sich damals hatte zu Schulden kommen lassen. Hatte sie nicht gelacht, als sie dieser Verabredung zugestimmte?
Er ging zur Theke und bat um das Telefon. Judiths Nummer hatte er sich zum Glück gemerkt.
Mehrmals ließ er das Telefon bis zu einer gefühlten Unendlichkeit läuten. Nichts! Sie hebt nicht ab. Amüsiert sich wahrscheinlich mit einem Freund über den blöden Maurice.
Schließlich gab er dem Kellner ein Trinkgeld, hielt ein Taxi an und fuhr zurück in seine Pension.