Читать книгу The Walking Dead: Taifun - Wesley Chu, Уэсли Чу - Страница 9

4 FREMDE IN EINEM FREMDEN LAND

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Elena wehrte sich so lange sie konnte gegen Bo. Sie schlug und kratzte und schubste, aber Bo war unnachgiebig wie ein Felsbrocken und zog sie beständig von dem kaputten Dachfenster weg. Als sie sich beinahe aus seinem Griff gewunden hätte, hob er sie einfach wie einen Sack Reis hoch, warf sie sich über die Schulter und ging weiter.

»Lass mich runter! Wir müssen zu ihm gehen, Arschloch! Lass mich runter, húndàn!« Arschloch und húndàn bedeutete dasselbe, aber so hatte sie anfangs Mandarin gelernt. »Wir können ihn doch nicht im Stich lassen.« Sie stieß eine Reihe Flüche auf Mandarin und Englisch aus.

Bo setzte sie schließlich ab, hielt sie aber weiter am Mantel fest. »Er ist so gut wie tot, Elena. Wenn du zurückgehst, wirst du ebenfalls sterben.«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie kämpfte gegen sie an. Elena hatte sich seit dem ersten Monat der Epidemie, in dem sie fast durchgängig geweint hatte, keine Tränen mehr erlaubt. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie nicht länger in Selbstmitleid versinken würde, da Tränen niemandem etwas brachten. Sie würde erst wieder weinen, wenn sie ihre Familie wiedersah – dann aber vor Freude.

Sie atmete tief durch und murmelte: »Ich bin wieder okay.«

Bo ließ sie nicht los. »Du versprichst mir, dass du nicht zurückgehst?«

Sie nickte und sagte leise: »Das verspreche ich, Arschloch.«

»Du versprichst mir, dass du mich nicht noch mal schlägst?«

Sie betrachtete die roten Striemen, die sich über seine Wange zogen. »Das mit deinem Gesicht tut mir leid.«

Er zuckte mit den Schultern und ließ sie los. Er wirkte nachdenklich. Was ist ein ›Arschloch‹?«

»Das heißt ›guter Freund‹«, erwiderte Elena, ohne mit der Wimper zu zucken.

Er nickte. »Dann bin ich ein sehr gutes Arschloch.«

Sie setzte sich auf die Dachkante und warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie schlug Bos Hand zur Seite, als sie sich wieder ihrem Mantel näherte.

Bo kniete sich neben sie und nahm ihre Arme in seine großen Hände. Er wurde ernst. An die Stelle des fröhlichen, langsam redenden Trottels trat jemand, der nüchtern und umsichtig war. »Hör zu, xiăomèi. Ich hatte eine große Familie in Liaoning: eine Frau, Kinder, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten und unzählige Neffen und Nichten. Als die Provinz fiel, starb die Hälfte von ihnen in der ersten Woche. Die andere Hälfte starb, weil sie versuchte, die zu retten, die nicht mehr zu retten waren.« Er schüttelte sie sanft. »Zhu ist so gut wie tot. Wenn wir ihn ehren wollen, dann, indem wir überleben.«

»Und wenn ihm die Flucht gelingt?«

»Dann wird er zu uns finden. Zu dir.«

»Aber …«

Ein lautes Kreischen zerriss die Stille, gefolgt von einem Knall. Beides kam aus der Werkstatt. Elena und Bo sahen sich verblüfft an, dann liefen sie ein Stück zurück und beobachteten, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und die Straße entlangraste. Elena zuckte zusammen, als er durch die jiāngshī pflügte wie eine Kugel durch die Kegel auf einer Kegelbahn und eine Häuserwand streifte.

Sie zupfte an Bos Ärmel. »Komm schon.«


Es war nicht schwer, Zhu zu folgen. Sie mussten sich nur an die Schneise der Verwüstung und die Reifenspuren halten. Sie liefen über die Dächer, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten, und dann über eine Mauer, die am Dorfrand endete. Elena entdeckte den nach vorne geneigten Lieferwagen in einem Reisfeld.

Das war der leichte Teil, aber den Lieferwagen zu erreichen erwies sich als schwieriger. In dem Reisfeld, das sie durchqueren mussten, hielten sich Dutzende jiāngshī auf. Sie konnten sich auf dem offenen Gelände nirgendwo verstecken und auch nicht auf etwas klettern oder unter etwas hindurchkriechen. Das bedeutete, dass der einige Hundert Meter lange Weg zum Lieferwagen extrem gefährlich sein würde. Dachten sie zumindest.

Elena und Bo fanden jedoch rasch heraus, dass sich das Reisfeld in einer Senke befand, in der sich das Wasser sammelte. Das Wasser reichte Elena bis zu den Knien und es fiel ihr schwer, durch den Schlamm zu waten. Den Toten fiel das jedoch noch schwerer, sie steckten praktisch fest. Deshalb war es recht einfach, ihnen aus dem Weg zu gehen, auch wenn Elena und Bo auf jiāngshī achten mussten, die sie nicht sahen, weil sie bereits im Wasser versunken waren. Sie brauchten eine Stunde, um bis zum Lieferwagen vorzudringen, weil Elena bei jedem Schritt mit ihrem Speer im Schlamm vor ihnen stochern musste.

Bis sie den Lieferwagen erreichten, war es bereits später Vormittag. Sie hatten viel länger als erhofft gebraucht. Als sie auf dem trockenen Teil des Felds ankamen, lief Elena sofort los. Sie bemerkte einen jiāngshī, der in der Nähe des Lieferwagens im Schlamm feststeckte und sinnlos auf der Stelle lief. Er drehte sich mit wütendem Stöhnen zu Elena um und landete prompt im Schlamm. Sie stieß ihm die Speerspitze in den Nacken, als sie und Bo an ihm vorbeigingen.

Elenas Hoffnungen zerschlugen sich, als Bo die Fahrertür öffnete und niemanden im Wagen vorfand. Sie entdeckten frisches Blut an der Windschutzscheibe und auf den Sitzen. Elena ging um den Lieferwagen herum und fluchte über das knöcheltiefe Wasser. Wäre es etwas niedriger gewesen, hätten sie Zhus Fußspuren folgen können.

»Wenigstens lebt er noch«, sagte Bo und warf einen Blick unter den Lieferwagen. »Das ist doch schon was.«

Elena verdrängte ihre Enttäuschung. Ja, das war schon was. Und definitiv besser, als Zhu tot vorzufinden – oder schlimmer noch untot. Die Vorstellung, ihn umbringen zu müssen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er lebte und das war das Wichtigste. Wahrscheinlich war er nicht einmal schwer verletzt, denn er hatte den Unfallort ja zu Fuß verlassen.

»Sein Seesack ist weg«, sagte sie.

»Gut! Er ist bestimmt schon auf dem Weg zum Lichtblick.«

Elenas Laune besserte sich. Das ergab Sinn. Sie hatten von der Werkstatt bis zu diesem Feld über zwei Stunden gebraucht. Wieso hätte Zhu so lange warten sollen? Sie hatten sich vorsichtig durch das Dorf geschlichen, damit die jiāngshī sie nicht bemerkten. Zhu hatte nicht wissen können, dass sie auf der Suche nach ihm waren. An seiner Stelle wäre sie auch schon auf dem Weg nach Hause.

Elena warf einen Blick zum Horizont im Osten. »Er folgt bestimmt den Fahnen. Wenn wir uns beeilen, können wir ihn einholen.«

Bo sah zur Sonne empor, die sich hinter dichten Quellwolken verbarg. »Sieht so aus, als würde es bald wieder regnen, und der Tag ist auch schon halb vorbei. Vielleicht sollten wir den Regen im Lieferwagen abwarten. Wir können ja direkt morgen früh aufbrechen.«

Elena schüttelte den Kopf. »Nein, wir brechen jetzt auf. Es ist noch früh genug. Wir können heute Abend schon in der Zuflucht sein.«

Sie duldete keinen Widerspruch. Zwar wusste sie, dass sie ein wenig impulsiv reagierte, aber Zhu konnte nicht widersprechen und Bo war nicht gerade ein Streithahn. Obwohl Zhu mit allen Fähigkeiten ausgestattet war, die man zum Überleben in der Wildnis benötigte, gefiel ihr die Vorstellung, dass er da draußen allein unterwegs war, nicht.

Sie brachen sofort in Richtung Lichtblick auf. Elena führte sie aus dem Reisfeld und in eine schmale Schlucht, die sich an der einzigen aus dem Dorf führenden Straße entlangzog. Normalerweise hätten sie je nach Wetter rund drei Tage für die Reise zum Lichtblick gebraucht, aber sie glaubte, dass sie es, wenn sie schnell vorankamen, schon bis zum nächsten Abend schaffen würden. Zum einen, weil sie hoffte, dass sie Zhu einholen würden, zum anderen, weil in ihren Taschen so viel Beute steckte, dass sie nur noch Nahrung und Wasser für einen Tag dabeihatten.

Sie benutzten die Straßen als Wegweiser, achteten aber darauf, ihnen ansonsten nicht zu nah zu kommen. Auf fast allen Autobahnen, Straßen und Wegen, die Bevölkerungszentren miteinander verbunden hatten, drängten sich verlassene Fahrzeuge und erinnerten an das Verkehrschaos, das hier geherrscht hatte. In den Wagen, auf den Straßen und in deren unmittelbarer Nähe wimmelte es von jiāngshī.

Elena und Bo kamen den Straßen nur näher als fünfzig Meter, wenn sie sie überqueren mussten. Normalerweise suchten sie sich eine alte Stromleitung oder benutzten einen der Abwassertunnel, die unter den Straßen hindurchführten. Deshalb hatte ihr Windteam, nachdem es die Fahnenwege verlassen hatte, so lange für die Reise nach Fongyuan gebraucht. Manchmal hatte es einen ganzen Tag gedauert, bis sie eine Stelle fanden, an der sie eine Straße ungefährdet überqueren konnten. Zum Glück hatten sie die harte Arbeit schon auf dem Hinweg hinter sich gebracht und mussten jetzt nur noch den Fahnen folgen, die sie zuvor angebracht hatten.

Sie entfernten sich von der Straße und wateten durch ein überflutetes Feld, während die Sonne sich dem Horizont zuneigte. Das Gras hier reichte Elena bis über den Kopf, deshalb konnte sie nur bis zum Ende ihres kurzen Speers sehen. Bei solchen Gelegenheiten wünschte sie sich, sie hätte eine richtige Waffe besessen und nicht nur einen angespitzten Besenstiel. Zhu hatte ihr angeboten, ihr mit den gemeinsam erarbeiteten Punkten ein langes Messer zu kaufen, aber Elena waren Nahrung und Kleidung wichtiger als eine bessere Methode zum Töten der jiāngshī. Außerdem fühlte sie sich im Nahkampf nicht wohl. Der Fernkampf mit Pfeil und Bogen lag ihr mehr.

Sie hätten sich leicht verlaufen können, da Zhu sie normalerweise führte. Zum Glück fanden sie die erste, an einem Ast baumelnde gelbe Fahne, bevor es dunkel wurde. Wenn sie die nicht vor dem Abend gefunden hätten, wären sie in große Schwierigkeiten geraten.

Im Lichtblick gab es Dutzende Windteams. Sie sorgten für den Erhalt des Lagers und die Ernährung seiner Bewohner. In den wenigen Monaten, seit sie mit der Beutebeschaffung angefangen hatten, hatten sie ein System entwickelt, mit dem sie häufig benutzte Wege kennzeichneten, um eine Karte der Gegend rund um den Lichtblick zu erstellen. Dadurch hatten sie die Todesfälle reduziert und es half ihnen auch bei der Erkundung weiter entfernter Ziele.

Sie folgten den Fahnen durch das Sumpfland, dieses Labyrinth aus Schilfrohr und feuchten Dreckklumpen. Das Wasser kräuselte sich im Wind und das Gras wogte hin und her. Als die Abenddämmerung hereinbrach, regte sich auch das Wild. Elena verlor langsam die Konzentration. Man konnte nicht ununterbrochen wachsam sein. Die Tatsache, dass die markierten Wege schon oft von jiāngshī gesäubert worden waren, beruhigte sie, denn das bedeutete, dass sie sich ihrem Zuhause näherten.

Bo tippte ihr auf die Schulter und zeigte auf einen jiāngshī, der sich hoffnungslos im Gestrüpp verfangen hatte. Der arme Kerl steckte so tief im Wasser, dass sein graues, aufgedunsenes Fleisch ihm praktisch von den Knochen fiel. Elena zielte kurz mit dem Speer und stach zu. Die scharfe Spitze drang durch das Auge in den Schädel ein und das so mühelos wie in eine überreife Melone.

Die gelben Fahnen führten sie aus dem Sumpfland über einen zerfurchten Hügel und an einer Felswand hinab. Dabei umgingen sie einige bekannte jiāngshī-Gruppen. Elena und Bo erreichten das Ende der felsigen Hügel und gelangten über eine lange Hängebrücke in einen dichten Wald. Unter sich hörten sie das Stöhnen der Toten zwischen den Bäumen. Sie erklommen einen riesigen, uralten Baum und setzten ihre Reise mithilfe von Seilen fort, die Äste und Bäume miteinander verbanden. Jiāngshī aus dem Nachbardorf Duogai waren in den Wald eingedrungen. Sie und das dichte Unterholz sorgten dafür, dass man ihn nicht länger auf dem Boden durchqueren konnte. Also hatte sich Hengyen, der Anführer der Windteams, eine andere Strategie ausgedacht. Die Hälfte der Windteams und ein Großteil der noch verbliebenen Militärgarnison hatten zwei Wochen für die Planung und Konstruktion der Himmelsbrücke benötigt. Sie hatten hohe Verluste erlitten, aber nun konnten die Windteams auch im Westen nach Beute suchen. Das war essenziell, denn der Osten, wo die Großstädte lagen, war praktisch unpassierbar.

Nach einigen Meilen gingen Elena und Bo durch einen Abwasserkanal unter einer Schnellstraße hindurch. Auf der anderen Seite hielt Elena inne und warf einen Blick zum Horizont. Das schwächer werdende Sonnenlicht fiel auf den Nebel, der die weit entfernten grünen Berge bedeckte. Es war ein atemberaubender Anblick, der Elena einen Moment lang die Tragödien vergessen ließ, von denen sie umgeben war. China wurde erneut zu diesem magischen Ort, in den sie sich während eines Kurses über chinesische Mythologie verliebt hatte.

Hunan galt mit ihren üppigen Urwäldern, hohen Bergen und den zahlreichen sich dahinschlängelnden Flüssen als eine der schönsten Provinzen des Landes. Sie spielte auch eine wichtige Rolle in der chinesischen Geschichte. Sie war die Bühne, auf der sich viele Legenden über tragische Helden, mystische Kreaturen und himmlische Wesen zugetragen hatten, und hier fand auch das berühmte Drachenbootfest statt. Außerdem waren der Philosoph Wang Fuzhi, der Künstler Qi Baishi und Mao Tse-tung, der Gründer der chinesischen Volksrepublik, hier geboren worden.

Elena hatte zwischen der Schule und dem Jurastudium an der Universität von Texas unbedingt ein Jahr in China verbringen wollen. Sie hatte große Pläne geschmiedet, hatte Mandarin fließend sprechen und für internationale Konzerne in Asien arbeiten wollen, doch diese Träume hatten sich nun zerschlagen oder waren zumindest erst einmal auf Halde gelegt worden. Elena wusste nicht genau, ob dies das Ende der Welt war, aber es kam ihr definitiv so vor. Sie hätte bei ihrer Familie sein sollen, doch stattdessen war sie auf der anderen Seite der Welt, weit weg von ihren Verwandten und allem, was ihr vertraut war.

Sie fragte sich erneut, wie ihre Eltern zu Hause mit all dem zurechtkamen. Elena hatte seit den ersten Tagen der Epidemie nichts mehr aus den USA gehört. Als Berichte über die Epidemie in den Nachrichten aufgekommen waren, hatte sie ihre Mutter angerufen. Doch die hatte sich keine Sorgen gemacht, sondern Elena nur versichert, dass es der ganzen Familie gut ginge und alle frei von Symptomen wären.

»Wir können es kaum erwarten, bis du wieder zu Hause bist«, hatte ihre Mutter als Letztes zu ihr gesagt. »Wir vermissen dich so sehr, Liebling.«

Danach hatte Elena nichts mehr von ihrer Familie gehört. Kurz darauf waren die Telefonleitungen und das Internet ausgefallen und damit war auch der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. Wenn es zu Hause ähnlich aussah wie in China, befürchtete Elena allerdings das Schlimmste.

Sie hasste es, sich so hilflos zu fühlen. Solange ein Ozean zwischen ihr und ihrer Familie lag, konnte sie ihr nicht helfen. Sie konnte noch nicht einmal herausfinden, was ihr widerfahren war. Die Ungewissheit war für Elena das Schlimmste an dieser Tortur.

»Denk positiv, Mädchen«, murmelte sie. Ihre Familie hatte die Stadt bestimmt rechtzeitig verlassen und saß die Epidemie in ihrer Blockhütte in Santa Fe aus. Im schlimmsten Fall hatte sie sich in Marble Falls, auf der Ranch von Elenas Onkel Braff verkrochen. Und vielleicht war es den USA ja gelungen, die Seuche schnell in den Griff zu bekommen. Vielleicht wurde sogar schon an einem Heilmittel gearbeitet. Wie dem auch sei, Elena wollte unbedingt nach Hause. Sie musste nur noch ein wenig länger überleben, entweder bis sie gerettet wurde oder bis sie auf eigene Faust nach Hause reisen konnte.

Elena und Bo erreichten das kleine Dorf Duogai bei Sonnenuntergang und betraten es hastig, während die letzten orangeroten Strahlen am Horizont verschwanden. Duogai war einst ein geschäftiges Fischerdorf gewesen. Es war einzigartig, denn die Hälfte der Häuser stand in einem kleinen See. Nun waren die Straßen, die in das Dorf führten, so wie überall mit verlassenen Fahrzeugen verstopft, zwischen denen sich jiāngshī drängten.

Elena blieb ihrer Windteamausbildung treu. Wären sie und Bo auch nur zwanzig Minuten später eingetroffen, hätten sie wahrscheinlich auf einem Baum übernachtet. Es war auch so schon knapp. Sie folgten den gelben Fahnen, die sie weit von der Straße entfernt zu einem Schuppen hinter einer Häuserreihe führten. Sie stiegen auf einen Müllcontainer, dann auf das Dach des Schuppens und liefen über die Hausdächer bis zum See.

Das letzte Licht der untergegangenen Sonne tauchte die Landschaft in ein wütendes Rostrot. In wenigen Minuten würde es dunkel sein und dann wäre der Weg über die schrägen Dächer mit ihren Rohren und zerbrochenen Ziegeln zu gefährlich. Wenn sie stolperten, würden sie im trüben grünen Wasser landen, was einem Todesurteil gleichkam. Die Windteams hatten von einigen Überlebenden aus Duogai erfahren, dass fast die Hälfte der Bevölkerung in Booten auf den See hinausgefahren war, um die Seuche dort auszusitzen. Natürlich hatte der Tod auch sie ereilt und nun stand das halbe Dorf am Grund des flachen Sees. Sie würden jeden zu sich hinabziehen, der hineinfiel, und in einen der ihren verwandeln.

Elena und Bo erreichten das vorletzte Haus, das mitten im See stand, kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Sie ließ sich als Erste vom Dach, sprang auf den Balkon und betrat das Wohnzimmer. Dies war einer der sichereren Rastplätze, die von den Windteams benutzt wurden. Da das Haus auf allen Seiten von Wasser umgeben war, konnte keine jiāngshī- Horde eindringen. Die Fenster und Türen hatte man verbarrikadiert, also mussten Elena und Bo ausnahmsweise nicht ständig über ihre Schulter sehen. Außerhalb des Lichtblicks stellten verzweifelte Überlebende eine ebenso große Gefahr dar wie die lebenden Toten. Vielleicht sogar eine größere, denn die Lebenden waren wankelmütig.

Elena durchsuchte rasch die beiden Zimmer und kehrte dann ein wenig enttäuscht zurück. Mehr als ein kleiner Teil von ihr hatte geglaubt, dass sie und Bo bei ihrer Ankunft einen halb betrunkenen Zhu vorfinden würden, der an einem prasselnden Feuer saß und Pflaumenwein trank, den er irgendwo aufgetrieben hatte. Um sicherzugehen, suchte Elena noch die Wände nach einem gezeichneten Schwein ab. Im Anfangsstadium der Epidemie, bevor sie den Lichtblick erreicht hatten, hatten sie sich eine Methode überlegt, mit der sie unbemerkt miteinander kommunizieren konnten. Zhus Sternzeichen war das Schwein, Elenas das Pferd. Wenn sie sich Nachrichten zukommen lassen wollten, zeichneten sie einfach ihr Sternzeichen an eine Wand. Doch Elena fand im Haus keine Schweine, also kratzte sie mit ihrem kleinen Taschenmesser die groben Umrisse eines Pferds in die Wand.

Bo zündete ein Feuer in der Kochstelle an und dann ließen sie sich nieder. Schweigend aßen sie ihr letztes Essen und teilten sich eine kleine Feldflasche Trinkwasser. Zhus Abwesenheit lastete so schwer auf ihnen, dass sie den ganzen Tag über kaum miteinander gesprochen hatten.

Elena versuchte, sie beide von ihm abzulenken. »Bo, du sagst immer, dass du aus dem Norden stammst. Von wo genau?«

»Aus der Provinz Liaoning«, antwortete er, während er langsam auf seinem mickrigen Abendessen kaute. »Nahe der nordkoreanischen Grenze.«

»Wie bist du in Hunan gelandet?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Durch die Arbeit. Ich sollte Schichtleiter werden, aber ich habe mich geweigert, meinen Vorgesetzten zu bestechen, also haben sie mich neben Zhu ans Fließband gestellt.«

»Was habt ihr hergestellt?«

»Was sie uns sagten. Zuletzt billige Kopfhörerimitate. Zhu und ich mussten die Buchstaben laminieren. Dabei kam er auf die Idee, Englisch zu lernen, damit er mehr Geld verdienen konnte. Er dachte sogar darüber nach, eines Tages als Geschäftsmann nach Amerika zu gehen.« Er grinste breit. »Man könnte sagen, dass ich euch zusammengebracht habe, weil ich ihn gedrängt habe, einen Lehrer zu suchen, xiăomèi

Elena erwiderte sein Lächeln, allerdings etwas gezwungen. Wenn Bo sich damit brüstete, sie und Zhu verkuppelt zu haben, dann war er auch mitverantwortlich dafür, dass sie in China festsaß. Nein, das war ihnen beiden gegenüber ungerecht. Ihr Schicksal war das Ergebnis von Entscheidungen, die sie getroffen, und Fehlern, die sie begangen hatte. Sie selbst war dafür verantwortlich.

Die Unterhaltung dauerte nicht lange. Elena fielen schon bald die Augen zu, Erschöpfung hüllte ihr Bewusstsein ein. Sie wusste nicht, weshalb sie sich gegen den Schlaf wehrte. Sie rollte den Schlafsack aus, den sie sich normalerweise mit Zhu teilte. Sie kniete sich davor hin und hielt einen Moment inne. Der leere Schlafsack sah einsam aus.

Bevor sie hineinkroch, betete sie. Sie war seit Ende der Schulzeit nicht mehr besonders religiös gewesen, aber in Zeiten wie diesen überkam sie ein gewisses spirituelles Bedürfnis. Elena blieb auf den Knien hocken und faltete die Hände.

»Lieber Gott, hi, ich wollte mich nur mal melden. Wir haben uns in letzter Zeit nicht so oft unterhalten, wie ich es mir gewünscht hätte, aber du weißt ja, wie verrückt es hier zugeht. Ich bin aber immer noch da. Ich kämpfe immer noch und das verdanke ich dir.

Ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe. Zhu ist irgendwo da draußen, aber wir wissen nicht, wo. Vielleicht ist er verletzt, vielleicht Schlimmeres. Du hast bestimmt gerade ziemlich viel zu tun, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du ein bisschen auf ihn achten würdest. Er glaubt zwar nicht an dich, aber er ist ein wirklich guter Kerl.« Sie hielt inne und fuhr dann mit tränenerstickter Stimme fort: »Ich habe vielleicht niemanden mehr außer ihm. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen würde.«

Sie verschränkte die Hände noch fester und grub die Fingernägel in ihre Haut. »Es würde mir auch wahnsinnig viel bedeuten, wenn du dich um Mom, Dad und Robbie kümmern könntest. Ich weiß nicht, wie Mom mit all dem zurechtkommt. Sie ist immer so ordentlich, aber die ganze Welt versinkt im Chaos. Hoffentlich treibt sie Dad nicht in den Wahnsinn.« Ihr leises Lachen verwandelte sich in ein Schluchzen. »Und du weißt ja, dass Dad immer alles richten will. Ich hoffe, dass du ihn in deiner Weisheit vor Gefahren bewahrst und ihn davon abhältst, zu viel zu machen. Überleben reicht. Und bitte pass auf Robbie, den kleinen Dummkopf, auf. Lass ihn keine dämlichen Risiken eingehen. Er ist noch ein Kind. Wir werden das durchstehen und schon bald wieder zusammen sein. Danke. Im Namen Jesu, amen.« Elena sah zur Seite. »Und noch was. Ich weiß, dass ich dich um viele Gefallen bitte, aber achte auch auf Bo. Er hat ein gutes Herz und schon zu viel verloren.«

Ihr letztes Gebet hing eine Weile in der Luft, bevor es sich wie dünne Nebelschwaden verflüchtigte. Elena atmete langsam aus und lauschte der Stille, die wieder vom Zimmer Besitz ergriffen hatte. Es war so dunkel, dass sie nicht einmal die Decke sehen konnte. Elena hatte gehofft, dass das Gebet ihre Stimmung verbessern würde. Sie hatte es ernst gemeint, aber sie fühlte sich trotzdem innerlich leer und diese Leere lastete schwer auf ihr. Sie wollte unbedingt wieder an Gott glauben und versuchte verzweifelt, ihm ihr Herz zu öffnen, aber dass Menschen von den Toten auferstanden und die Lebenden umbrachten, erleichterte ihr das nicht gerade. Aber schaden konnte es auch nicht, denn sie brauchte Hilfe. Nicht nur um zu überleben, sondern auch um zu verhindern, dass ihre Seele in Hoffnungslosigkeit versank.

Der abgenutzte Schlafsack war normalerweise so eng wie ein Kokon, sogar ein bisschen klaustrophobisch. Doch nun hatte Elena zu viel Platz darin und vermisste Zhu umso mehr. Sie warf sich eine Weile hin und her und war immer noch wach, als Bo sein Buch beiseitelegte. Sie waren zu lange aufgeblieben und würden am Morgen dafür bezahlen. Sie starrte die Decke an und lauschte dem Wasser, das unter ihr gegen die Stelzen schwappte. Etwas, vermutlich ein Boot oder eine Planke, schlug rhythmisch gegen die Holzbalken unter dem Haus. Elena drehte sich zum zehnten Mal um und versuchte, die Gedanken an die Realität, in der sie festsaß, zu verdrängen. Sie war in einem fremden Land gefangen. Tausende Meilen von zu Hause entfernt. Umgeben von Tod und Verfall.

Sie versuchte, ihre Stimmung zu heben, indem sie an Dinge dachte, die sie glücklich machten: sich auf dem Boot ihres Vaters zu sonnen, ihrer Mutter beim Tischdecken zu helfen, Schlagzeuger in der Kirchenband zu sein, im Sommer in Camp Longhorn zu arbeiten und freitagabends zum Highschool-Football zu gehen. Sie zeltete wieder mit ihrem Vater und Robbie und watete auf der Jagd nach Tauben durch den Knaus Spring. Sie musste den Tauben immer den Hals umdrehen, wenn Robbie sie nicht richtig traf. Diese Erinnerungen sorgten dafür, dass sie geistig gesund blieb und nicht in Verzweiflung versank.

Bevor ihr Bewusstsein ins Nichts glitt, erinnerte sie sich noch an einen Abend mit Zhu, den sie einen Monat vor der Epidemie in ihrem Lieblingsrestaurant in Changsha verbracht hatten. Sie hatten einander gegenüber an einem Tisch gesessen, Händchen gehalten und sich mit Tränen in den Augen angesehen. Elena hatte spontan und von Liebe motiviert ihr Flugticket aus der Tasche gezogen und es zerrissen.

Und dann hatte sie die schicksalhaften Worte gesagt, die selbst im Schlaf Wut, Schuldgefühle und Bedauern in ihr auslösten. »Ich kann den Flug umbuchen. Ich bleibe noch bis zum Ende des Sommers.«

Doch nun lag Elena in diesem kleinen Holzhaus über einem tödlichen See und wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers, sie hätte sich anders entschieden.

The Walking Dead: Taifun

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