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I. Tänzer werden – Tänzer sein Tanzen – ein weites Feld
Оглавление»Es gibt tausend Arten von Tanz, tausend Arten von Tänzern und tausend Arten von Produktionen«, stellt die Tänzerin Etoile Chaville mit Blick auf die professionelle Tanzlandschaft fest. Und formuliert damit, warum es ein geradezu aussichtsloses Unterfangen darstellt, den Beruf ›Tänzer/Tänzerin‹ mit seinen Aufgaben, Voraussetzungen und der dazugehörigen Ausbildung eindeutig zu definieren. Tanz hat heutzutage derart viele Facetten, dass detaillierte Beschreibungen höchstens für konkrete Tanztechniken oder Stile einzelner Choreographen gelingen.
Bis in die späten 1980er-Jahre hinein (und in manchen Broschüren der Agentur für Arbeit leider noch heute) wurde Bühnentanz an deutschen Theatern mit Ballett gleichgesetzt. Alle anderen Tanzformen waren ein »aus der Reihe Tanzen«, wie es ein Berufskundebuch aus dieser Zeit in seiner Kapitelüberschrift zu modernem Tanz, Tanztheater, Musical und dem experimentellen Tanz der entstehenden freien Szene formuliert. Das hat sich mittlerweile geändert: Unterschiedliche Tanztechniken und Arbeitsweisen haben Einzug in die Theater und die Tanzausbildung gehalten, die Gattungen sind vielfältiger und durchlässiger geworden.
Mit professionellem Tanzen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten ist im deutschsprachigen Raum zunächst einmal an den öffentlich subventionierten Stadt- und Staatstheatern möglich, die neben (neo)klassischem und zeitgenössischem Ballett – das dort nach wie vor fast überall als Trainingsbasis dient – zunehmend auch modernen und zeitgenössischen Tanz sowie Tanztheater zeigen. Daneben existiert die freie Szene mit ihren freien Kompanien, Einzelkünstlern und Projekten, die sich mit Hilfe von öffentlichen Fördertöpfen, privaten Sponsoren und Unternehmern, Koproduktionsnetzwerken, Auftritten und Gastspielen finanziert. Hier lassen sich alle denkbaren Tanzformen finden: vom hochvirtuosen modernen und zeitgenössischen Tanz über experimentelle Performance-Formate hin zu den vielfältigen Ethno-Tanz- und Street-Dance-Arten. Bezahlte Jobs für Tänzer mit Hintergrund im Jazz, Hip-Hop, Show-, Musical-, Stepp- oder Gesellschaftstanz bietet besonders der privatwirtschaftliche Sektor: sei es auf privaten Bühnen, bei Galaveranstaltungen und Shows, in der Musik- und Eventbranche, auf Kreuzfahrtschiffen, in Diskotheken, in der Werbung oder im Fernsehen.
Die Tanzlandschaft lebt vom kontinuierlichen Technik-Mix: nicht nur von der Vielfalt nebeneinander bestehender Techniken, sondern auch von deren Verschmelzung. Mal werden einzelne Elemente zur Weiterentwicklung des eigenen Stils aufgegriffen, mal prallen Techniken aufeinander: So vermischen sich etwa Jazz und Kampfsport, afrikanischer Tanz und Modern Dance, Kontaktimprovisation und Tango oder Breakdance und Ballett. Auch sind die Grenzen zu anderen Künsten durchlässig, und Improvisationstechniken aus den Bereichen Schauspiel und Physical Theatre, Gesang, Sprache usw. werden in den Tanz integriert.
Wer heute Tänzer werden möchte, tut gut daran, verschiedene Techniken zu erproben und sich aus der Fülle der Möglichkeiten das auszusuchen, was zu seinen körperlichen Voraussetzungen, seinen Bewegungsvorlieben und ästhetischen Idealen passt. Denn jede Technik verlangt unterschiedliche Bewegungsqualitäten, die dem einen mehr, dem anderen weniger liegen: Fühle ich mich wohl, wenn ich möglichst lange in der Luft schwebe, oder ziehe ich meine Energie aus dem Boden, mag ich harte, gebrochene Bewegungen oder lieber weiche, ineinanderfließende?
Darüber hinaus ist jede Art von Tanz in eine eigene ›Tanzkultur‹ eingebettet, mit der sich der angehende Tänzer identifizieren können sollte. Dazu gehören die jeweilige Ästhetik und das darin transportierte Körperbild, der musikalische Rahmen, das zugrunde liegende Konzept und dessen historische, gesellschaftliche und politische Dimensionen, aber auch das jeweilige Publikum und die entsprechenden Aufführungsorte. Den Zuschauer im Opernhaus, den Besucher des trendigen Clubs und das beim Battle mitfiebernde Break-Community-Mitglied trennen in vielerlei Hinsicht Welten.
Ebenso vielfältig und individuell wie das weite Feld ›Tanz‹ sind auch Werdegang und Berufsalltag von Tänzern. Daher wäre es verfehlt, den einen ›richtigen‹, erfolgversprechenden Weg in den Beruf nachzeichnen zu wollen oder allgemeingültige Fakten eines ›typischen‹ Tänzeralltags aufzulisten. Um dennoch einen Eindruck von diesem Beruf zu vermitteln, werden im Folgenden fünf verschiedene Karrieren geschildert. Sie beruhen auf Gesprächen mit angehenden, aktiven und ehemaligen Tänzerinnen und Tänzern unterschiedlicher Sparten. Da gibt es zum einen die ehemalige Solotänzerin einer großen Ballettkompanie, die die Veränderung der klassischen Szene in den letzten Jahren hautnah erfährt; dann die Ballettschülerin, für die Tanz zwar alles bedeutet, die ihn aber aus guten Gründen trotzdem nicht zum Beruf macht. Es folgt die Erzählung eines Tänzers, der in zwei Welten zu Hause ist: Zunächst tanzte er in klassischen Kompanien, bevor er in die freie zeitgenössische Szene wechselte. Danach erhält eine Tanzstudentin das Wort, die nach langer Aufnahmeprüfungstournee mit ihrer zeitgenössischen Ausbildung in die freie, experimentelle Szene strebt, und schließlich der frisch engagierte Tänzer einer mittelgroßen, modernen Stadttheaterkompanie, der weiterhin auf der Suche nach dem passenden Weg ist. Die Beispiele sind repräsentativ, und es werden darin Merkmale des Tänzerdaseins angesprochen, die auch von anderen Gesprächspartnern dieses Buches erwähnt wurden. Sie geben Einblick in die unterschiedlichen Sparten, in denen der Großteil der Tänzer im deutschsprachigen Raum professionell unterwegs ist.