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Malqata: Glanz des Aton, Haus des Jubels

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Es war noch früh am Morgen als Ani erwachte, kaum hatte sich der erste, sanfte Schimmer des Aton gezeigt. Eine Amsel hatte sich in Pharaos Garten ihr Revier eingerichtet und tirilierte ihre Freude am Leben in die sterbende Nacht. Ani meinte, zugleich auch einen Hauch von Wehmut zu hören, mit dem sie dem Zuendegehenden ihr Abschiedslied sang. Auch einige Spatzen hatten in den dichten Hecken reichlich Gelegenheit gefunden, um ihre Nester zu bauen. Sie zwitscherten aufgeregt in Erwartung des neuen Tages und tobten ausgelassen durchs dichte Blattwerk, das ihnen die Schönheitsliebe Pharaos geschenkt hatte.

Siebzig Tage lebte er nun schon hier im Palast des Guten Gottes und Ani fragte sich, wo all die Tage geblieben waren. Schien es ihm doch so, als sei es gestern erst gewesen, als er zum ersten Mal die Wunder des Palastes mit offenem Mund bestaunt hatte. Wenn er allerdings darüber nachdachte, was alles in jenen siebzig Tagen geschehen war, was er gelernt und erfahren hatte, was ihm alles, anfangs neu und ungewohnt, inzwischen wohlvertraut geworden war, dann mochte er kaum glauben, dass es nur jene überschaubare Anzahl an Tagen war, die sein neues Leben bislang gedauerte hat.

Es war noch frisch, ja, kühl, so früh am Morgen. Also warf sich Ani den bunten Mantel aus Wolle über, den ihm die Große Königliche Gemahlin Teje vor Wochen hatte schenken lassen, nachdem sie ihn eines Abends fröstelnd auf ihrer Terrasse erlebt hatte. Das fremdartige Kleidungsstück kam aus dem fernen Hattuscha, wo sich gerade, wie man berichtete, ein neuer König an die Macht putschte. Ein Ort mehr auf der Welt also, den es galt, nicht aus den Augen zu verlieren.

Ani war ein wenig bang gewesen vor diesem Tag, denn heute würde er seinen einbalsamierten Vater in einem prächtigen Mumiensarg abholen, den die königlichen Werkstätten nach seinen Anweisungen ausgeführt hatten. Er würde die Mundöffnungszeremonie an ihm vollziehen und ihn schließlich in einem Felsengrab bestatten, das ein in Ungnade gefallener Beamter des Königs nach seiner Verbannung zurückgelassen hatte. Glücklicherweise war in letzter Zeit kein Mitglied der königlichen Familie oder des Harems verstorben, so dass die Handwerker Zeit und Muße hatten, Anis Bestellung auch auszuführen. Lediglich der Auftrag des Kronprinzen Thutmosis für einen Katzensarkophag hatte Vorrang.

Gleich am zweiten Tag, den er in der Residenz des Guten Gottes verbringen durfte, hatte ihn Amenhotep zu Sobekmose geführt, dem Schatzmeister und Hüter der Truhen Pharaos. Amenhotep ließ Ani drei Armreifen aus massivem Gold und drei ebensolche Ringe mit dem Namen des Guten Gottes anlegen, damit er, wie Amenhotep zwinkernd anmerkte, auch immer schön „flüssig“ sei. Ani war zunächst ganz verstört, mit diesem für alle sichtbaren Reichtum herumlaufen zu sollen. Doch wie sein Freund ihm prophezeit hatte, der während all der Tage nicht müde geworden war, seine Vorhersage ständig zu wiederholen: Er hatte sich schnell daran gewöhnt. Und nicht nur daran.

Ani musste lächeln, als er sich erinnerte, wie er, nicht um den Preis seines Auftrags wissend, dem Vorsteher der königlichen Fayencewerkstätten einen jener Armreife gab. Sollte er doch dafür so viele blau glasierte Uschebtis für seinen verstorbenen Vater fertigen wie nur irgend möglich. Mit seinem Vater im Felsengrab bestattet, würden sie ihm wenigstens im Jenseits die harte Landarbeit abnehmen. Als vor etlichen Tagen an der Tür zu Amenhoteps Wohnung geklopft wurde und Subira öffnete, hallte ihr Entsetzensschrei durch den ganzen Palast. Hunderte und Aberhunderte von blauen Uschebtis waren in mindestens einem Dutzend Kisten angeliefert und vor Amenhoteps Tür abgestellt worden. Amenhotep war derart belustigt darüber, dass er die Geschichte immer wieder erzählte, so dass inzwischen jedermann im Palast wusste, dass Anis Vater der faulste Verstorbene von ganz Ägypten war: Bis in alle Ewigkeit würde er keinen Handschlag mehr tun müssen, standen doch genügend Uschebtis bereit, um ihm jede nur denkbare Arbeit abzunehmen. Zunächst war es Ani fürchterlich peinlich gewesen, aber mittlerweile freute er sich einfach nur, dass er seinem Vater wenigstens im Jenseits ein bequemes Fortleben ermöglichen konnte.

Was hatte er nicht alles lernen müssen! Manchen Abend war Ani regelrecht verzweifelt, weil er gar nicht mehr wusste, wo er überhaupt noch Platz in seinem Kopf finden sollte, um all die Dinge zu verstauen, die es dort unterzubringen galt. Am meisten hatte er sich über seine rechte Hand geärgert. Wie oft hatte er ihr angedroht, sie abzuschlagen, weil sie einfach seinen Befehlen nicht gehorchte und statt heiliger Hieroglyphen ein übles Gekrakel auf den Papyrus schmierte. Glücklicherweise kam er mit der hieratischen Schrift sehr viel besser zurecht, machte aber immer noch viele Fehler, die Amenhotep nicht müde wurde, zu verbessern. Der vom Guten Gott angeordnete Unterricht über die Rechte und Pflichten des Pharao war schnell zu Anis Lieblingsfach geworden. Sicherlich, so musste er sich eingestehen, hatte es auch daran gelegen, dass neben Thutmosis und Amenhotep auch Nofretete auf eigenen Wunsch daran teilnahm. Wie sehr bewunderte er dieses Mädchen, das nicht nur schön, sondern auch noch ausnehmend klug war. Dabei war sie so natürlich, so unaffektiert und ohne jeden Dünkel, dass sie schnell zu einer richtigen Freundin geworden war. Selbst Mentuhotep, der Lehrer, ließ sich mehr als einmal zu der Bemerkung hinreißen, dass man sich keinerlei Sorgen um die Zukunft Ägyptens machen müsse, solange Nofretete als Große königliche Gemahlin das Schicksal des Landes mitbestimmte. Eifersüchtig zog Thutmosis jedes Mal ein missmutiges Gesicht, anstatt sich über die zukünftige Unterstützung durch seine Braut zu freuen. Offenbar wollte er als künftiger Herrscher den Ruhm lieber für sich allein beanspruchen. Ani konnte seinen Freund Amenhotep nur zu gut verstehen, dass der Nofretete fast wie eine Göttin verehrte. Wie oft war es während des Unterrichts geschehen, dass sich beide bei Diskussionen, die sich um die Zukunft des Landes drehten, gegenseitig in eine Art heiliger Erregung redeten. Sie hatten dieselben Träume und Visionen, Wünsche und Ziele. Und es tat Ani in der Seele weh, mit ansehen zu müssen, wie die beiden, die so gut zueinander passten, gezwungen waren, nur wie Schwager und Schwägerin Umgang zu haben. Wie gut konnte er ihr Herzweh nachvollziehen, denn sie wussten ja, dass sie ihre Zuneigung zueinander niemals würden leben können.

Aber auch er hatte Ähnliches erfahren müssen. Vor kurzem erst hatte ihn Merit-amun wieder einmal des Morgens mit ihrer Feder geweckt. Als er die Augen aufschlug und in ihr liebes, so herzlich vor Wiedersehensfreude lächelndes Gesicht sah, wusste er, dass es Augenblicke wie diese waren, die sein jetziges Leben erst wirklich glücklich machten. All der Luxus, all das Gold und all die Schönheit, die ihn umgaben, waren nichts gegen einen einzigen Blick Merit-amuns. Er hatte Amenhotep gefragt, ob es gestattet sei, eine Dienerin zu ehelichen. „Nicht in der königlichen Familie und auch nicht bei Hofe“, war seine knappe Antwort. Amenhotep hatte ihm anschließend erklärt, dass Heiraten unter Stand ein überaus heikles Thema bei Hofe sei und man besser alles vermied, um das Gespräch darauf zu bringen. Insbesondere seine Mutter Teje hörte überhaupt nicht gerne darüber, hatte sie doch in jungen Jahren erfahren müssen, was es bedeutet, als Bürgerliche einen Vertreter des Hochadels zu ehelichen. Außerdem, so behauptete Amenhotep, warteten die Amun-Priester nur darauf, üble Gerüchte in die Welt zu setzen. Fast hatte Ani sich mit Amenhotep darüber gestritten, so, wie sie es während des Unterrichts häufig taten, um aus den unterschiedlichen Meinungen eine Weisheit herauszufinden, die für alle annehmbar und nachvollziehbar war. Doch als Ani gerade anheben wollte, seine Argumente vorzutragen, versteinerte Amenhoteps Gesicht. „Ich will es so“, war alles, was er dazu sagte und damit war für ihn das Thema erledigt.

Seither lag ein Schatten auf Anis Herz, denn Merit-amun wollte sich ihm keinesfalls gegen den Willen des Guten Gottes hingeben. Und er wollte sie keinesfalls zu etwas verleiten, was sie später einmal bereuen könnte - ob zu Recht oder auch nicht. So schwer ihm dies auch manches Mal fiel. Es gab Augenblicke in denen sie sich ganz nah waren und in denen es nur allzu selbstverständlich gewesen wäre, wenn sie einander zärtlich berührt hätten.

Merit-amun hatte nach und nach ein wenig mehr von ihrem Leben erzählt. Ein Bauernkind, wie Ani, das eines Tages während des Opet-Festes vom Vorsteher der Diener angesprochen und sogleich mitgenommen wurde. Ihre Eltern waren froh, einen Esser weniger durchbringen zu müssen; ein Mädchen noch dazu, das später einmal eine Mitgift benötigen würde. So waren sie mit der Abfindung des Palastes offenbar mehr als zufrieden. Es schnürte Ani jedes Mal die Kehle zu, wenn sie davon erzählte, meinte er doch heraushören zu können, wie sehr sie der Verrat der Eltern verletzt hatte. Nun sah Merit-amun es als Sinn ihres Lebens an, den göttlichen Menschen im Palast zu Nutzen und zu Diensten zu sein und sie mit ihrer Arbeit ein wenig glücklicher zu machen. „Genauso wie du auch“, hatte sie Ani ins Gesicht gesagt. Und er wusste, dass sie Recht hatte.

Tags darauf hatte er Amenhotep abermals angesprochen. „Was ist, wenn ein Diener eine Dienerin heiraten möchte?“ Dann müsse dies der Vorsteher der Diener zunächst genehmigen, kam als Antwort. Und als Amenhotep ihn eines weiteren Tags darauf von Rechmire zum „Freund des Gottessohnes“ ernennen ließ, wusste Ani, dass Amenhotep alles tun würde, um ihn nicht an einen anderen Menschen zu verlieren. Denn nun war Ani von Stand, so dass die Heirat mit einer Dienerin gänzlich ausgeschlossen war. Vielleicht war es ja auch einfach nur Neid, überlegte Ani, was Amenhotep so handeln ließ. Warum sollte der Diener bekommen, was der Herr nicht haben durfte? Tief in seinem Innersten hätte Ani seinem Herrn solche Überlegungen durchaus zugetraut. Doch vielleicht war er selbst ja auch nur ein gemeiner Mensch, der anderen seine eigenen Schlechtigkeiten unterstellte? Was schließlich außer Grübeln, traurigen Gedanken und Ratlosigkeit zurückblieb, war ein tiefes Schuldgefühl, seinem Herrn wahrscheinlich Unrecht getan zu haben.

Der Titel „Freund des Gottessohnes“ hatte immerhin den Vorteil, dass Ani sich von nun an völlig frei im Palast bewegen konnte - mit Ausnahme des Harems selbstverständlich. Ani gehörte also nun zum Machtzentrum des Reiches, wenn auch nur an unterster Stelle. Denn der Titel, so klangvoll er auch war, autorisierte ihn zu gar nichts. Spöttisch nannten ihn die etwa gleich alten Beamtenanwärter „Spielzeug des Gottessohnes“, was ihn mehr kränkte, als er sich einzugestehen bereit war. Noch vor siebzig Tagen hatte er nicht einmal gewusst, wo er schlafen und was er essen würde. Heute würde er seinen armen, erschlagenen Vater in einem prächtigen Grab in der Nähe der großen Könige bestatten, ausgestattet für eine Ewigkeit voller Wohlergehen. Für den Abend waren er und Amenhotep auf die Terrasse des Guten Gottes bestellt. Dann würde man ihm wohl sagen, ob er sich während jener siebzig Tage bewährt habe. Er kuschelte sich in Tejes Decke und schloss zuversichtlich die Augen. Lange blieb er so sitzen, bis ein erster Sonnenstrahl ihn an der Nase kitzelte. Er blinzelte und wollte schon niesen als er in Merit-amuns strahlende Augen sah. „Du bist schöner als die Sonne und zärtlicher als ihr Licht“, sagte er ganz verzaubert. Merit-amun wollte etwas entgegnen und hatte schon den Mund geöffnet, als sie sich stattdessen vor ihm niederkniete, sich tief verneigte, schließlich aufstand und wortlos ging.

Die Muße des frühen Morgens war schnell dahin. Denn Amenhotep platzte wieder einmal vor der vereinbarten Zeit herein, weil er keinerlei Lust verspürte, auf irgendjemanden oder irgendetwas zu warten. Wenn er jetzt noch in die Hände klatscht und „Na, los, los!“ ruft, dachte Ani mürrisch …

„Bleib sitzen da draußen!“ Amenhotep stand in der Tür zum Garten. „Das sieht ja allerliebst aus, wie du da in deine bunte Wolldecke aus Hattuscha gemummelt in der ersten Sonne des Tages sitzt.“ Natürlich stand Ani sogleich auf, verhedderte sich aber derart in seiner Decke, dass er zwischen vornüber fallen, in die Hecke plumpsen oder wieder auf den Allerwertesten zu sinken, letztere Möglichkeit wählte. Amenhotep lachte herzlich. „Der verwirrte Bauernsohn“, rief er ihm fröhlich entgegen und trat näher, während Merit-amun eifrig einen Schemel bereitstellte. Amenhotep setzte sich. „Ich wollte dir nur alles Gute für den Tag wünschen. Er wird noch einmal schwer für dich, denn er bedeutet Abschied, endgültigen Abschied. Aber vielleicht hilft es dir in deinem Schmerz und dem Gefühl verlassen zu sein, wenn du weißt, dass wir uns alle freuen, dich heute Abend wieder zu sehen. Nun, vielleicht unser guter Schesehmu weniger. Denn seit du mit deiner Landmann-Mode hier angekommen bist, sind seine Perücken immer weniger gefragt. Du wirst ja sehen, was du angerichtet hast, wenn anlässlich des Opet-Festes jedermann selbst aus den entlegensten Gauen angereist kommt. Im Palast gibt es dann an jedem Abend ein großes Fest. Jeden Abend andere Gaufürsten, jeden Abend andere Ehefrauen von Gaufürsten, jeden Abend andere wohl erzogene Kinder von Gaufürsten, doch jeden Abend dieselben Gespräche. Eine Woche ist da schnell herum, bis mein Vater und vor allem auch meine Mutter mit jedem von ihnen geredet haben. Diese Feste sind wichtig, erfährt man doch auf einem fröhlichen Fest, mit Wein und heiterer Musik ganz andere Dinge als am Planungstisch während der Kabinettsbesprechung oder bei einem hochoffiziellen Besuch in der Provinz.“ Endlich kam Amenhotep auf den Punkt. „Ich wünsche, dass du mich zu diesen Empfängen als mein Kammerherr begleitest. Zu deinen Pflichten gehört insbesondere, mir in jeder Situation sofort sagen zu können, wem ich gegenüberstehe und welches seine Ämter und Aufgaben sind. Seine familiäre Situation ist ebenfalls wichtig und ob es vielleicht noch weitere Details gibt. Du weißt schon, Klatsch und Tratsch und üble Nachrede.“ Amenhotep zwinkerte. „Mentuhotep, dein Lehrer, wird dich einweisen und dir sämtliche Dossiers zugänglich machen. Und jetzt guck nicht so übertölpelt. Wenn du morgen gleich anfängst, dich damit zu beschäftigen, hast du noch zwei ganze Wochen Zeit, dich vorzubereiten. Und versuch noch ein wenig, das Schreiben zu üben. Deine Handschrift ist erbärmlich. So, ich muss jetzt los. Ich hab heute wieder meine geliebten Amun-Priester um mich.“

„So früh heute?“, Ani blinzelte nach der Sonne, die es noch kaum über die östlichen Berge geschafft hatte.

„Ja, na ja“, entgegnete Amenhotep in einem eigenartigen Tonfall, „heute mal aus gegebenem Anlass ein bisschen früher“, stand auf und ging ohne sich umzudrehen. „Bis später“, rief er und hob die Hand.

Bis Ani am Hafen war, sah er Amenhoteps Schiff gerade noch, wie es in der Ferne über den Nil setzte. Eines der kleineren Lastschiffe, war von Rechmire für Anis Zwecke bereitgestellt worden und wartete auf ihn. Der Schiffsführer Arhonuphis, ein riesiger Nubier mit freundlichem Gesicht, verneigte sie tief, als Ani an Bord kam. Und als das Boot schließlich ablegte, erklang vom Heck leise Harfenmusik. „Ein Geschenk der Gottesmutter Mutemwia“, meinte der Nubier beeindruckt und deutete mit dem Kopf nach dem Musiker. Das warme Gefühl, geschätzt und geliebt zu sein, erfüllte Anis Herz, während das Boot dem blauen Haus am Nil entgegenstrebte. Mutemwia schien irgendwie einen Narren an ihm gefressen zu haben. „Mein Jungchen“, hatte sie ihn wiederholt genannt, wenn er bei ihr vorsprach, um Botschaften von ihrem Enkel zu übermitteln. Eines Tages gar, hatte sie ihn bei einer solchen Gelegenheit gefragt, was er denn von ihrem anderen Enkel, Thutmosis, hielte, dessen Katzenmord man als tragischen Unglücksfall ausgegeben hatte. Und da niemand von außerhalb der Familie bei dem Geschehnis anwesend gewesen war, gab es glücklicherweise auch keinerlei anders lautenden Zeugnisse. Das Gerede war dennoch mehr als unangenehm. Ani hatte damals bei der Unterredung mit Mutemwia nur stammeln können, dass es ihm keineswegs zustand, eine Meinung zu einem Mitglied der königlichen Familie zu haben. „Papperlapapp!“, rief die alte Dame und klopfte mit der Hand auf einen neben ihr stehenden Schemel. „Setz dich, Jungchen, und verrate mir deine Gedanken.“ Und obwohl er wusste, dass allzu freimütige Äußerungen schnell dazu beitragen konnten, in Ungnade zu fallen oder gar den Kopf zu verlieren, ließ er sie in sein Herz blicken, gerade so, als sei Mutemwia seine eigene Großmutter. Immer häufiger hatte sie seither auf den Schemel geklopft, wenn er bei ihr vorsprach, denn offensichtlich schätzte sie seine Beurteilung der Dinge. Mutemwias Wertschätzung seiner Person war natürlich nicht lange verborgen geblieben. Als er anderntags der Großen königliche Gemahlin Teje ein Schriftstück brachte, das Amenhotep verfasst hatte, klopfte auch sie auf einen Schemel. Er solle ihr doch einmal sagen, was er von Amenhoteps Vorschlag hielt, die Erträge des Amun-Tempels zu besteuern. Wie ein waidwundes Tier, das sich in einer auswegslosen Lage befand, hatte Ani herumgedruckst und Allgemeinplätze von sich gegeben, bis Teje ihn ärgerlich unterbrach. „Du redest wie der Wesir oder wie einer meiner Ratgeber. Wenn ich deren Meinung wissen will, frage ich sie selbst.“ Ernst hatte sie ihm in die Augen gesehen. „Lass mich wissen, was du denkst, Ani. Es wird dir nichts geschehen.“ Daraufhin hatte er ihr offen und ehrlich seine Meinung zu diesem heiklen Thema dargelegt: Dass er Amunhoteps Überlegungen grundsätzlich für richtig und angemessen hielt, lediglich den Zeitpunkt für eine derartige Konfrontation mit der Amun-Priesterschaft für wenig glücklich. Im Norden des Reiches schienen sich Schwierigkeiten anzubahnen, weshalb man, je nachdem wie die politische Lage sich in Hattuscha entwickelte, unter Umständen auch mit kriegerischen Auseinandersetzungen würde rechnen müssen. Und es wäre fatal, wenn Ägypten zur selben Zeit innere Kämpfe ausfocht, die seine Stärke nach außen nur schwächen konnten. „Bei Osiris!“, hatte Teje abschließend nur gemeint und seither ebenfalls immer häufiger auf den Schemel an ihrer Seite geklopft.

Als das Boot vor dem blauen Haus Halt machte, standen schon die Priester bereit, um die Mumie in ihrem prachtvollen Sarkophag zu begleiten, damit sie die heiligen Handlungen vor der eigentlichen Beisetzung vollziehen konnten. Schnell war der Sarg von acht Trägern an Bord gebracht worden, so dass das Boot augenblicklich umkehrte und wieder in Richtung des Palastes fuhr. Ani fühlte sich beklommen, denn er hatte Schwierigkeiten, das Bild des reich geschmückten Sarkophages mit dem Anblick seines tot im Wasser treibenden Vaters in Einklang zu bringen, das sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Wieder im Hafen angekommen, riefen die Priester „Macht Platz für den Freund des Gottessohnes, der seinen Vater zu Osiris bringt, damit er sich rechtfertige!“. Ani wäre es lieber gewesen, seinen toten Vater in aller Stille zu seinem Felsengrab in der Wüste begleiten zu können. Doch als sich dem Leichenzug dann noch ein Dutzend Diener anschlossen, welche die Kisten mit den Uschebtis trugen, war das Aufsehen endgültig nicht mehr zu vermeiden. So groß der Zug auch war ‑ drei Sem-Priester vorneweg, acht Sargträger und ein Dutzend Diener mit Uschebtikästen hinterher ‑, so sehr wurde Ani die Tatsache bewusst, dass er ganz allein es war, der dem Sarkophag folgte. Die Menschen am Wegesrand verneigten sich vor dem Toten, aber sie beugten ihr Haupt auch vor Ani, der als treuer Sohn alles tat, um seinem Vater ein angenehmes Weiterleben im Jenseits zu ermöglichen. Eine Frau streute sogar Lotusblüten, was Ani sich allerdings vornahm, mit keinem Wort gegenüber Amenhotep zu erwähnen.

Die Sonne brannte heiß und der Weg bis zu den Felsen im Westen war weit. An einem kleinen Haus, ganz in der Nähe der Klippen, machte die Prozession Halt und der Sarkophag wurde aufrecht, mit dem Gesicht nach Süden auf einen aufgeschütteten Sandhügel gestellt. Die Priester nahmen die rituellen Reinigungszeremonien mit Wasser, Natron und Weihrauch vor, begutachteten den Sarg und erklärten ihn für vollkommen. Gerade berührte der Sem-Priester den Mund der Mumienmaske mit seinem kleinen Finger, als Ani hörte, wie in dem kleinen Haus nebenan offenbar ein Stier getötet wurde. „Ein Geschenk des Guten Gottes“, meinte der Priester ehrfurchtsvoll, nachdem er Anis fragenden Blick gesehen hatte. Statt irgendwelcher Artefakte, die sie üblicherweise ersetzen würden, wurden tatsächlich das Herz und der rechte Hinterlauf eines Stieres gebracht und vor dem Sarg niedergelegt. Schließlich wurden Ani der Dechsel sowie der Peseschkaf überreicht, damit er damit symbolisch Mund, Augen und Ohren seines Vaters öffnete. Anschließend wurde der Sarkophag mit dem Duft der Räuchergefäße gereinigt, in denen man Weihrauch, Myrrhe und Bernstein verbrannte, und in die nahe gelegene Grabkammer gebracht. Dort fand die rituelle Speisung der Mumie statt sowie die Anrufung der Götter, die den Verstorbenen auf seiner letzten Reise Schutz und Wohlwollen gewähren sollten. Nachdem die Grabkammer verschlossen worden war und die Priester, Träger und Diener sich schon auf den Rückweg begeben hatten, überkam Ani das unbarmherzige Gefühl des Verlorenseins. Ganz alleine setzte er sich nieder und nahm den Totenschmaus ein, an dem sich üblicherweise die Hinterbliebenen des Toten beteiligten. Nun, außer ihm gab es niemanden mehr, der seinem Vater diese Ehre hätte erweisen können. Ani würgte an den Bissen, die er kaum herunterbrachte, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen.

Im nächsten Augenblick fühlte er sich beobachtet und meinte, irgendwelche Gaffer in seinem Rücken zu spüren. Er drehte sich um und sah drei Personen hinter sich stehen. Es waren Amenhotep, Nofretete und Thutmosis, die jeder einen Strauß frisch gepflückter Blumen in Händen hielten. Amenhotep Kornblumen, Nofretete roten Mohn und Thutmosis Margeriten. Ani sprang auf und warf sich zu Boden. Nie hatte er ein wertvolleres Geschenk erhalten als die Anteilnahme dieser Menschen. „Wir sind mit dir“, sagte Amenhotep und legte seine Blumen am Grab ab, was Thutmosis und Nofretete ihm gleich taten. Zu viert saßen sie schließlich im Wüstensand und nahmen gemeinsam das Totenmahl für Imenhotep ein, den Pachtbauern und Vater des Freundes des Gottessohns.

Nachdem sie gespeist und anschließend alle Reste im Sand vergraben hatten, war Ani bereit, sich auf den Rückweg zu machen. Die Freunde waren mit zwei Streitwagen gekommen, die sie unbemerkt hinter dem Schlachthaus abgestellt hatten. Natürlich hatte Ani diese pfeilschnellen Gefährte schon oft gesehen und immer ihre elegante Beweglichkeit bestaunt. Gefahren war er allerdings noch nie damit, brauchte es doch einiges an Übung und Erfahrung, um mit diesen schwer zu lenkenden Fahrzeugen umgehen zu können. So manches Mal hatte er Amenhotep gebeten, ihm den Umgang damit beizubringen, erzählte man sich doch, dass er einer der besten Streitwagenlenker des ganzen Reiches war. Doch der hatte wenig Lust, seine beschränkte Zeit, die er auf einem solchen Gefährt verbringen konnte, mit einem unbeholfenen Schüler zu vergeuden. Streitwagenfahren, dass wusste Ani inzwischen, war eine der Lieblingsbeschäftigungen Amenhoteps.

So zuvorkommend wie selten war Thutmosis seiner Braut Nofretete behilflich, als sie seinen Streitwagen bestieg. Ihr Kopf glühte vor Aufregung und Vorfreude. Ein wenig unsicher bat sie ihren Bräutigam, ob er ihr auf der Rückfahrt vielleicht nicht doch die Zügel überlassen würde. Thutmosis überlegte kurz und trat ihr schließlich die Führung ab. „Jetzt“, meinte Amenhotep als Ani zu ihm auf den Wagen geklettert kam, „jetzt mach dich auf was gefasst!“ Und schon zogen die Pferde an ‑ Ani schaffte es kaum, sich festzuhalten ‑ und gingen schnell in einen rasenden Galopp über. Quer durch die Wüste, über Stock und Stein, fuhren sie in Richtung Malqata zurück. Ani fürchtete, ihm könne der Atem wegbleiben, so stark war der Fahrtwind. Doch wider Erwarten gelang es ihm, weiter zu atmen, ja, sogar zu lachen und zu schreien. Krampfhaft hielt er sich an der Brüstung fest und schrie seine Ekstase in den Fahrtwind. „Hurr-ho, hurr-ho!“ Amenhotep lachte, wie Ani ihn schon lange nicht mehr hatte lachen sehen, und schloss sich seinem Kampfruf an. „Hurr-ho, hurr-ho!“ Wie auf Befehl sahen sich beide nach der Dritten im Bunde um, ob sie ihnen denn in ihren Geschwindigkeitsrausch nachfolgen wollte. Doch Nofretete hatte sie längst schon eingeholt und schrie ebenfalls nach Leibeskräften. Erschreckt ließen die Menschen am Wegesrand ihre Arbeit ruhen und blickten nach der brüllenden Horde hin, die eine Wolke aus Steinen und Staub hinter sich ließ, die immer größer wurde und alsbald bis in den Himmel reichte. Manche fielen nieder und flehten inständig, dass Gott Seth ‑ denn nur um ihn konnte es sich handeln – ihr Leben und das der Ihren verschonen möge. Manche konnten erkennen, dass einer der beiden Streitwagen von einer jungen Frau geführt wurde. Dies musste Nephthys sein, die Gemahlin des Gottes aus der Wüste. Und kamen sie nicht auch geradewegs von dort? Aus dem Westen, wo die Gräber in die Felsen geschlagen waren? Doch so schnell sie aufgetaucht waren, so schnell waren sie auch wieder hinter ihrer staubigen Wolke verschwunden, die noch lange die Luft erfüllte.

Je näher sie dem Palast kamen, desto banger stellte sich Ani die Frage, wie sie denn aus dieser rasenden Fahrt wieder zum Stehen kommen sollten. Insbesondere weil weder Amenhotep noch Nofretete irgendwelche Anstalten machten, ihre Gefährte zu verlangsamen. Als sie in den rückwärtigen, vom Militär genutzten großen Hof einfuhren, der vom eigentlichen Palast abgetrennt war, sah sich Ani schon an der nächsten Mauer zerschmettert. Doch Amenhotep leitete eine scharfe Kurve ein und gab Ani Anweisung, sich aus dem Wagen zu lehnen, um den Fliehkräften entgegenzuwirken. Nofretete mit Thutmosis an Bord tat das gleiche, so dass sie schließlich ihre Fahrt in einem weiten eleganten Bogen beendeten.

Die Soldaten applaudierten begeistert. Wie stolz waren sie auf ihren künftigen König, dessen Braut einen Streitwagen zu lenken wusste, wie der beste Fahrer aus ihren Reihen. Ani erwachte wie aus einem Rausch und schwor sich felsenfest, zur Not auch ohne Amenhoteps Unterstützung, diese Kunst zu erlernen. Denn es war eindeutig eine Kunst, solch ein leichtes Wägelchen und auch noch die beiden Rösser, den eigenen Wünschen folgen zu lassen. Nofretete sah Anis verzücktes Gesicht und flüsterte ihm schnell ins Ohr: „Ich bring’s dir bei!“ Verdutzt blieb er stehen, während Nofretete an der Seite ihres zukünftigen Gemahls durch die Pforte zum Inneren des Palastes ging. Dort hatte sie noch einmal Gelegenheit, sich nach Ani umzudrehen und ihm wie zur Bestätigung kurz zuzunicken.

Gerade als die Sonne den Horizont im Westen berührte, betrat ‑ nach entsprechender Ankündigung durch Rechmire ‑ Prinz Amenhotep mit dem Freund des Gottessohnes die Terrasse des Pharao. Er küsste seinem Vater die Hand, woraufhin Teje ihn anzischte und meinte, er solle sich seine Honneurs für später aufheben. Mit dem Kopf deutete sie auf Mutemwia, neben der ein Schemel für ihn bereitstand. Die Mutter des Guten Gottes saß hinter einer Harfe und wollte offenbar gerade ein Lied anstimmen. „Oh, Amenhotep, mein Liebling. Setz dich zu mir. Ich habe gerade erzählt, dass ich euch allen ein neues Lied aus Achmim mitgebracht habe.“ Dabei sah sie in die Runde und vergaß dabei nicht, auch Ani ins Gesicht zu sehen. Er wusste, dass sie früher einmal die Oberste Sängerin des Min war und ihre Kunst im ganzen Land gerühmt wurde. Mit ihrer warmen, wenn auch schon ein wenig brüchigen Stimme, der man anhörte, dass ihre Besitzerin ein langes, reiches Leben gelebt hatte, sang sie in die hereinbrechende Nacht.

Wo sind sie hin, die einstmals Tempel bauten?

Was ist mit ihnen geschehen?

Wo sind ihre Stätten? Sie mussten vergehen

als wären sie niemals gewesen.

Niemand kommt von dort, wo sie jetzt sind,

um uns von ihrem Ergehen zu berichten.

Und um unser banges Herz zu beruhigen,

bis auch wir gelangen, wohin sie längst gegangen sind.

Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde.

Denn bedenke:

Niemand nimmt dereinst mit sich, woran er gehangen.

Niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.

Du aber, erfreue dein Herz und denk nicht daran!

Und lass es dich leiten, solange du bist.

Tu Myrrhen aufs Haupt und nutze die Frist.

Trag weißes Leinen und salb dich mit Öl.

Sei schön! Und lerne, dich selbst zu lieben.

Folg nur dem Herzen mit deiner Geliebten.

Tu deine Dinge auf Erden, lass Vollendung sie krönen.

Verletze dein Herz nicht, bis am Tage der Totenklage

die Tränen strömen.

Feiere den schönen Tag, werde dessen nicht müde.

Denn bedenke:

Niemand nimmt dereinst mit sich, woran er gehangen.

Niemand kehrt wieder, der einmal gegangen.

Es war vollkommen still als Mutemwia geendet hatte. Und nachdem auch der allerletzte Ton im Abendrot verklungen war, rief sie vergnügt: „So, liebe Kinder! Nun lasst uns den schönen Tag feiern!“ Augenblicklich wurde begeistert applaudiert und über die neuartigen Verse gesprochen, die das irdische Leben derart priesen, war es doch ansonsten vor allem das Jenseits, welches die Sänger mit ihrer Kunst bedachten. Es hob eine lebhafte Unterhaltung darüber an, ob dieser Aufruf, sein diesseitiges Leben in vollen Zügen zu genießen, nicht doch auch zu amoralischem Verhalten führen könnte. Sit-amun wollte zunächst einmal grundsätzlich wissen, wer überhaupt die Grenzen zur Amoral ziehen soll. Die Amun-Priester oder der Pharao? Seit Ani erfahren hatte, dass der stets schweigsam hinter ihr Sitzende niemand anderes war, als Amenhotep, der Sohn des Hapu, der große Architekt des Guten Gottes, der neuerdings auch zu Sit-amuns Vermögensverwalter ernannt worden war, fiel ihm immer häufiger auf, dass Sit-amun gerne gegen allzu eng gesetzte Grenzen der Moral anredete. Gab es doch Gerüchte, wonach die älteste Tochter Pharaos und der geniale Architekt auch das Bett miteinander teilten. Der Sohn des Hapu war zwar mindestens ein Vierteljahrhundert älter als die gerade einmal zwanzigjährige Sit-amun, aber auch Anis Eltern waren in ihrem Alter weit auseinander gewesen, so dass er dies zunächst nicht als übermäßig bemerkenswert empfand. In der Dienerschaft allerdings wurde der Altersunterschied als Beweis dafür gesehen, dass der Sohn des Hapu die Königstochter verhext haben müsse. Thutmosis, der sich ansonsten immer schwer tat, eine Meinung zu haben, war aufrichtig begeistert von dem neuen Lied und rief immer wieder: „Endlich mal jemand, der’s ausspricht! Endlich mal einer, der sagt wie’s ist!“ So war es ein anregender Abend mit lebhaften Gesprächen, die allerdings oft genug von Mutnedjmet unterbrochen wurden. Ihr Zwerg hatte inzwischen das Tanzen gelernt und seine Besitzerin wurde nicht müde, ihn mit rollenden Augen zwischen den Gästen umhertanzen zu lassen, nur, um sich anschließend bei den solcherart Behüpften zu erkundigen, ob ihnen die Darbietung denn auch gefallen habe. Wehe, man zeigte sich nicht enthusiasmiert oder zumindest angetan, dann wurde der arme Däumling erneut herbeizitiert und mit einem Klaps auf den Kopf aufgefordert, seine Verrenkungen abermals vorzuführen. Isis und Henut-tau-nebu machten sich einen Spaß daraus, ständig neue Kritikpunkte vorzubringen und den Kleinen immer wieder aufs Neue seine grotesken Tänze vollführen zu lassen.

Irgendwann einmal hatte Pharao genug von seiner Familie und verkündete, warum er alle hergebeten hatte. Er wolle sie wissen lassen, dass er gedenke, zum Sed-Fest, seinem 30. Regierungsjubiläum seine älteste Tochter Sit-amun zur Frau zu nehmen. Somit hätte er dann drei Große Königliche Gemahlinnen aus drei Generationen, da er seine Mutter ja bereits als Zwölfjähriger in diesen Stand erhoben hatte, als er seinerzeit gekrönt worden war. Eigentlich hatte Ani erwartet, dass Sit-amun protestieren und eine ihrer spitzfindigen Diskussionen beginnen würde. Aber sie lächelte nur zufrieden und schwieg.

Sie war in dem Alter, in dem man eigentlich von ihr erwartete, dass sie verheiratet war. Und natürlich war sie als Tochter des Pharaos eine überaus gute Partie, mit der sich alle Adelsfamilien Ägyptens in göttliche Nähe zu befördern hofften. Endlos waren die Bewerber, ebenso endlos die Absagen des Hofes. Böses Blut und üble Nachrede machten sich breit, Eifersüchteleien und Neid. Also setzte Pharao alldem ein Ende und erhob seine Tochter Sit-amun neben seiner Frau Teje und seiner Mutter Mutemwia zur ranghöchsten Frau des Reiches. Ob er die Ehe mit seinen Frauen auch tatsächlich vollzog oder nicht, kümmerte niemanden, solange er nur einen Thronfolger hatte. Für die jeweilige Große Königliche Gemahlin bedeutete diese Erhebung vor allem eine nahezu unangreifbare Stellung bei Hofe sowie im ganzen Reich.

Sit-amun würde zwar deutlich mehr öffentliche Pflichten übernehmen müssen, konnte dafür allerdings ein ungestörtes Privatleben erwarten. Der Sohn des Hapu, als engster Freund und Berater des Pharao sowie Verwalter ihrer Güter, konnte nun getrost hinter ihr sitzen, ohne dass es zu Klatsch und Tratsch Anlass gegeben hätte. Und Pharao würde endlich die Möglichkeit haben, sich bei seinem ersten Sed-Fest, das in absehbarer Zeit bevorstand, zum Sohn der Sonne ausrufen zu lassen. Vereinigte er dann schließlich doch drei Generationen göttlichen Bluts mit sich. Jede Dekade, die er dann regiert haben würde, hatte ihm eine Große königliche Gemahlin geschenkt. Solches widerfuhr nur Göttern. Niemand könnte dem widersprechen! Selbst die Amun-Priester würden es nicht wagen, an den heiligen Sonnenkult zu rühren, der, älter als die Pyramiden, aus den Anfängen der Menschheit herrührte. „Welch schlauer Fuchs!“, staunte Ani. „So geht das Regieren! Schließlich hat dann jeder etwas davon.“

„Und bevor ich mich nun zurückziehe“, meinte Pharao und erhob sich, „soll Rechmire noch den Ani, Freund des Gottessohnes, in den Stand des Schreibers des Gottessohnes erheben. Er hat uns in den vergangenen siebzig Tagen gut gedient und wir freuen uns, ihn bei uns zu haben.“ Man klatschte begeistert Beifall und schon hatte Pharao allen eine gute Nacht gewünscht und war verschwunden.

„Ausgerechnet Schreiber!“, dachte Ani, als ihm Rechmire voller Rührung das Bleiberecht im Palast aussprach und ihn ermahnte, niemals zu vergessen, wem er sein Wohlergehen zu verdanken habe. „Du bist alles durch Ihn und ohne Ihn nichts. Fürchte Ihn, denn sein Zorn ist schrecklich. Liebe Ihn, denn seine Liebe ist unendlich. Sei Ihm treu und ein loyaler Beamter, dann wird Er treu zu dir und den Deinen stehen.“

Die nun folgenden vierzehn Tage waren derart angefüllt mit Lernen, Memorieren, aber auch Schreibübungen, dass Ani tagtäglich mit den ersten Sonnenstrahlen aufstand und an manchem Abend bis weit in die Nacht mit seinem Lehrer Mentuhotep beisammen saß, um die Dossiers der Gaufürsten des Reiches zu studieren. In über vierzig Gaue war Ägypten von Nord nach Süd gegliedert und natürlich hatte jeder der Fürsten seine eigene Geschichte - von denen keinesfalls eine jede vorzeigbar war. Der Fürst des Schlangengaus hatte offenbar seinen älteren Bruder ermordet, der des Falkengaus seine Ehefrau mittels eines präparierten Bootes das Opfer von Krokodilen und Nilpferden werden lassen und im Gau des göttlichen Kälbchens gab es Unregelmäßigkeiten bei den Steuereinnahmen, die noch genauer zu untersuchen waren. Ani wunderte sich, warum Pharao nicht alle fragwürdigen Fürsten kurzerhand auswechselte. Mentuhotep erklärte ihm, dass Ägyptens Verwaltung derart fein gesponnen und miteinander verwoben war, dass jede Veränderung schnell eine Verschiebung der gesamten Machtbalance nach sich ziehen konnte. Überdies konnte Pharao durchaus davon profitieren, wenn er die eine oder andere Sünde seiner Fürsten großzügig übersah. Ihre Ergebenheit ihm gegenüber konnte damit nur gefestigt werden. Allerdings gab es auch etliche Gaufürsten, gegen die bereits im Geheimen ermittelt wurde und deren Ablösung unmittelbar bevorstand. Darunter auch der Führer des Gaus von Waset, in dem die königliche Residenz lag. Meri-ptah war zugleich auch der Oberpriester des Amun und somit der erbittertste Gegner Pharaos. Seit Jahren schon stand Anen, der Bruder der Großen königlichen Gemahlin Teje und des Vorstehers der Steitwagentruppe Eje an zweiter Stelle, ohne nachrücken zu können. Über Meri-ptah war das mit Sicherheit umfangreichste Dossier angelegt worden, ohne allerdings eindeutige Beweise liefern zu können. Sicher nachweisbar war bisher lediglich seine große sexuelle Appetenz, die sich sowohl auf Frauen als auch auf Männer sowie Kinder beiderlei Geschlechts erstreckte. Pharao weigerte sich jedoch, deswegen ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten. In einer Randnotiz hatte er die Gründe dafür ins Dossier geschrieben: „Diesen Punkt nicht weiterverfolgen! Sonst wäre die Hälfte der Gaufürsten zu entheben.“

In der Schreibstube Mentuhoteps saß Ani häufig neben Thutmosis, der – wie es für den Thronfolger Tradition war ‑, das 30. Regierungsjubiläum seines Vaters vorbereitete. Es war zwar noch mehr als ein ganzes Jahr bis dahin, aber die Vorarbeiten waren derart vielfältig, dass man nicht früh genug damit anfangen konnte. Zudem würde Thutmosis bald für sechs Monate nach Men-nefer gehen, wo er die Weihen eines Hohepriesters des Ptah erlangen sollte, so dass er besser schon vorher jene Dinge erledigte, die bereits angegangen werden konnten. Vor allem mussten die Herrscher der Fremdländer beizeiten informiert werden, damit sie ihre Abordnungen mit den Tributen pünktlich auf den Weg schicken konnten. Ani hatte den Kronprinzen bei dieser Gelegenheit etwas besser kennen lernen können. Hatte er ihn anfangs nur für einen missmutigen und launischen jungen Mann gehalten, so musste er bald feststellen, dass die Dinge doch ein wenig vielschichtiger waren. Thutmosis fühlte sich schlichtweg erdrückt von all den Erwartungen und Forderungen, die auf ihm lasteten. Jeder, nicht nur in der königlichen Familie hatte Erwartungen an ihn und diese wurden auch deutlich geäußert. Er sollte, wenn er dann eines Tages die Regentschaft übernommen hätte, die Macht des Pharaos weiter ausbauen und die der Amun-Priester beschneiden oder gar endgültig brechen. Nofretete würde ihm zur Seite stehen, was seine Zweifel und Unsicherheiten aber auch nicht unbedingt aus der Welt zu schaffen in der Lage war. Denn nur allzu schnell fühlte sich Thutmosis der überaus intelligenten und gebildeten Frau unterlegen, die immer wieder sehr viel schneller als er begriff, worauf es tatsächlich ankam.

Nofretete war schlichtweg perfekt! Ein vollkommenes Produkt höfischer Erziehung. Auf ihre Aufgabe von Geburt an bestens vorbereitet, bewies sie einen scharfen Verstand, mit dem sie ihr beeindruckend großes Wissen zu nutzen wusste - und war darüber hinaus auch noch bildschön. Es war abzusehen, dass alle Mädchen und Frauen des Reiches eines Tages so sein wollten wie sie und sie wie eine Göttin verehren würden. Thutmosis wusste, dass er neben ihr allenfalls eine mittelmäßige Figur abgeben konnte, was nicht unbedingt zu einer entspannten Haltung seinerseits beitrug. Unglücklicherweise liebte er seine so vollkommene Braut überhaupt nicht, sie ließ ihn schlichtweg kalt, sondern sah in ihr vielmehr eine ihm beigestellte Aufsichtsperson.

Eines Tages ‑ Thutmosis hatte gerade wieder einmal wegen einer Nichtigkeit einen seiner Wutanfälle bekommen, bei dem er die Papyri durch die Schreibstube schmiss und schließlich seinen Unmut herausbrüllend den Raum verließ ‑, schob Mentuhotep schweigend ein Dossier über den Tisch. Ani erschrak, beschäftigte sich das Dokument doch mit der Person des Thronfolgers. „Er hat es eben erst entdeckt und wohl auch einen Blick hineingeworfen“, flüsterte ihm Mentuhotep zu. Und als er den Schreck seines Schülers bemerkte, meinte er nur beiläufig: „Solch eine Akte hat Pharao über jeden von uns anlegen lassen.“ Und als er das Entsetzen in Ani Gesicht sah, fügte er beruhigend hinzu: „Sogar über sich selbst lässt der Gute Gott eine solche Kladde führen. Hilft sie ihm doch, zu überprüfen, wie seine Taten von außen wahrgenommen werden.“ Nur kurz blickte Ani in das vor ihm liegende Dokument, doch es genügte, um die Verstimmung des Kronprinzen zu verstehen. Das Wort „unfähig“ tauchte öfters darin auf und war mit Rot unterstrichen. Als Schlussbemerkung stand der unheilvolle Satz: „Eine schwache Führung ist zu erwarten, die hoffentlich durch seine Große Königliche Gemahlin Nofretete ausgeglichen werden kann.“ Schnell rollte Ani den Papyrus wieder auf und schob ihn Mentuhotep zu, der ihn augenblicklich in eine Truhe legte, die er sorgfältig abschloss. „Dies alles ist eigentlich nur für die Augen Pharaos gedacht“, klopfte Mentuhotep auf die Truhe.

„Und warum zeigst du es mir dann?“ Ani war entrüstet, wie ihn sein Lehrer in diese Lage hatte bringen können. Denn die in diesen Aufzeichnungen gebannten Worte waren nun losgelassen und vergifteten Anis Hirn.

„Pharao selbst wies mich an, solches zu tun“, erklärte sich Mentuhotep.

„Und jetzt sag mir nur noch“, meinte Ani entrüstet, „dass der Gute Gott wollte, dass auch Thutmosis dies liest.“

Mentuhotep nickte nur stumm.

Offenbar hatte Pharao erwartet, dass Thutmosis sich etwas mehr bemühen würde, wenn man ihn erst einmal wissen ließ, wie wenig man ihm tatsächlich zutraute. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Thutmosis wurde nur noch verstockter und zog sich immer mehr zurück. Das Schlimmste war jedoch, dass er nun jedermann in seiner Umgebung Misstrauen entgegenbrachte. Seine Schwestern, sein Bruder, ja, selbst seine Mutter und Großmutter machten da keine Ausnahme. Wie ein getretener Straßenköter schnappte er nach jeder Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Nofretete reichte sie ihm oft genug, denn sie empfand es tatsächlich als ihre Bestimmung, dem nächsten König Ägyptens bedingungslos zur Seite zu stehen. Doch der verschreckte Thutmosis misstraute auch ihr, der wohl einzigen Person, überlegte Ani, die noch bereit war, ihm ihre volle Loyalität zu schenken. In der Dienerschaft wurden schon die ersten Befürchtungen ausgetauscht, was alles man wohl unter der Herrschaft des fünften Thutmosis zu erwarten hätte. Ani fasste es mit drei schlichten Worten zusammen: Angst, Terror und Blut.

Endlich war der erste Tag des Opet-Festes gekommen. Es dauerte insgesamt elf Tage und war das wichtigste Fest des ganzen Reiches. Am gegenüberliegenden Nilufer war Waset, die sowieso schon größte und mächtigste Stadt der Welt, von Tag zu Tag zu einem alles verschlingenden Ungeheuer herangewachsen. Über Meilen zogen sich nördlich und südlich der Hauptstadt die Lager der Pilger am Ufer des Nils entlang. Tausende und Abertausende von Menschen wollten mit Wasser und Nahrung versorgt sein. Und da im weiten Umkreis von Waset kein Baum und kein Strauch mehr zu finden war, stellte alleine das Bereitstellen von Brennmaterial eine enorme Herausforderung dar. Man brauchte Ärzte und Priester, Bewaffnete und schließlich auch Beamte, welche die korrekte Abwicklung der in Waset reichlich getätigten Geschäfte kontrollierten. Wie gern geriet in diesen Tagen ein Handelsgewicht etwas zu leicht oder eine Elle zum Ausmessen der Stoffbahnen etwas zu kurz. Für die Stadt und ihre Bewohner ‑ und somit auch für Pharao, der in jener Zeit für Waset eine Sondersteuer erhob­ ‑ war das Opet-Fest als einträglichstes Geschäft des Jahres eine Zeit des Erntens. In Feierlaune waren viele der Festbesucher nur allzu bereit, das Ersparte eines ganzen Jahres auszugeben. Und dies betraf keineswegs nur die unteren Schichten. Die Elite des ganzen Landes fiel wie ein Schwarm Stare über die Stadt herein – und wurde dennoch sehnsüchtig erwartet. Wer nicht bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unterkommen konnte, musste wohl oder übel die unverschämten Preise zahlen, die für eine Einmietung gefordert wurden - so er denn nicht am Ufer des Nils campieren wollte. Hinzu kamen natürlich noch all die Menschen, die hofften, in Waset ein gutes Geschäft machen zu können. Und so war die Stadt voll von Händlern, Marktschreiern, Musikern, Akrobaten, Prostituierten und Priestern, Priestern und nochmals Priestern.

Ani war heilfroh, dass er nichts mit der eigentlichen Organisation des Festes zu tun hatte. Ihm genügte die Auseinandersetzung mit den schmutzigen, kleinen Geheimnissen der Fürsten des Landes, deren Dossiers er inzwischen nahezu auswendig kannte. Das eigentliche Opet-Fest selbst war eher der Volksfrömmigkeit geschuldet. Konnten doch die Gläubigen anlässlich der Prozession ihren Göttern so nah sein wie nie. Denn die blieben während des ganzen Jahres in ihren finsteren Tempeln verborgen. In goldenen Sänftenbarken wurden Amun, Mut und deren Sohn Chons aus ihren Tempeln in Karnak geholt, freilich vollkommen verschleiert, so dass alle glauben sollten, die leibhaftigen Götter säßen höchstselbst in den Sänften und keine steinernen Standbilder. Sie wurden auf Schiffe verladen, die sie in Begleitung der königlichen Familie das kurze Stück von Karnak nach Waset brachten. Vorbei an Tausenden von jubelnden Menschen, den Ärmsten der Armen, denen Pharao Brot und Bier im Überfluss schenkte. Der Gute Gott brach ein einziges Brot und leerte einen einzigen Krug Bier in den Nil und doch wurden alle satt und zufrieden.

Die begehrtesten Plätze entlang des Prozessionsverlaufs waren allerdings jene in Waset selbst. Für einen Fensterplatz, unter dem der Zug direkt vorbei führte, musste man schon ein kleines Vermögen aufbieten. Am Hafen wurden die Sänften schließlich ausgeladen und in einer stundenlangen Prozession in den südlichen Harem des Amun getragen. All dies geschah unter einem derartigen Geschrei und Jubel, dass Ani mehr als einmal angst und bange wurde. Amenhotep war ausgesprochen schlecht gelaunt. Vielleicht weil er die Begeisterung der Massen für Amun miterleben musste, der ja nichts weiter war, als ein billiges Stück schwarzen Steins, was er nicht müde wurde, ständig zu wiederholen. Er klagte über die Hitze. Also besorgte ihm Ani einen Fächerträger. Amenhotep jagte ihn sogleich wieder fort, weil der Fächer die Sicht des Volkes auf ihn behinderte. Das Wasser, das Ani ihm in seine Sänfte reichte, war zu warm und schmeckte abgestanden und der Jubel der Menschen war zu laut und schmerzte in seinen Ohren. Mürrisch saß der Gottessohn in seiner Sänfte und sehnte den Abend herbei. Amenhoteps Schwestern hingegen schwatzten ausgelassen in ihren nebeneinander getragenen Sänften und genossen die bewundernden Blicke, die man ihnen schenkte. Es machte ihnen Freude, sich und ihre vollkommene Schönheit dem Volk zu zeigen, das sich augenblicklich darin bestätigt fand, dass nur Menschen göttlicher Abstammung derart schön sein können. Mit stoischer Miene ertrugen Pharao, Teje und Mutemwia die öffentliche Zurschaustellung. Man fiel vor ihnen in den Staub, bedeckte die Gesichter und manch ein Übereifriger verlor sogar seufzend die Besinnung. „Was für ein Rummel!“, schimpfte Amenhotep. „Schiere Volksverdummung!“

Im Tempel angekommen, wurde die Barke Amuns in den so genannten Geburtsraum geschafft, wo die symbolische Vereinigung des Gottes mit der Mutter des Königs im Verborgenen stattfand. Thutmosis machte gerne anzügliche Bemerkungen darüber, die Mutemwia jedes Mal ärgerten, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Dort wurde schließlich der Ka des Pharao wiedergeboren, die Quelle der Lebenskraft, die ihm die Stärke verlieh, für ein weiteres Jahr zu herrschen. Große verborgene Spiegel ließen das Sonnenlicht plötzlich auf den im Dunkel des Tempels stehenden Pharao fallen, so dass das Volk glaubte, tatsächlich Zeuge seiner Epiphanie geworden zu sein, seiner unvermittelten Menschwerdung aus dem neugeborenen Ka. Das Volk jubelte und schrie sich vor Freude die Seele aus dem Leib, denn Pharao würde nun mit erneuerter Kraft weiterhin für sie sorgen können. Tapfer hatte auch Mutemwia alle Rituale über sich ergehen lassen. Doch als sie wieder in ihrer Sänfte Platz nahm, seufzte sie erschöpft: „Kinder, Kinder. Lange kann ich das nicht mehr mitmachen.“

„So, das wäre mal wieder geschafft!“ Sogar Pharao seufzte erleichtert, als er sich mit seiner gesamten Familie wieder auf der königlichen Barke Glanz des Aton eingefunden hatte. „Jetzt haben sie sich wieder einmal davon überzeugen können, dass ihr Herrscher weiterhin mit dem Einverständnis der Götter regiert.“ Pharao nahm auf seinem Thronsessel unter dem Baldachin Platz, links und rechts begleitet von seinen Großen königlichen Gemahlinnen Teje und Mutemwia, während Thutmosis als Thronfolger zu seinen Füßen saß. Amenhotep lagerte wie seine Schwestern auf dicken Polstern, sich dessen vollkommen bewusst, dass sie dazu ausersehen waren, glücklich auszusehen und eine prächtige Staffage abzugeben, die das Familienglück und den Reichtum seines Vaters bekunden sollte. Also gab er sich Mühe, zu lächeln. „Na komm schon, Bruder“, meinte Sit-amun plötzlich. “Nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, reicht nicht. Zeig ihnen, dass dein Herz vor Glück jubelt!“

Zurück im Palast zogen sich alle zunächst in ihre Gemächer zurück, um sich für den Abend vorzubereiten. Dies bedeutete stundenlanges Baden, Schminken und sich in erlesene Gewänder kleiden zu lassen. Mentuhotep hatte Ani noch einmal bestätigt, welche der acht Gaufürsten mit ihren Familien an diesem ersten Abend empfangen werden würden. Eigentlich hätte Meri-ptah, als Fürst von Waset und Oberster Priester des Amun, auch gleich am ersten Abend geladen sein müssen. Aber Pharao bestand darauf, ihn im Ungewissen zu lassen, an welchem Tag er denn schließlich in den Palast gebeten werden würde. Es machte ihm eine geradezu kindliche Freude, sich vorzustellen, wie Meri-ptah bang auf den Boten wartete, der endlich die Einladung überbringen würde. Stattdessen wurde Ra-messe, der Statthalter des 13. unterägyptischen Gaus als Erster geladen. Befand sich doch in seiner Hauptstadt Iunu der Haupttempel des Gottes Re, den Pharao seit langem versuchte, in eine Personalunion mit Amun zu zwingen. Die Tatsache, dass Ra-messe vor Meri-ptah eingeladen war, zeigte ein weiteres Mal ganz unmissverständlich, dass Pharao den Sonnengott Re über Amun stellte.

Ani nutzte die Zeit bis zum Abend, um noch einmal einen Blick in die Dossiers der Gäste zu werfen. Dann genoss er es, sich von Merit-amun ausgiebig baden, rasieren und ölen zu lassen. Und als er schließlich in ihr strahlendes Gesicht blickte, wusste er, dass sie mit ihrer Arbeit zufrieden war. Zusammen mit Amenhotep, dessen Laune sich erfreulicherweise deutlich gebessert hatte, brach Ani zum königlichen Audienzsaal auf, nachdem beide von Schesehmu sorgfältig geschminkt worden waren. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand des Saales standen die Thronsessel für Pharao, Teje und Mutemwia auf einem Podest, daneben die Throne für ihre Kinder, allen voran Thutmosis, der bislang als Einziger schon Platz genommen hatte, geradewegs so, als gälte es, seinen Sessel gegen mögliche Usurpatoren zu verteidigen. Er schaute gelangweilt und quälte einen seiner Diener damit, dass der irgendetwas an seinen Sandalen richten sollte, was ihm offenbar missfiel. Wie zu erwarten, endete dies mit Tritten und Gebrüll sowie verzweifelten Tränen auf Seiten des Dieners. Schnell ließ Ani Amenhotep wissen, dass er der Ankunft der Gäste lieber im Innenhof des Palastes beiwohnen wollte, um sich die zu den jeweiligen Namen gehörenden Gesichter schon ein wenig einprägen zu können. Amenhotep entließ ihn, nicht ohne Ani daran zu erinnern, dass er unbedingt auf seine Gegenwart zählte, sobald die Gäste eingelassen würden.

Der ganze Palast war prächtig herausgeputzt worden. Nirgendwo mehr gab es an den Wänden Stellen mit abblätternder Farbe oder jene kleinen Schmuddelecken, die während des Alltagsbetriebes schon einmal entstehen konnten. Alles war blitzsauber und sah aus wie neu. Standarten flatterten im Wind und überall hingen Blumengirlanden von den Brüstungen. Ein beeindruckendes Spalier Bewaffneter wies den ankommenden Gästen den Weg, bestand es doch aus den kräftigsten und schönsten Soldaten des Reiches, die Pharao sich nicht hatte nehmen lassen, persönlich auszusuchen. Frisch gebadet und eingekleidet, dufteten die Krieger wie Gott Month selbst und bezeugten, dass Macht und Schönheit überall am königlichen Hof anzutreffen waren. Der ansonsten so aufgeräumte Rechmire rannte mit hochrotem Kopf von einer Ecke in die andere und gab letzte Anweisungen. Als er Ani sah, winkte er ihn herbei. „Ich werde gleich jeden der Gäste mit Namen und Titel willkommen heißen. Wenn du in meiner Nähe bleibst, wirst du sie gleich zuordnen können. Sie müssen sich vorerst alle im Innenhof versammeln, bis sie schließlich in den Audienzsaal geführt werden. Eine hervorragende Gelegenheit“, zwinkerte Rechmire, „um sie schon ein wenig näher kennen zu lernen. Die Aufregung wird groß sein und das Geplapper lebhaft. Und du wirst schnell erkennen, wer voller Freude hier erscheint und wer voller Angst.“ Der aufbrandende Jubel vor den Toren des Palastes zeigte es deutlich: „Sie kommen!“

Ra-messe war der erste der Fürsten, die Rechmire in aller Ausführlichkeit begrüßte, damit auch ja keiner ihrer Titel und Ehrenbezeichnungen ausgelassen wurde. Die rundliche Gattin des Gaufürsten hatte ein rotes, einfältiges Gesicht und murmelte irgendetwas vor sich hin, als sie das Spalier der Soldaten abschritt. Kaum wagte sie, ihre Augen zu heben. Wollte sie es doch wohl unbedingt vermeiden, mit einem möglicherweise als Ausdruck des Verlangens missverstandenen Blick auf die Körper der Krieger ertappt zu werden. Ihre sechs Töchter hingegen zierten sich weniger und tuschelten und kicherten, ja, sie machten einander sogar auf besonders bemerkenswerte Soldaten aufmerksam und diskutierten ungeniert deren körperliche Vorzüge.

„Minemhat, der Fürst von Achmim, Gottesfreund sowie Bruder der Gottesmutter, Onkel der Großen königlichen Gemahlin Teje“, kündigte Rechmire die nächsten Besucher an. Ani meinte sogleich die Ähnlichkeit mit Mutemwia erkennen zu können. Dieselben Falten, die von der Nasenwurzel aus über die Wangen liefen und dasselbe spitze Kinn, die auch Tejes Gesicht prägten. Minemhats Frau war eine überaus elegante Dame, die trotz ihres hohen Alters eine makellose Schönheit war. Die zahllosen Falten und Fältchen in ihrem Gesicht trug sie wie Auszeichnungen, die sie sich mit jedem Lachen und jeder Träne ihres Lebens stolz erkämpft hatte. Sie wurde ungeniert begafft, während ein Raunen durch die Menge ging, als sie beim Abschreiten des Spaliers einem jeden der Soldaten liebenswürdig ins Gesicht lächelte. In ihrem Gefolge waren die drei Söhne, alle schon längst erwachsen und verheiratet, die mit ihren Frauen und Kindern erschienen. Schließlich folgten noch ihre sechs Töchter, von denen vier ebenfalls mit Ehemännern und Kindern gekommen waren. Die beiden anderen Töchter, so wusste Ani aus den Dossiers, waren nicht verheiratet. Eine war Erste Sängerin des Gottes Min, während die andere ihren Eltern wohl schon viel Kummer bereitet hatte. Es musste jene ausnehmend schöne junge Frau sein, überlegte Ani, die mit sichtlichem Vergnügen das Spalier der Soldaten abschritt und deren prachtvolle Körper einen nach dem anderen wohlwollend in Augenschein nahm. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und doch meinte Ani, eine noch größere Ähnlichkeit mit Nofretete erkannt zu haben. Allein die Gruppe der Verwandten aus Achmim mit Kindern und Kindeskindern zählte jedenfalls schon 37 Häupter. Eine fruchtbare Sippe offenbar, meinte Ani.

Fast fürchtete er schon, dass der Abend darüber zu Ende gehen könne, bis denn alle Gaufürsten mit ihren vielköpfigen Familien das Spalier abgelaufen hätten. Im Innenhof herrschte inzwischen lautes Geschnatter, Gelächter und Geplauder. Kannte man sich doch untereinander und hatte sich in den meisten Fällen seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Es gab also genug zu erzählen und ebenfalls genügend neue Ehemänner, Ehefrauen und Kinder vorzustellen, die zum ersten Mal an Pharaos Hof geladen waren.

Endlich wurde der letzte der Gaufürsten angekündigt. „Hor-wer, der Statthalter des 18. oberägyptischen Falkengaus…“, deklamierte Rechmire mit einer Stimme, der man die Beanspruchung mittlerweile deutlich anhörte. Anis Aufmerksamkeit war jedoch von ganz anderen Dingen gefangen, denn die Titel Hor-wers kannte er längst aus den Dossiers. Ebenso wie diverse andere Details. Schon während der Lektüre hatte diese Familie bei Ani eine gewisse Aufmerksamkeit erregt. Jetzt aber, als er sie hereinmarschieren sah, war ihm klar, dass sie anders waren als die anderen Familien. Legte man ansonsten erkennbar Wert darauf, seine in der Gunst Pharaos begründete Wohlhabenheit auch vorzuzeigen, so schien diese Familie nur wenig Interesse daran zu haben. Nicht, dass sie nachlässig gekleidet oder gar ungepflegt ausgesehen hätten. Sie waren einfach nur schlicht. Hor-wer sah aus wie einer der geduldigen Lehrer in der Palastschule, die Ani das Schreiben beigebracht hatten und seine Frau erinnerte ihn an Amenhoteps Amme Subira. Sie lächelte die im Spalier stehenden Soldaten voller Mitgefühl an, so dass Ani sich fragte, ob sie denn wusste, weswegen die nahezu nackten Männer überhaupt dort standen. Denn eigentlich waren sie als Geschenk Pharaos für die Augen der Damen gedacht und nicht für deren mütterliches Herz. „Damit sie sich endlich einmal so richtig satt sehen können“, hatte Pharao spitzbübisch gelacht, „und sie endlich erkennen, welch mickrigen Kerle sie als Ehemänner haben.“ Hinter Hor-wer und seiner Gattin ging ihr einziger Sohn, der sich bereits in der Streitwagentruppe einen klangvollen Namen gemacht hatte. „Begabt – fördern“, hatte Pharao eigenhändig ins Dossier geschrieben. Sein Name war Haremhab und Ani wusste genau, warum er verlegen zu Boden schaute, als er die Reihe der Soldaten abschritt.

Der Innenhof glich inzwischen einem Marktplatz, so angeregt erzählte man sich einander die neuesten Neuigkeiten. Man lobte die frische Gesichtsfarbe des Gegenübers, beglückwünschte einander dafür, dass man Jahr um Jahr jünger zu werden schien oder tauschte einfach nur spitze Boshaftigkeiten aus. Einige selbstbewusste Damen ergötzten sich an den Rückseiten der strammen Soldaten und achteten tunlichst darauf, dass diese ihre Kommentare auch hören konnten. Inzwischen taten die armen Recken auch Ani leid. Mussten sie doch bewegungslos dastehen, während ihre Körper ‑ jedenfalls bei einigen von ihnen – aufgrund der sinnlichen Eindrücke unwillkürlich Regung zeigten. Nachdem Ani eine Weile dem Treiben zugesehen und vor allem zugelauscht hatte, drückte er sich durch einen kleinen Nebeneingang für Diener, der ihn schließlich in den Flur zum Audienzsaal führte. Pharao und seine Familie saßen schon auf ihren Thronen und Ani sah zu, dass er ohne Aufsehen zu erregen, sich schleunigst hinter Amenhotep aufstellte. „Und wie ist die Stimmung der Bestien?“, fragte der gut gelaunt. „Bestens“, erwiderte Ani, „sie haben die ersten Leckerbissen schon verdaut und haben Appetit auf mehr.“

„Na, dann sollten wir ihnen doch bieten, was sie wollen!“, rief Pharao und lachte. „Öffnet die Pforten!“

Fanfaren begannen loszuschmetterten, so dass Ani vor Schreck zusammenzuckte. Dutzende von Priestern erschienen, um die Luft mit Weihrauch zu reinigen und die goldglänzenden Herrscher hinter Schwaden von Wohlgeruch verschwinden zu lassen. Schließlich wurden die Pforten weit geöffnet. Augenblicklich warfen sich alle im Innenhof zu Boden. Jetzt verstand Ani, warum Teje höchstpersönlich die Sauberkeit der Fliesen dort überprüft hatte. Langsam zog der Rauch aus dem Audienzsaal und die Fanfaren verstummten.

„Ich grüße meine Getreuen“, hob Pharao an und hieß ihnen aufzustehen. In unendlich langen Sätzen mit Hunderten von Titeln und Ehrbezeugungen, Verwandtschaftsbenennungen und Auszeichnungen verkündete Pharao nichts weiter, als dass er sie allesamt begrüße. Aber wenigstens, so meinte Ani und musste grinsen, wurde mit jener Titelflut jedermann sogleich darüber informiert, in welcher Höhe der Gunst Pharaos er gerade stand. Zusätzliche Nennungen kluger Kanalprojekte oder generöser Zuwendungen zeigten eine höhere Gunst an als die schlichte Nennung des Namens und der wichtigsten Titel. Ani sah, wie Ra-messe, der Gaufürst des 13. unterägypischen Gaus, weiß um die Nase wurde als ihm derartiges widerfuhr. Seine Gemahlin, es war seine zweite Frau wie Ani wusste, erbleichte ebenfalls. Wie hatte sie nicht vorhin auf die anderen Damen herabgesehen, schien sie sich ihnen doch aufgrund ihres gottgefälligen Lebens weit überlegen zu sein. Mehr als einmal hatte sie in Gesprächen den Sittenverfall der Jugend beklagt. Nun war sie stumm und demütig, darauf hoffend, dass ihr die Gunst des Guten Gottes bald wieder zuteil werde. Sie zitterte sogar, wie Ani sehen konnte, und schien der Ohnmacht nahe.

Teje, eine prächtige goldene Geierhaube auf dem Kopf, begrüßte nun ihrerseits die Damen. Wenn Ani meinte, dies würde nun ein wenig schneller vonstatten gehen, so sah er sich alsbald getäuscht. Zwar hatten die wenigsten der Gemahlinnen mehr als ein oder zwei offizielle Titel, etwa Sängerin des Min oder Priesterin der Bastet, dafür fanden ihre sonstigen Verdienste aber eine mehr oder weniger ausführliche Erwähnung. Sei es die gesunde Geburt eines Kindes, eine herausragende Opfergabe, eine Armenspeisung oder die Finanzierung einer Handelsreise über das Erythräische Meer. Erst jetzt verstand Ani manch kryptischen Hinweis in den Dossiers. Einige der Damen waren tatsächlich einflussreicher, wohlhabender und mächtiger als ihre stolze Titel tragenden Gatten.

Einer nach dem anderen wurden die Gäste auf ihre Plätze geführt, die sich links wie rechts über die gesamte Länge des Audienzsaals erstreckten. Auf der rechten Seite saßen die Männer, links die Frauen und Kinder. Kaum hatten alle Platz genommen, wurden die Speisen unter anerkennenden Ahs und Ohs aufgetragen. Zunächst wurde, um den Appetit anzuregen, ein süß-sauerer Salat aus Lattich, Gurken, Datteln und Feigen gereicht. Er war mit gemahlenen Senfkörnern und saurem Wein abgeschmeckt und entlockte manch einem Gast Laute des Entzückens. Diener mit Körben voll Brot und großen Krügen mit Wasser und Wein von den Gütern Tejes liefen ständig durch die Reihen und ließen keinen der Schalen oder Becher lange leer. Es folgte eine stark nach Kumin duftende Linsensuppe, anschließend gegrillter Fisch, den, wie von Ani erwartet, die Gattin des Ra-messe pikiert verschmähte, galt er den Vornehmen aus dem Delta doch als Armenspeise. Der Nil war in der Tat am Ende seines Laufs derart verdreckt, dass es nicht gerade appetitlich war, daran zu denken, wovon die Fische sich ernährt hatten. Berge von gebratenen Zwiebeln, eingelegtem Knoblauch und gedünstetem Lauch wurden ständig nachgereicht. Anis Magen begann zu knurren, als das berühmte Taubenragout der königlichen Hofküche auf Plätzchen mit Kichererbsenmus serviert wurde. Es war genau nach Mutemwias Anweisungen zubereitet worden und eröffnete die nun folgende Reihe der Geflügelspeisen, die mit gebratenen Wachteln, Enten, Gänsen, Kranichen und winzigen Singvögeln die anspruchsvollen Gaumen verwöhnten. Die Macht Pharaos zeigte sich heute Abend nicht nur darin, dass er jeden auch noch so hungrigen Magen füllen konnte, sondern auch in der unerreichten Perfektion der Zubereitung der angebotenen Speisen. Schon mussten die ersten Gäste eine Pause einlegen.

Seit die ersten Gänge aufgetragen worden waren, hatte Aha seine Musiker aufspielen lassen, die inzwischen von einer Gruppe Tänzerinnen unterstützt wurden. Nach einem Interludium mit neuartigen Gesangseinlagen, welche die Gäste zu Begeisterungsstürmen hinrissen, wurden die ersten Fleischspeisen aufgetischt. Den Anfang machten pikante Nierchen, gebratene Kalbslebern sowie eine in Pfannen kurz angestockte Paste aus Enteneiern und Kalbshirn, die sich großen Zuspruchs erfreute. Musste sie doch unmittelbar nach der Schlachtung zubereitet und auch verspeist werden. So war sie wegen ihrer leichten Verderblichkeit ein überaus seltener Leckerbissen. Als Krönung der Speisenfolge wurde nach Gazellenbraten sowie Schaf mit Feigen schließlich Ochsenfleisch gereicht - sei es gebraten, gesotten oder gegrillt, je nach Wunsch und Appetit. Einige der Gäste waren bereits so gesättigt, dass ganze Ochsenschenkel wieder unberührt in die Küche zurückgingen. Dennoch wurden zum Abschluss noch kleine, mit Honig gesüßte Küchlein und frisches Obst angeboten. Als letzter Gang wurde jene neuerdings von der Insel Khiosi eingeführte Süßigkeit gereicht, auf die alle bereits neugierig gewartet hatten. Hatte man doch schon oft davon gehört. Gekostet hatte sie jedoch kaum noch jemand. Sie wurde aus dem süßen Harz eines nur dort wachsenden Pistazienbaums hergestellt und war eine zähe, weiße Masse, die hartnäckig an den Zähnen kleben blieb, was schließlich zu mancherlei albernem Gekicher Anlass gab. Angeblich sollte sie den Magen säubern und, nach einer reichhaltigen Mahlzeit genossen, vor Sodbrennen schützen. Ein dicklicher Junge aus der königlichen Verwandtschaft in Achmim war der Erste, der sich übergeben musste. Doch schließlich liefen immer mehr Diener mit Spucknäpfen durch die Reihen, um die sich ungeniert Erleichternden von dem Zuviel an Speisen zu befreien. Selig saßen die meisten der Gäste halbwegs bewegungsunfähig in ihren Sesseln und wurden nicht müde, den Überfluss und die Köstlichkeit der Gaben des Guten Gottes zu preisen.

Zwischendurch hatte Anis Magen immer wieder einmal ein erbärmliches Knurren von sich gegeben, musste er doch den ganzen Abend hinter Amenhotep stehen bleiben, ohne sich an der Schlemmerei beteiligen zu können. Amenhotep kicherte jedes Mal und steckte ihm ungesehen ein paar Happen zu, die Ani schnell in seinem Mund verschwinden ließ. Nach einer besonders lautstarken Äußerung seines hungrigen Inneren erbarmte sich Mutemwia und reichte Ani ein Plätzchen mit Kichererbsenmus und Taubenragout. „Armes Jungchen!“ Voller Mitgefühl hatte sie ihn angesehen und aufmunternd angelächelt. Dies entsprach natürlich keineswegs der höfischen Etikette, doch Pharao und Teje taten einfach so, als hätten sie nichts gesehen.

Nach einem weiteren musikalischen Zwischenspiel erhoben sich Teje, Thutmosis und Amenhotep, um sich unter ihre Gäste zu mischen, während Pharao auf seinem Thron sitzen blieb und huldvoll lächelte. Thutmosis und Amenhotep gingen zur rechten Seite des Audienzsaales, wo die Männer und ihre Söhne saßen, falls diese älter als vierzehn Jahre waren. Teje begab sich zur deutlich volleren linken Seite, weswegen ihr dann auch Mutemwia schnell beisprang. Denn es war Teje schlichtweg unmöglich, mit jeder der Damen, ihren Töchtern sowie Schwiegertöchtern ein paar Worte zu wechseln, so groß war ihre Zahl. „Ich werde mich jetzt erst einmal um die Sprösslinge der Herrschaften kümmern“, flüsterte Amenhotep Ani zu. Und der hielt sich dicht hinter ihm und flüsterte Amenhotep das, was es zu sagen gab, ins Ohr.

„Das dort ist dein Namensvetter Amenhotep, Sohn des Heby, der Bürgermeister von Men-nefer ist. Alle nennen ihn Huy. Genauso wie sein Vater versucht er, den alten Glanz Men-nefers wiederherzustellen. Dass er dadurch wie von selbst in Gegnerschaft zu den Amun-Priestern von Waset gerät, ist zwangsläufig. Er ist Leiter der Feste des Ptah. Und da dein Bruder Thutmosis dort ja bald seine Ausbildung zum Priestervorsteher von Ober- und Unterägypten beginnen wird, wäre es vielleicht angebracht…“

„Du sollst mir nur Informationen zu den betreffenden Personen geben“, zischte Amenhotep ihn an, „und nicht auch noch Ratschläge, was ich zu tun oder zu lassen habe.“

„Verzeih mir!“, stammelte Ani erschrocken. „Es sollte nur ein Hinweis sein.“ Worauf Amenhotep sich mit einer wegwerfenden Handbewegung abwandte.

Es war eine ersprießliche Unterhaltung zwischen Amenhotep und Huy, die sich beide auf Anhieb gut verstanden. Schließlich hatten sie ja auch einen gemeinsamen Gegner, wie Ani meinte. Amenhotep konnte sein Gegenüber dahingehend beruhigen, dass auch sein Bruder, der Thronfolger, durchaus beabsichtige, die Stellung Men-nefers gegenüber Waset und den Amun-Priestern zu stärken. Pharao habe zudem angeordnet, dass der Kronprinz gleich nach dem Ende des Opet-Festes nach Men-nefer gehe. Huy verbeugte sich ob der Ehre, die seiner Stadt damit zuteil wurde. Allerdings käme Thutmosis nicht, wie Amenhotep mit einem fast schon verschwörerischen Tonfall anmerkte, wie sonst für den Kronprinzen üblich, um dort seine militärische Ausbildung zu vervollkommnen, sondern um sich dort in Men-nefer am Haupttempel des Ptah in seine zukünftige Rolle als Oberaufseher der Priester und Propheten von Ober- und Unterägypten einweisen zu lassen.

„Die Weisheit des Guten Gottes ist grenzenlos“, meinte Huy verbindlich und verbeugte sich abermals. „Die Priester des Amun werden allerdings nicht tatenlos zusehen, wie ihnen dieses hohe Amt weggenommen und dem zukünftigen Pharao übertragen wird.“

„Darum dachte ich“, sagte Amenhotep, „dass es von Vorteil sein könnte, wenn das Amt des Hohepriesters meinem Bruders durch ein Orakel oder eine Weissagung des Ptah angekündigt werden würde. Deine Heimatstadt Men-nefer könnte somit einen Teil ihres alten Glanzes wiedererlangen und stünde unweigerlich an zweiter Stelle unter den Städten Ägyptens. Denn der oberste Priester des Reiches würde dann ein Priester des Ptah sein. Vielleicht“, Amenhotep zuckte mit den Schultern, „vielleicht würde Thutmosis, wenn er denn erst einmal gekrönt war, auch dahingehend Überlegungen anstellen, dass er seine Hauptstadt wieder nach Men-nefer zurückverlegen möchte.“

Huy lächelte zuvorkommend. „Möglicherweise wäre es ja eine gute Gelegenheit, wenn Pharao und der Thronfolger an der Beisetzung des Apis-Stiers teilnähmen, die bald in Men-nefer stattfindet. Man könnte dann Details bereden und Gott Ptah würde die Ehre des königlichen Besuchs sicherlich zum Anlass nehmen, um sich dem Schutz des zukünftigen Herrschers anzuvertrauen.“

„Ausgezeichnet! Ich werde Pharao heute Nacht noch davon in Kenntnis setzen.“ Amenhotep strahlte über das ganze Gesicht. „Doch nun will ich dich nicht weiter vom Musikgenuss abhalten. Du wirst bald von mir hören.“ Dann wandte er sich zum Gehen.

Huy verneigte sich. „Es war mir eine Ehre, Prinz Amenhotep.“

„Selket und Kebech-senuef steht mir bei!“, staunte Ani. „Wo hast du das denn gelernt? Du redest ja wie einer der Oberpriester und eine Kebse zugleich!“

Amenhotep lachte. „Na, von wem werde ich das wohl gelernt haben? Seit mehr als sechzehn Jahren sehe ich meine Mutter Teje ihre unsichtbaren Fäden spinnen, die vom elenden Kusch bis zu den Zedern des Libanon reichen. Und ich höre sie, wie sie Lob versprüht und Tadel spritzt. Aber“, Amenhotep hob den Finger, „sie ist immer aufrichtig. Vielleicht würde sie vermeiden, die ganze Wahrheit zu sagen, aber lügen würde sie nie. Das wäre unter ihrer Würde.“ Als wären sie unter sich, legte er Ani plötzlich die Hand auf die Schulter. „Schau nur! Schon hat sie ein Opfer gefunden.“

Teje hatte sich vor der bescheidenen Frau aus Hut-nesu aufgebaut, deren Mann Ani vorhin an einen seiner Lehrer erinnert hatte. „Re-ne-nutet! Meine Liebe! Wie lange schon haben wir uns nicht mehr gesehen?“ Mit bewusst zur Schau gestellter Grandezza sank Teje auf den bereitgestellten Schemel hin, so dass einige Münder offen stehen blieben; insbesondere auf der gegenüberliegenden Seite des Saales, wo die sich träg gegessenen Männer ihre Augen wandern ließen. „Es macht ihr wahrlich Freude, sich so zu präsentieren“, flüsterte Amenhotep Ani zu. „Sie genießt jeden einzelnen der Blicke, die auf ihr liegen. Aber dafür schenkt sie den Gaffern auch, was sie sehen wollen: Das, was die Große königliche Gemahlin so anders macht als andere Frauen, so dass sogar Pharao höchstselbst ihrem Liebreiz erlegen war.“ Ausnehmend schön war Teje ja eigentlich nicht, überlegte Ani. Dennoch bewegte und verhielt sie sich so, als sei sie die schönste Frau der Welt. Ihre Schönheit war eine Behauptung, die sie mit ihrem Benehmen erfüllte. Und sie hatte diese Art, die Männer wie Frauen zugleich betören konnte.

„Es muss Jahre her sein, seit du zum letzten Mal hier warst, Re-ne-nutet“, griff Teje die Unterhaltung wieder auf. „Denkst du nicht auch? In Anbetracht dessen siehst du aber ganz ausgezeichnet aus. Nur der neumodische Landmann-Stil macht dich ein wenig blass, wie ich meine.“

„Man hat mich schon mehrfach darauf angesprochen. Ich weiß überhaupt nicht, wovon die Rede ist.“ Re-ne-nutet war rot geworden vor Aufregung, von ihrer Herrscherin angesprochen zu werden.

Nachdem sie lange schweigend auf ihr Gegenüber geguckt hatte, seufzte Teje schließlich: „Ach, Re-ne-nutet, wie bist du doch gesegnet.“

„Ja“, pflichtete Re-ne-nutet ihr bei. „Meine Familie…“

„Genau darüber wollte ich mir dir reden, meine liebe Re-ne-nutet“, unterbrach sie Teje mitten im Satz. „Deine Familie ist uns teuer. Dein Gemahl leistet uns treue Dienste. Du bist ein Beispiel an Selbstlosigkeit und Opferwillen. Und dein Sohn…“

„Mein Sohn ist alles, was ich habe!“ Ani meinte deutlich ein Flehen in ihrer Stimme gehört zu haben. Offensichtlich ahnte sie bereits, was kommen würde.

„Dein Sohn hat eine große Zukunft vor sich, glaub es mir.“ Und als ob sie ihr ein Geheimnis anvertrauen wollte, beugte sie sich zu ihr hinüber. „Aber nicht in Hut-nesu, Re-ne-nutet.“

„Nehmt ihn mir nicht! Bitte! Es bräche mir das Herz.“

„Niemand will dir Haremhab nehmen. Er ist dein Sohn und wird es auch immer bleiben. Aber dem Guten Gott ist zu Ohren gekommen, dass er ein junger und begabter Offizier ist.

Seine Soldaten lieben ihn - weil er sie liebt. Bislang waren zumeist Hass und Furcht ihr Antrieb. Doch seit Haremhab ihnen vorsteht, ist es Liebe.“

Als spräche Teje von etwas, über das man besser Schweigen bewahrte, sah Re-ne-nutet ihr in die Augen. „Bitte, Teje, ich flehe dich an…“

„Pharao braucht neue Menschen mit neuen Gedanken. Sie werden ihm und eines Tages auch Thutmosis helfen, ein neues Ägypten aufzubauen.“

„Nehmt einen anderen, nicht ihn. Er braucht mich, und ich brauche ihn. Er ist fast ein erwachsener Mann, dennoch bedarf er noch immer der mütterlichen Zuwendung.“

„Ach was?!“ Unbeeindruckt fuhr Teje fort. „Schau, Re-ne-nutet, mein Bruder Eje hat nur zwei Töchter und keinen Sohn. Wer soll eines Tages das Amt des Vorstehers der Pferde übernehmen?“

„Das Amt des Vorstehers der Pferde?“, fragte Re-ne-nutet. „Das ist aber ein hohes Amt.“

„Das allerhöchste im Militär, fast einem Wesir gleich“, triumphierte Teje. „Aber es ist natürlich ganz allein Haremhabs Entscheidung, ob er dem Ruf Pharaos folgen will oder nicht. Ich gehe jedoch davon aus, dass er begeistert annehmen wird, wenn man ihn fragt, ob er seine Karriere in Waset fortsetzen möchte.“ Re-ne-nutet schluckte. „Es wäre uns allerdings daran gelegen“, sagte Teje mit dem Tonfall einer guten Freundin, „wenn man ihm nicht hineinredete, um seine Entscheidung dahingehend zu beeinflussen, dass er möglicherweise noch ablehnt, um in Hut-nesu zu bleiben. Ein Offizier, der Pharaos Ruf ablehnt, ist meistens nicht mehr wohl gelitten bei seinen Soldaten.“ Teje schüttelte ihr Haupt. „Man redet viel, wie Du ja weißt. Aber er könnte dann immer noch Bauer werden. Ihr habt doch noch eure Landwirtschaft, Hor-wer und du?“ Re-ne-nutet nickte stumm. „Na siehst du. Dann hättest du ein Bäuerlein zum Sohn, das dann tagtäglich um dich ist. Ich frage mich nur“, Teje richtete sich auf und lächelte auf die andere Seite des Saales zu Haremhab hinüber, der sofort spürte, dass über ihn geredet wurde, „ob dein überaus begabter und kluger Sohn damit zufrieden sein wird. Du weißt ja, dass Entscheidungen, die man jemandem zuliebe gegen sein eigenes Herz getroffen hat, oft der Ursprung des Hasses sind. Nun, Thutmosis wird ihn gleich fragen und ihn bis morgen zu einer Antwort auffordern. Ich denke, du wirst dich so verhalten, wie es Haremhab gut tut.“ Teje erhob sich und richtete ihren Blick in die Ferne. „Es war nett mit dir zu plaudern, Re-ne-nutet.“ Als sie ging, winkte sie Amenhotep zu sich. „Sag deinem Bruder“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „dass Haremhabs Mutter es nicht wagen wird, ihren Sohn in seiner Entscheidung zu beeinflussen.“

Amenhotep nickte nur stumm. „Das hast du gut gemacht, Mutter. Vater wird es freuen. Was für eine starke Frau er doch hat.“ Teje sah ihren Sohn verwundert an. „Na, kein Schweißperlchen steht auf Deiner Stirn, Mutter. Wo doch die Krone aus purem Gold ist und schwer wie ein Ochse.“

„Darf ich dir was verraten, mein Liebling?“ Teje klopfte an ihre Geierhaube. „Ich habe mir eine Kopie aus Holz und Leder machen lassen, die anschließend vergoldet wurde. Sieht täuschend echt aus, nicht? Die Echte, das uralte Ding, ist ja wirklich untragbar.“

Ani war es peinlich, all diese Dinge mitzubekommen. Lieber hätte er sie nicht gehört, denn sie machten die Göttlichen so überaus menschlich. Schnell folgte er seinem Herrn auf die andere Seite des Saales. „Das waren heute also die Lektionen Eins und Zwei“, dozierte Amenhotep, dem dies alles tatsächlich Spaß zu machen schien. „Lektion Eins: Wie erlange ich einen Titel. Hohepriester des Ptah etwa. Lektion Zwei: Wie gewinne ich einen Menschen. Haremhab wird unser General.“

Haremhab war tatsächlich überrascht, als Thutmosis ihn fragte, ob er bereit wäre, nach Waset zu kommen. „Und die Truppen, die du jetzt befehligst, lässt Pharao dann natürlich auch mit dir nach Waset gehen“. So überlegte Haremhab nicht lang ‑ nein, eigentlich überlegte er überhaupt nicht ‑ und sagte sofort zu. „Ich brauche keine Bedenkzeit, Sohn und Thronfolger des Guten Gottes. Ich stehe Pharao mit Leib und Seele zur Verfügung.“ Re-ne-nutet hatte die ganze Zeit angespannt herübergestarrt, wie Ani aus den Augenwinkeln sehen konnte und ahnte wohl, wie das Gespräch ausgegangen war.

Auch mit Haremhab verstand sich Amenhotep prächtig. Vielleicht sogar noch besser als mit Huy, der als Mitglied einer der ältesten Adelsfamilien förmlich und distanziert geblieben war. Haremhab war ein nüchterner junger Mann, der mit dem Prinzen zwar respektvoll, aber dennoch wie mit Seinesgleichen sprach. Er betonte die Notwendigkeit der Stärke Ägyptens, das er von Feinden umzingelt sah, die nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, um ein Stück aus dem Leib des Landes zu reißen. Amenhotep war diesbezüglich sehr viel entspannter, war er doch der Meinung, dass Ägyptens überlegene Kultur die Fremdländer eher zur Nachahmung, denn zu Eroberungszügen anregen würde. Allerdings sah auch er, dass der ägyptische Götterglaube viel zu unübersichtlich und zu wenig nachvollziehbar für Fremde war, als dass sie sich ihm anschließen könnten. „Man müsste mal tüchtig aufräumen mit dem Wust an Göttern und Dämonen“, äußerte sich Amenhotep freimütig und schaute Haremhab dabei forschend ins Gesicht. Doch der zuckte nur mit den Schultern. „Davon weiß ich nichts“, sagte Haremhab unverblümt. „Ich bin Soldat und sehe nur die Gefahren, denen ein schwaches Ägypten von außen ausgesetzt ist.“ Amenhotep schien äußerst zufrieden mit der Antwort zu sein und wünschte Haremhab noch einen netten Abend.

„Ein Militär durch und durch“, flüsterte Amenhotep Ani ins Ohr. „Innen- und Religionspolitik dürften ihn also kaum interessieren. Er wird meinem Vater und später auch meinem Bruder ein treuer Vasall sein.“

„Er ist beseelt davon, der Größe Ägyptens zu dienen“, bestätigte Ani. „Und Loyalität gegenüber seinem Pharao ist für ihn selbstverständlich. Jedenfalls gibt es keinerlei anders lautende Einträge in seiner Akte. Lediglich zu seinem Privatleben…“

„Spielt er? Das machen schließlich alle Soldaten“, meinte Amenhotep nachsichtig. „Oder trinkt er etwa?“

„Nein, nein“, schüttelte Ani den Kopf. „Nichts dergleichen ist bekannt. Aber…“, Ani zögerte, „er liebt seine Soldaten.“

„Ach so …“, Amenhotep verstand. „Er ist doch hoffentlich diskret? Die Amun-Priester würden es sogleich wieder als Zeichen höfischer Dekadenz ausschlachten.“

„Vollkommen!“ Ani nickte eifrig. „Es sind sowieso nur Vermutungen. Wenn auch begründete.“

„Na dann …“, Amenhotep winkte ab. „Solche Vermutungen werden ständig über irgendjemanden geäußert. Solange er diskret ist, mag er machen was er will. Und sollte er eines Tages tatsächlich Vorsteher der Pferde werden, dann verheiraten wir ihn einfach an irgendeine der schmucken Damen hier.“ Amenhotep sah sich belustigt um, bis sein Blick auf Mutnedjmet fiel, die sich gerade, umringt von staunenden Halbwüchsigen, mit ihrem Pygmäen hervortat. Wieder und wieder schlug sie ihm auf den Kopf und rief: „Tanz schneller, du Zwerg, schneller!“

„Von mir aus gerne auch mit der mir zugedachten Dame.“ Amenhotep deutete mit dem Kopf nach Mutnedjmet und lachte anzüglich. „Die würde dem armen Haremhab Beine machen, wie ihrem Zwerg.“

„Mit Verlaub, mein Herr…“ Ani deutete unwillkürlich eine Verbeugung an. „Haremhab ist kein Zwerg.“

Amenhotep schaute verdutzt. Dann nickte er. „Da hast du allerdings recht“ und zog Ani am Arm fort. Denn inzwischen stand Rechmire neben Pharao auf dem Podest und schlug seinen Zeremonienstab mit aller Kraft auf den Boden, so dass sich manche der Gäste regelrecht erschraken.

„Der Gute Gott, Neb-maat-re, der Herrscher von Ober- und Unterägypten, Bezwinger der Fremdländer …“ Endlos schienen die Aufzählungen Rechmires. Ani war klar, dass es eine hochoffizielle Verlautbarung werden würde, wenn derart ausführlich sämtliche Titel genannt wurden.

„…dass Thutmosis, der Sohn und Thronfolger des Guten Gottes…“

Ani konnte sehen, wie sich Thutmosis am Eingang zum Audienzsaal in Stellung brachte.

„…seine zukünftige Gemahlin willkommen heißt.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Für viele war damit der lang gehegte Traum von der bestmöglichen Partie endgültig vorüber. Rechmire machte eine ausgiebige Pause. So lang, dass selbst Pharao unruhig auf seinem Thron hin- und herrutschte. „Die Schöne ist gekommen. Nofretete, Tochter des Vorstehers der Pferde Eje, Nichte der Großen königlichen Gemahlin Teje…“

Dieses Mal war es nicht nur ein Raunen, das die Luft erfüllte. Es war ein Erquicken der Launen, ein Seufzen und Staunen! Bewunderung drückte sich in Worten, Gesten und verzückten Reimen aus, die einander zu übertreffen suchten. Doch selbst Ani war sprachlos als er Nofretete sah. Gewiss war sie für ihn eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte. Aber sie war ihm auch Kameradin, ja, fast Freundin. Ani lächelte. Musste er doch an seine frühere kleine Freundin Sahirah denken, die Tochter des Töpfers, die es immer vermieden hatte, ihn einen Freund zu nennen. Ob er für Nofretete ein Freund war, wagte er sich jetzt, wo er sie neben Pharao stehen sah, jedoch nicht mehr zu fragen.

Sie war die ebenmäßigste Schönheit, die jemals die Welt erfreut hatte. Nicht übermäßig groß, doch ihre schlanke, ein wenig in die Höhe strebende Figur, ließ sie wie eine Göttin erscheinen. Fast meinte Ani, ihm sei eine ganz andere Nofretete erschienen, als jene, die er kannte und die ihm vor wenigen Tagen erst, über und über mit Staub bedeckt, versprochen hatte, dass sie ihm das Führen eines Streitwagens beibringen würde. Nun trat sie aus dem Dunkel des Palastes ins Licht, hell und strahlend wie ein neuer Stern.

Nofretete war ganz in weiß gekleidet. Ihr eng anliegendes Gewand, war aus allerfeinstem königlichem Leinen, so delikat und durchsichtig, dass es einem Hauch glich. Vom Halsausschnitt, den ein üppiger Blumenkragen aus Fayenceperlen schmückte, bis hinunter zu den Füßen war ihr Kleid in Hunderte von feinsten langen Falten gelegt, die ihre aufragende Schlankheit zusätzlich betonten. Ihre Kalasiris wurde an der Taille nicht von einem Gürtel gehalten, sondern war dort, den Formen ihres Körpers eng anliegend folgend, mit einigen wenigen Stichen zusammengeheftet. Nofretete war buchstäblich in ihr Kleid eingenäht worden. Eine schlichte schwarze Perücke und ein zierliches goldenes Diadem bedeckten ihr Haupt, das sie stolz in den Nacken legte und so ihren schönen, langen Hals zur Wirkung kommen ließ. Kaum älter als siebzehn, ertrug sie es ohne auch nur eine Spur von Unsicherheit zu zeigen, dass Hunderte von Augenpaaren sie anstarrten. Sie wusste, dass es ihre Aufgabe war, eine Göttin darzustellen, ja, eine Göttin zu sein. Als sie die wenigen Stufen des Podestes herab geschritten war, sich also gleichsam von dem Ort, der den Göttern vorbehalten war, in die Sphäre der Sterblichen hinab begeben hatte, wich man vor Ehrfurcht zurück und murmelte beifällige Worte. Sie durchschritt den Audienzsaal, während Thutmosis dasselbe tat und ihr entgegen kam. In der Mitte des Saales trafen sie sich. Thutmosis ergriff ihre Hand und führte sie unter dem Beifall aller wieder zurück auf das Podest, zu den Göttern. Jedermann war klar, dass Ägypten zukünftig abermals von einer Göttin regiert werden würde. Selbst in Tejes Gesicht meinte Ani bewundernde Anerkennung für ihre Nichte und zukünftige Schwiegertochter lesen zu können. Wenngleich ihr sicherlich durchaus bewusst sein musste, dass es ihr Platz war, den Nofretete einst einnehmen würde.

Der Abend war ein grandioser Erfolg, hatte man sich doch vom ungebrochenen Glanz und der Stärke der königlichen Familie überzeugen können, die eine sichere Zukunft ermöglichen würde. Man schwatzte über die zu Gehör gebrachten neuen Lieder, lobte die herrlichen Speisen, kicherte über das klebrige Harz aus Khiosi und kommentierte wohlwollend bis spitzzüngig Kleidung und Schmuck der anderen Damen.

Es war weit nach Mitternacht, als sich Pharao erhob, um sich in Begleitung seiner Großen königlichen Gemahlin zur Ruhe zu begeben. Anschließend dankte Rechmire den Großen des Reiches für ihre Anwesenheit und wünschte ihnen einen glücklichen Heimweg. Amenhotep und Ani nutzten die Gelegenheit, um noch einmal alle Gäste des Abends an sich vorbei paradieren zu lassen. Sie hatten sich in eine Nische in der Nähe des Eingangs zum Innenhof gestellt, gleich neben dem Baderaum, in dem Ani vor Monaten seine rituelle Reinigung empfangen hatte. Es schien ihm inzwischen, als sei es Jahre her, seit er als Sohn eines einfachen Pachtbauern hier eingetroffen war. Wie hatte sich sein Leben doch verändert?!

Als die letzte der Damen gegangen war – sie hatte noch erfolglos versucht, mit einem der Spalier stehenden Soldaten anzubändeln – und das große Tor zum Palast geschlossen wurde,

war ein einstimmiges Seufzen der Erleichterung zu vernehmen. „So und jetzt“, sagte Amenhotep leise zu Ani und legte ihm die Hand auf die Schulter, „jetzt geht es noch zur Nachbesprechung auf die Terrasse.“

Es war eine warme Spätsommernacht und die Sterne funkelten am wolkenlosen Himmel. Die ganze Familie saß bereits versammelt, als schließlich auch Amenhotep in Begleitung Anis auf der Terrasse Pharaos eintraf. Mutemwia ließ sich von ihrer Leibdienerin die müden Füße massieren. Teje hatte sich umgezogen und trug eine schlichte Kalasiris, die aus einem einzigen rechteckigen Stück Leinen bestand, das um den Körper gefaltet worden war und unterhalb der Brust mit einer goldenen Agraffe zusammengehalten wurde. Pharao hingegen war noch immer in seinem Ornat und hatte sich lediglich von den Zeptern und der schweren Doppelkrone befreit. Ani sah ihn zum ersten Mal ohne Kopfbedeckung oder Perücke. Es war eine Weile her, dass Pharao sich den Kopf hatte rasieren lassen, so dass einige letzte verschwitzte Strähnen von seinem fast kahlen Kopf abstanden. „So, der erste Abend wäre überstanden“, seufzte er erleichtert. „Morgen geht es weiter. Dann haben wir den nächsten Empfang für die nächsten acht unserer Fürsten. Übermorgen Abend haben wir Ruhe, dann zwei weitere Tage mit Empfängen, dann wieder ein Ruhetag und zum Abschluss der Feierlichkeiten zum Opet-Fest abermals zwei Abende mit Empfängen.“ Pharao richtete sich auf. „Aber der erste Abend ist doch wunderbar gelaufen, meint ihr nicht auch?“ Er schaute fragend in die Runde und alle nickten zufrieden. „Sobald das Opet-Fest vorbei ist, werde ich mit Thutmosis und Amenhotep aufbrechen. Amenhotep werden wir unterwegs in Achmim absetzen, wo er sich dann seinen Kunst- und Architekturstudien widmen kann. Thutmosis und ich werden nach Men-nefer weiterfahren, um der Beisetzung des Apis-Stieres beizuwohnen. Die Herren aus Men-nefer haben sich offenbar kooperativ gezeigt?“

Stolz berichtete Amenhotep von seinem Gespräch mit Huy, dem Sohn das Gaufürsten Heby von Men-nefer. „Sein Interesse ist alles was die Amun-Priester schwächen könnte, damit Men-nefer wieder an Einfluss und Macht gewinnt. Huy ist Leiter der Feste des Ptah und wollte nicht ausschließen, dass der Gott anlässlich der Beisetzung des Apis-Stieres sich in einem Orakelspruch unter den Schutz von Thutmosis zu stellen wünscht.“

Pharao war begeistert. „Wir werden die Gelegenheit unseres Besuches in Men-nefer nutzen, um ausführlich mit ihm zu reden. Es wäre vorteilhaft, Thutmosis“, wandte er sich an seinen ältesten Sohn, „wenn du erkennen ließest, dass du als Pharao einer Rückverlegung der Hauptstadt nach Men-nefer unter gewissen Umständen nicht abgeneigt gegenüberstündest …“

Thutmosis nickte. „Ich werde ihm schon sagen, was er hören will.“

„Was ist mit Haremhab?“ Pharao schaute in die Runde. „Ich möchte seine Karriere unbedingt fördern, hat er doch felsenfesten Rückhalt bei seinen Soldaten.“

„Kein Problem“, wusste Thutmosis zu berichten. „Ich hab ihm versprochen, dass er seine Truppen nach Waset mitnehmen kann. Er hat sofort zugesagt.“

„Das klingt gut“, meinte Pharao nachdenklich. „Aber ist auf ihn auch Verlass?“

„Davon bin ich überzeugt“.“ Amenhotep lächelte. „Er ist durch und durch Militär und weder an Innenpolitik noch an Religion interessiert. Und außerdem gibt es an seiner Loyalität dem Reich und Pharao gegenüber keinen Zweifel.“

„Sehr schön!“ Pharao lächelte zufrieden. „Aber was ist mit seiner Mutter? Re-ne-nutet liebt ihn abgöttisch und hat schon mehrfach seine Karriere behindert, da sie ihn nicht aus Hut-nesut fortgehen sehen möchte.“

„Ich habe ihr ins Gewissen geredet.“ Teje zupfte ihre Kalasiris zurecht. „Sie wird ihn ziehen lassen.“

„Oh, das ist eine gute Nachricht“, freute sich Pharao und wandte sich an Eje. „Schwager, sei so gut und nimm Haremhab ein wenig unter deine Fittiche. Nach allem was ich über ihn weiß, dürfte er zu den größten Hoffnungen Anlass geben. Es wäre schade, dieses Talent ungenutzt zu lassen.“

Einer nach dem anderen berichtete nun kurz und knapp über die geführten Gespräche. Eje konnte Pharao der ungeminderten Loyalität seines Onkels Minemhat versichern, Sit-amun wusste aufgrund ihrer Plaudereien mit den Kindern der Gaufürsten über etliche Erkenntnisse zu berichten, die Ani sich vornahm, gleich morgen in deren Dossiers nachzutragen. Er war froh, als Pharao endlich die formlose Zusammenkunft für beendet erklärte, war er doch so müde, dass ihm die Augen zuzufallen drohten. „Morgen geht es weiter“, verkündete Pharao. „Und es wird gewiss kein leichterer Tag als heute.“

In der Tat war keiner der nun folgenden Tage leichter, auch wenn jeder zweite Abend ohne Gäste blieb. Diese Abende wurden allerdings dazu genutzt, um sich innerhalb der königlichen Familie über die neuesten Erkenntnisse auszutauschen und die politischen Vorhaben der nächsten Zeit zu besprechen. Mit staunender Bewunderung sah Ani wie Pharao ohne zu klagen oder zu murren jeden Morgen bei Sonnenaufgang seine religiösen Pflichten wahrnahm, die sich manches Mal bis weit in den Tag hinein erstreckten, nur um sich des Abends wieder seinen Gästen oder der Familie zu widmen. Die üblichen tagespolitischen Verpflichtungen mussten irgendwann zwischendurch erledigt werden, auch wenn sie selten einmal von der Art waren, dass man sie nebenbei abarbeiten konnte. Mehr als ein paar Stunden Schlaf waren Pharao selten vergönnt. Teje, Mutemwia und Eje unterstützten ihn nach Leibeskräften, ebenso wie Thutmosis und Amenhotep, ja, sogar Sit-amun und Nofretete. Doch je länger das Opet-Fest dauerte, desto müder und erschöpfter sah Pharao aus, so dass Ani ihn schließlich aufrichtig bedauerte.

Teje hatte ihm bei einer sich bietenden Gelegenheit ihre Sorgen über den Gesundheitszustand ihres Mannes anvertraut. Er sei neuerdings oftmals sehr erschöpft und überarbeitet, was sie früher nicht von ihm kannte. Teje vermutete, dass es vor allem auf die Zahnschmerzen zurückzuführen sei, die ihn mehr und mehr plagten und ihn auch oft genug des Nachts nicht zur Ruhe kommen ließen. „Ich habe ihm immer gesagt, dass er viel zuviel Brot isst. Seine Zähne sind durch den Sand, der sich wegen des Abriebs der Mahlsteine im Mehl befindet, arg in Mitleidenschaft gezogen. Aber“, sie zuckte mit den Schultern, „er hört ja nicht auf mich. Und außerdem isst er nun einmal nichts lieber als frisch gebackenes Brot. Er lässt sogar die ausgefallensten Leckerbissen dafür liegen.“ In der Tat: Wie oft hatte Ani selbst während der nächtlichen Festmahle Pharao beobachten können, wie er genüsslich auf einem Stück Brot herumkaute, das er sich in einem unbeobachteten Moment schnell in den Mund gesteckt hatte. Seit ihm vor ein paar Jahren einer der Backenzähne gezogen worden war, mied er die Ärzte allerdings wie die Pest. „Schreib das über seine Vorliebe für Brot aber besser nicht in sein Dossier, Ani“, blinzelte Teje ihn an. „Er würde sofort wissen, wer dir dies erzählt hat. Und er mag es überhaupt nicht, wenn jemand aus der Familie etwas über ihn ausplaudert.“

Je besser Ani den Guten Gott kannte, desto menschlicher erschien er ihm. Gleichzeitig stieg jedoch seine Hochachtung, da er erkannte, wie viel Disziplin und Selbstbeherrschung das Hohe Amt von seinem Inhaber forderte. Manchmal gar schien es ihm geradezu übermenschlich, was der Gute Gott leistete. So waren es schließlich aufrichtige Bewunderung und tief empfundener Respekt, die Ani seinem höchsten Herrn entgegenbrachte.

Wie im Fluge waren die Tage der Feierlichkeiten vergangen. Ani glaubte, beobachtet zu haben, dass sich der neue Landmann-Stil tatsächlich ausgebreitet zu haben schien. Immer mehr vor allem junge Familienmitglieder der abendlichen Gäste erprobten sich in der neuen Schlichtheit. Manchmal gar schien es ihm, als wollten die jungen Leute gegen die althergebrachten Traditionen der Elterngeneration aufbegehren und mit ihrer betont schlichten Aufmachung ein Zeichen setzen. In Gruppen standen sie während der Bankette zusammen und diskutierten ihre neuen Gedanken. Man lehnte die ansonsten übliche Heiratspolitik rundherum ab und propagierte die Heirat aus Liebe, so, wie es Pharao mit seiner Großen königlichen Gemahlin Teje vorlebte. Hatte er sich seinerzeit doch gegen alle Widerstände durchgesetzt, um eine Frau von niederem Stand zu heiraten. In den Augen der jungen Leute war die Familie nicht mehr die Keimzelle familienpolitischer Macht, sondern ein Hort der Zuneigung und Liebe, ein Ort der Geborgenheit und des Zusammenhalts. Insbesondere die jungen, gebildeten Frauen sahen in Tejes Stellung den Beleg dafür, dass Mann und Frau einander unterstützen und nicht dominieren sollten. Sie beschworen neue Zeiten herauf, in denen Mann und Frau einander ebenbürtig sein würden und in Liebe verbunden der Familie und letztendlich auch dem Staat vorstanden. Ihre Heldinnen waren Tetischeri, die maßgeblich an der Befreiung von der Fremdherrschaft der Hyksos beteiligt gewesen war und natürlich Hatschepsut, der ruhmreiche Pharao, der Ägypten zur Blüte geführt hatte und über dessen Weiblichkeit zu sprechen bislang als unschicklich galt. Warum sollten Frauen nicht gleichberechtigt neben ihren Männern stehen, wo sie doch keineswegs dümmer oder weniger willensstark waren, so wie es von den alten konservativen Kräften noch immer gern behauptet wurde.

In zahlreichen Gesprächen hatte Ani feststellen können, dass dieses neue Gedankengut schließlich auch vor der religiösen Einstellung keineswegs Halt machte. In den Augen der Jungen hatten die Priester ihre in den letzten Generationen immer größer gewordene Macht lediglich dazu genutzt, um ihren Reichtum und ihren persönlichen Einfluss zu mehren und um darauf zu achten, dass Frauen ihnen ihre Stellung nicht streitig machen konnten. Das gesamte religiöse System Ägyptens schien ihnen zu einem bloßen Machtapparat verkommen zu sein, wie Ani mehrfach aus ihren Bemerkungen heraushören konnte. Waren nicht auch Schu und Tefnut gleichberechtigt? Die beiden ersten Götter, die der Schöpfergott Atum am Anfang allen Seins hervorgebracht hatte und die einer ohne den anderen nicht denkbar waren. So, wie Pharao und seine Große königliche Gemahlin Teje, die ebenso eine Einheit bildeten und einander in Liebe und Vertrauen zugetan waren. Ja, einige von den Priestern gern als Extremisten bezeichnete junge Hitzköpfe gingen sogar soweit, zu behaupten, dass eine große Zahl der Götter lediglich aus regionalen Interessen erfunden worden sei. Hatte doch jede Stadt Ägyptens, ja, fast ein jedes Dorf, einen eigenen Gott, von denen sich manche im Lauf der Jahrhunderte zu Reichsgöttern entwickelt hatten, die schließlich im ganzen Land verehrt wurden. Mit Erschrecken musste Ani feststellen, dass sogar eindeutig ketzerische Gedanken freimütig von den jungen Leuten diskutiert wurden. War ein jeder der zahllosen Götter letztendlich nicht nur jeweils ein Aspekt einer einzigen göttlichen Macht? Ani musste an seinen allerersten Tag bei Hofe denken, als er mit Amenhotep zum Einbalsamierungshaus fuhr, um sich von seinem Vater zu verabschieden. Amenhotep hatte ihn damals gewarnt, derartiges Gedankengut niemals außerhalb der Familie zu äußern. Und nun sah Ani die jungen, schlicht gekleideten Menschen aus den besten Familien Ägyptens, wie sie freimütig über all dies diskutierten. „Ihr Stand und ihre Herkunft schützen sie“, flüsterte ihm Amenhotep ins Ohr. „Sind es doch die Kinder, Neffen und Nichten oder Enkel und Urenkel der Oberpriester und Gaufürsten.“ Auf Anis Frage, warum dann der Pharao und seine Familie derartiges nicht öffentlich äußern dürften, antwortete Amenhotep nur knapp: „Weil Pharao die Macht hat, solche Überlegungen tatsächlich zur Wahrheit werden zu lassen. Und du wirst dir denken können, dass es Kräfte gibt, die alles daran setzen werden, dies zu verhindern. Es würde das Land in einen Bruderkrieg stürzen und auf Jahre hinaus schwächen. Noch ist es zu früh dazu. Aber Thutmosis wird dies vielleicht eines Tages ändern können.“

Am Abend bevor Amun zum Ende des Opet-Festes wieder in seinen dunklen Tempel gesperrt wurde, wo er dann bis zum nächsten Jahr verborgen blieb, wurde bei Hofe das letzte Festmahl veranstaltet. Pharao hatte Meri-ptah an jenem Abend geladen, den Obersten Priester des Amun, der sich durch die schamlose Anhäufung von Reichtum und Macht zur grauen Eminenz des Reiches intrigiert hatte. Er stand für die konservativen Kräfte im Land und stellte für die jungen, von neuen Ideen beseelten Menschen das Feindbild schlechthin dar. Aber Pharao hatte auch Aper-El und seine Gemahlin Weria geladen, einen hochgebildeten Syrer aus Ugarit, dessen Klugheit und umfassendes Wissen er für sich zu nutzen wusste. Aper-El war als Sohn des Königs Ammistamru bereits als Kind an den Hof Pharaos gekommen, um seinen Vater zeit seines Lebens dazu zu veranlassen, sich in Wohlverhalten gegenüber dem Reich am Nil zu üben. In Aper-Els Dossier hatte Pharao das Wort Geisel irgendwann einmal eigenhändig gestrichen und durch das Wort Gast ersetzt. Erst im vergangenen Jahr hatte Pharao ihn zum Königlichen Siegelbewahrer und Schreiber ernannt, was einiges an Aufsehen verursacht hatte, da man einen Fremden in einer derart hohen Stellung voller Misstrauen betrachtete. Insbesondere da sein Name übersetzt „Diener des El“ bedeutete, der als Hauptgott der ugaritischen Religion galt und von den Adeligen seiner Heimat sogar als einziger Schöpfergott verehrt wurde. Aber gerade diese Tatsache, machte ihn bei den jungen Adeligen Ägyptens besonders beliebt.

An jenem Abend ließ Pharao durch Rechmire verkünden, dass Aper-El sämtliche Beamte, die mit auswärtigen Dingen befasst waren, in der akkadischen Sprache und Keilschrift unterweisen solle, damit die königliche Korrespondenz mit den Fremdländern fürderhin hoffentlich ohne die üblichen Ungenauigkeiten in der Übersetzung auskommen würde. Meri-ptah wagte es tatsächlich, in aller Öffentlichkeit zu protestieren. Denn ein Fremder, der einem fremden Glauben anhing und im Namen Pharaos in fremder Sprache korrespondierte, konnte nichts anderes bedeuten als den langsamen Niedergang der ägyptischen Kultur. Habe man doch schon bei den Hyksos gesehen, wohin das führe, wenn man Fremdländischen zu viele Freiheiten gestatte. Man nimmt sie bei sich auf und irgendwann reißen sie dann die Macht an sich …

Dieser Einwand, der teils mit heftigem Murren, teils mit beifälligem Raunen bedacht wurde, war nicht nur ein Verstoß gegen die höfische Etikette, sondern stellte einen ungeheuerlichen Affront dar. Wagte Meri-ptah es doch, den Entschluss des Guten Gottes in aller Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Nur Tejes Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass der hochrot angelaufene Pharao nicht doch noch restlos seine Haltung verlor. Schon war er aufgestanden, blieb aber regungslos stehen, ohne ein Wort von sich zu geben. Er hatte in Tejes Augen gesehen, so hatte Ani beobachten können, und vertraute der Mahnung, die er darin sah. Teje stellte sich neben ihrem Mann auf und zeigte ein nichtssagendes Lächeln. „Der Gute Gott zieht sich nun zurück, um sich auf die Verabschiedung Amuns vorzubereiten.“ Einige junge Leute lachten frech ob der Zweideutigkeit, während Meri-ptah sich besann und der Länge nach zu Boden fiel. Er hatte es gewagt, den Guten Gott in aller Öffentlichkeit anzugreifen. Er hatte an der Richtigkeit der göttlichen Entscheidungen gezweifelt. Und er wusste nur allzu gut, dass darauf eigentlich der Tod stand. Ani konnte sehen wie Meri-ptah zitterte, als er die Hände flehentlich erhob. Doch weder Pharao noch Teje würdigten ihn eines Blickes und waren, nachdem Pharao Rechmire etwas zugeflüstert hatte, ohne sich noch einmal umzusehen gegangen. „Die Feierlichkeiten“, verkündete Rechmire hoheitsvoll, „mögen weitergehen, auch wenn Pharao nun andere Pflichten zu erfüllen hat. Zur Vervollkommnung des Abends hat Pharao bestimmt, den königlichen Siegelbewahrer und Schreiber Aper-El zum Wesir von Unterägypten zu ernennen.“ Jetzt, wo der Gute Gott nicht mehr unter ihnen war, jubelten die einen ungeniert, während die anderen zaghaft murrten. Rechmire stieß seinen Stab auf den Boden. „Die Große königliche Gemahlin Mutemwia, der Gottessohn und Thronfolger Thutmosis sowie die anderen Gottessöhne und Gottestöchter werden nun Augen und Ohren für euer Glück, aber auch für eure Sorgen und Nöte haben.“ Womit nichts anderes gemeint war, als dass die noch anwesenden Mitglieder der königlichen Familie sich nun zum Plausch unter ihre Untertanen mischten.

Dies war eindeutig der lebhafteste der sechs Abende gewesen, dachte Ani, umgeben von lauthals miteinander diskutierenden Menschen. Einen Augenblick überlegte er, ob er dem völlig verängstigten Meri-ptah aufhelfen solle, der noch immer unbeachtet vor dem leeren Podest im Staub lag. Doch dann fiel ihm ein, dass Meri-ptah als Oberpriester des Amun es letztendlich war, der den Tod seines Vaters zu verantworten hatte. Thutmosis war inzwischen zu dem am Boden Liegenden getreten. „Wie es scheint, so hast du dich dieses Mal überschätzt, Meri-ptah“, sagte er mit kalter Stimme und stellte seinen Fuß direkt vor dessen Gesicht. „Du kannst jetzt nur noch auf Pharaos Gnade hoffen.“

Ani wandte sich ab und ging zu Amenhotep, der bereits angeregt mit Aper-El sprach. Er kam an jener kleinen Tür für Diener vorbei, die er so häufig schon benutzt hatte, um schnell von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Jemand hatte sie offen gelassen. Und aus irgendeinem der fernen Flure hörte Ani eine Stimme brüllen: „Und ich will seinen Kopf!“ Er wusste, dass es Pharaos Stimme war.

Aper-El war ganz erschüttert über die Vorgänge, die er ausgelöst hatte. Er war gerade einmal fünf Jahre alt gewesen, so erzählte er aufgewühlt, als er in Pharaos Obhut übergeben worden war. Und obwohl er um seine Herkunft wusste und wohl auch noch ein paar Erinnerungsfetzen an seine Kindheit hatte, fühlte er sich vollkommen als Ägypter. Weria, seine Frau, stand kreidebleich neben ihm. Sie entstammte einer der wenigen Hyksos-Familien, die nicht ermordet oder vertrieben worden waren; vielleicht weil sie zu einflussreich oder aber einfach auch nur unverzichtbar waren. Amenhotep redete freundlich auf die beiden ein, doch sie konnten sich kaum über die so unerwartete wie außergewöhnliche Ehrung durch Pharao freuen. Also stellte Amenhotep Aper-El den königlichen Schreiber und Freund des Gottessohnes Ani vor, wobei er auch nicht vergaß, dessen gegenwärtige Aufgabe zu erwähnen. „Er kann Pharaos Pläne mit dir bestätigen. Frag ihn, wenn du willst.“ Ani antwortete ungefragt und berichtete von Pharaos längst schon schriftlich festgehaltenen Entschluss, Aper-El zum Wesir zu ernennen. „Nun ist es ein wenig früher geschehen als geplant“, endete Ani. „Aber nicht weniger gerechtfertigt.“ Aper-El schien sehr erleichtert zu sein, als er dies hörte.

Wurde sonst an solchen Abenden eigentlich immer nur berichtet, was in den einzelnen Familien während des vergangenen Jahres vorgefallen war, so drehten sich dieses Mal die Unterhaltungen ausschließlich um die notwendigen Veränderungen, um Ägypten in eine aussichtsreiche Zukunft zu führen. Auf Thutmosis lagen sämtliche Hoffnungen der Jungen. Er würde die verkrustete und in alten Traditionen gefangene Gesellschaft Ägyptens erneuern und vielleicht sogar die Kraft haben, eines Tages die nicht minder sklerotisch gewordene Religion zu reformieren. Es war weit nach Mitternacht, als Amenhotep und Ani sich auf der Terrasse Pharaos einfanden.

Teje saß neben ihrem Mann und hielt besänftigend seine Hand. Noch nie hatte Ani den Guten Gott derart erregt gesehen. Sein hochroter Kopf schien noch größer geworden zu sein und seine sonst so gütigen Augen blickten starr und böse vor sich hin. „Meri-ptah wird seine Insubordination büßen“, sagte er immer wieder. „Ich will seinen Kopf! Seinen Kopf soll man mir bringen!“

„Geliebter“, versuchte Teje ihn zu beruhigen. „mach ihn nicht zum Märtyrer für seine Anhänger. Meri-ptah könnte uns tot noch gefährlicher werden als lebendig.“

„Mach ihn einen Kopf kürzer!“, schrie Thutmosis, wie immer um eine wenig versöhnliche Lösung bemüht. „Dieses Schwein hat nichts anderes verdient!“

Pharao sah zu Mutemwia, seiner Mutter, deren Ratschläge ihn besonders am Anfang seiner Regierung so oft aus manch aussichtslos erscheinenden Situationen gerettet hatten. „Es muss ein Exempel statuiert werden, das ist eindeutig“, überlegte sie. „Aber ich stimme andererseits auch Teje zu: Ein geköpfter Meri-ptah wird zur Gefahr für uns alle. Man wird dir sofort vorwerfen, du hättest ihn hinrichten lassen, damit dein Schwager Anen endlich als Oberpriester nachrücken kann. Wir sollten mit Schläue und Vorsicht vorgehen.“

Auch Eje stimmte Mutemwia zu. „Dennoch ist es an der Zeit, dass wir Meri-ptah loswerden. Welche Unverfrorenheit wird er sich als nächstes herausnehmen? Das Volk aufwiegeln? Er wird es auf einen Machtkampf zwischen der weltlichen und der religiösen Macht ankommen lassen. Und da er als Oberpriester für das Jenseits zuständig ist, du als Pharao aber vor allem für das Diesseits, wird er diesen Kampf auf lange Sicht gewinnen. Denn zu groß ist die Furcht unserer Ägypter vor der Wägung des Herzens, die darüber entscheidet, ob sie im Jenseits fortleben dürfen oder der ewigen Verdammnis anheim fallen.“

Lange schaute Pharao stumm vor sich hin und blickte dann Amenhotep ins Gesicht. „Was meinst du, mein Sohn.“

„Vielleicht sollte Ani uns erzählen, was alles sich in Meri-ptahs Dossier findet.“ Amenhotep zog Ani neben sich und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Nun …“, fing Ani zunächst zögerlich an zu berichten. „Meri-ptah scheint bis auf seine grenzenlose Gier nach Einfluss, Macht und Reichtum ein unbescholtener Mann zu sein. Vielleicht ist er ein wenig zu freizügig, was sein Geschlechtsleben betrifft. Es gibt allerdings ein paar Vermutungen, wonach er sich auch schon einmal bestechen ließ, endgültig nachweisbar ist aber nichts davon. Dazu ist er entweder zu geschickt vorgegangen oder aber tatsächlich unschuldig. Von Interesse könnte hingegen sein, dass er fast sein gesamtes Vermögen in die Ausgestaltung seines Grabes steckt. Er lebt mit seiner Gemahlin recht bescheiden in einem nicht allzu großen Anwesen. Das einzig Erwähnenswerte schien den Berichterstattern jedoch der aufwendig angelegte Garten zu sein. Es ist wohl ein Herzenswunsch, den er seiner Frau…“

„Hör auf mit den Geschichten!“, Amenhotep hatte ihn unsanft angestoßen. „Sag uns, wie wir ihn packen können!“

„Also …“, stammelte Ani, der auf einmal sehr gut nachempfinden konnte wie sich Mutnedjmets Zwerg fühlen musste, „Meri-ptah ist vollkommen auf das Jenseits fixiert, was in seinem vorgerückten Alter allerdings auch kein Wunder ist.“ Ani senkte unwillkürlich seine Stimme. „Dennoch sollte man davon ausgehen, dass eine Hinrichtung und Aberkennung aller Ehrentitel das Schlimmste sein dürfte, das ihm widerfahren kann. Insbesondere da man ihn dann namen- und ehrlos in der Wüste verscharren würde und sein fast fertig gestelltes, reich ausgeschmücktes Grab jemand anderem zufallen würde.“

„Also doch Kopf ab!“, rief Pharao eifrig.

„Er hätte es nach dem Gesetz zweifellos verdient“, pflichtete Ani ihm bei. „Doch die Großen königlichen Gemahlinnen Mutemwia und Teje sehen zu Recht die Gefahr, dass er dadurch für seine Anhänger zum Märtyrer werden könnte, der für seinen Gott Amun das Leben lassen musste.“ Wie ein Verschwörer flüsterte Ani mehr als dass er sprach. „Da die Ausgestaltung seines Hauses für die Ewigkeit das Wichtigste für ihn zu sein scheint, sollte man versuchen, ihn hierüber zu fangen. Man könnte ihn vor die Wahl stellen, hingerichtet und verscharrt zu werden, so dass er den großen, endgültigen Tod sterben würde oder aber…“, Ani zögerte, „…man könnte ihm mitteilen, dass er Titel und Grab behalten könnte, wenn er denn seinem Leben eigenhändig ein Ende setzte.“

„Was für ein durchtriebener königlicher Schreiber der Freund des Gottessohnes doch ist“, staunte Pharao anerkennend, während alle anderen beifällig nickten. „Nun gut! Du wirst morgen mit mir nach Waset übersetzen, Ani, wo ich die letzten Riten an Amun verrichten werde, bevor er wieder für ein weiteres Jahr im Allerheiligsten seines Tempels verschwindet. Du wirst Meri-ptah unser Angebot unterbreiten: Tod und Verdammnis oder aber Tod und ein geehrtes Leben im Jenseits. Keiner seiner erworbenen Titel soll entfernt oder widerrufen werden. Es wäre allerdings von großer Bedeutung, wenn er sich noch vor der Verkündung meines Urteils über seinen Fall entschließen könnte, aus dem Leben zu scheiden. Denn der Adel erwartet schließlich ein Urteil von mir. Alles andere wäre für sie ein Zeichen von Schwäche. Wäre er allerdings schon tot, bevor ich das Urteil verkünde, würde ich in Anbetracht seiner lebenslangen Verdienste um das Reich, den Fall für erledigt erklären.“ Und an Rechmire gewandt fuhr Pharao fort. „Ernennen wir den königlichen Schreiber und Freund des Gottessohnes Ani zum Wedelträger zur Rechten des Pharaos. Er ist uns eine große Hilfe und verdient unser Vertrauen.“ Dann richtete er sich an seine Familie. „Ihr seht. Es ist, wie ich immer schon sagte: Wichtiger als die Herkunft ist das Herz eines Menschen. Und sein Kopf!“ Pharao klatschte sich auf den schweißnassen, fast kahlen Schädel. „Ach, Kinder, ich sage euch“, versuchte Pharao zu einem ernsthafteren Ton zurückzufinden, „welche Talente werden vergeudet, nur weil sie nicht in den angemessenen Stand hineingeboren wurden. Seid also aufmerksam und seht genau hin. Und macht euch zunutze, was ihr als nützlich erkennt.“

Als Ani zu später Stunde seine Gästewohnung betrat, hatte Merit-amun auf ihn gewartet. Sie warf sich vor ihm auf den Boden und küsste seine Füße. „Mein Herr, die Güte des Guten Gottes ist unermesslich. Macht er doch aus Bauernsöhnen Gottessöhne, so wie die Götter aus den Raupen in den Erdlöchern prächtige Schmetterlinge werden lassen. Es erfüllt mich mit Stolz, dir dienen zu dürfen.“

Ani beugte sich zu Merit-amun hinunter und hieß sie aufstehen. „Pass nur auf, dass du nicht zur Motte wirst, mein hübscher Schmetterling, wenn du dir die Nächte wegen mir um die Ohren schlägst. Du solltest längst schon schlafen.“

Der Morgen graute gerade, als Merit-amun Ani mit ihrer Feder kitzelte. „Der Gottessohn Amenhotep erwartet dich. Du sollst die königliche Familie nach Waset begleiten. Eil dich, sie brechen bald auf.“

Schnell ließ sich Ani baden, rasieren und schminken. Als er schließlich in das allgemeine Wohngemach in Amenhoteps Wohnung hinüberging, erwartete der ihn bereits. „Du bist jetzt Teil der Familie, Ani“, sagte Amenhotep mit warmer Stimme. „Der Pharao lässt dich zu seiner Rechten stehen, damit du ihm jederzeit mit Rat und Tat dienen kannst. Nutze das Vertrauen, das er dir entgegenbringt. Denn es dürfte noch kaum je einen Bauernsohn gegeben haben, der zum Wedelträger seiner Majestät aufgestiegen ist. Du fliegst hoch, Ani. Sieh dich also vor, dass du nicht stürzt.“

Es war ungewöhnlich kühl, als sich die kleine Karawane im Innenhof des Palastes in Bewegung setzte. Jeder aus der königlichen Familie hatte in der ihm zugewiesenen Sänfte Platz genommen. Vorneweg Pharao, der müde und grau im vollen Ornat auf seinem Thronsessel saß, gefolgt von Mutemwia und Teje, schließlich Thutmosis und Nofretete. Ani wusste zunächst nicht recht, wo er sich einordnen sollte. Doch Amenhotep gab ihm einen Wink, dass er sich rechts hinter Pharao stellen solle. „Ach, der kleine Bauernbub“, sagte der unerwartet freundlich als er Ani bemerkte. „Mich plagen heute mal wieder meine Zähne, es ist fürchterlich. Und kalt ist es außerdem … Rechmire hat etwas für dich. Geh es dir holen.“

Es war ein kleiner Flakon aus Alabaster, den Rechmire Ani reichte. „Es ist ein Konzentrat aus dem Saft der Mandragora-Früchte, das uns, in Tropfen genossen, einen erholsamen Schlaf zu schenken weiß. Solch ein Fläschchen jedoch sollte ausreichen, um einer handvoll Menschen den ewigen Schlaf zu bescheren. Meri-ptah wird um die Wirkung wissen.“ Ani nickte nur stumm und nahm das Gefäß an sich.

Schnell wurden die Sänften auf Pharaos Schiff Glanz des Aton platziert und schon legte es ab. Langsam klangen die dumpfen Paukenschläge zunächst, die den Ruderern unter Deck den Takt vorgaben. Doch je länger sie den Kanal zum Nil befuhren, desto schneller folgten die Schläge einander. Ani konnte sehen, wie Pharao fröstelte und vermutete, dass der Gute Gott von Fieber geplagt wurde. Er flüsterte Teje seine Beobachtung ins Ohr, die ihn nur erstaunt ansah. Schnell legte sie ihre Hand auf die des Gatten und nickte nur stumm. Sie ließ Rechmire kommen, damit er Pharao etwas von dem fiebersenkenden Saft aus Weidenrinde gebe, der von den Hängen des Libanon kam. Dankbar nahm Pharao einen Schluck und lehnte sich entspannt in seinem Thron zurück. „Ich preise den Tag, an dem Amenhotep dich zu uns brachte“, flüsterte Teje Ani zu und lächelte ihm herzlich ins Gesicht.

Noch waren zu solch früher Stunde nur wenige Menschen unterwegs. Doch fielen sie einer wie der andere in den Staub, als Pharaos Barke an ihnen vorbeizog. Als sie das Einbalsamierungshaus passierte, musste Ani an seinen totgeschlagenen Vater denken. Fest schloss er seine Faust um den kühlen Flakon aus Alabaster. Hatte er doch zunächst damit gehadert, dass ausgerechnet er es sein müsse, der Meri-ptah die Aufforderung zur Selbsttötung bringen würde. Aber bei den Gedanken an seinen erschlagenen Vater kam Ani zu dem Schluss, dass es der Ratschluss des Guten Gottes war, der es ihm ermöglichte, den Tod seines Vaters solcherart zu vergelten. Er war froh und erleichtert, sich nicht als Mörder fühlen zu müssen.

Kaum hatte der Glanz des Aton die Mitte des Nils erreicht, als die Sonne ihre ersten Strahlen über die Berge des östlichen Gebirges sandte. Pharao erhob sich und breitete die Arme aus, so als sei er es, der die Sonne dazu veranlasste, aufzugehen. Ihr Licht spiegelte sich in der über und über vergoldeten Barke, so dass sie wie eine zweite Sonne mitten auf dem Nil strahlte. Unbeschreiblich war der Jubel, der ihnen von Waset aus entgegenkam. Erst jetzt hatte Ani bemerkt, dass das Ufer von Abertausenden von Menschen gesäumt war, die das Wunder der Auferstehung der von Pharao aus der Nacht zurückgerufenen Sonnenscheibe bejubelten.

„Der Gute Gott,

er möge leben eine Million mal eine Millionen Jahre.

Er, der die Sonne erhebt

aus Nacht und Dunkelheit.

Er, der den Nil steigen lässt,

damit fruchtbares Land ihn säume.

Er, der die Maat bewahrt

vor allem, was bös und unrein ist.

Der Gute Gott,

er möge leben eine Million mal eine Millionen Jahre.“

Sie schrieen sich ihre Hoffnung auf ein gutes Leben von der Seele und waren voller Glückseligkeit, dass Pharao über sie wachte und bei den Göttern für sie sprach. Begab sich doch heute der Gute Gott aus himmlischen Welten höchstselbst dorthin, wo seine Untertanen ihr Dasein lebten. Er würde sie sehen, er würde sie hören und schließlich dieselbe Luft atmen wie sie. Er würde sich ihnen zeigen und sie würden sehen, dass er aus Fleisch und Blut war und ihnen so nah, wie keiner der Götter sonst. Der Jubel war unbeschreiblich.

Als die Barke in Waset anlegte, fielen die Menschen zu Boden und priesen den Guten Gott. Schnell hatte die Prozession der Sänften den ersten Pylon des Amun-Tempels erreicht, wo Meri-ptah bereits mit banger Miene wartete. Hatte er doch sein Urteil zu gewärtigen und wusste, dass es kaum gnädig ausfallen konnte. Erst nachdem sie den vierten Pylon hinter sich gelassen hatten, entstieg die königliche Familie ihren Sänften. Konnten sie doch nun sicher sein, dass sie hinter dieser Stelle heiligen Boden betreten würden, der durch keines Sterblichen Fuß je verunreinigt worden war. Wortlos folgte Pharao an der Seite von Meri-ptah der verschleierten Sänftenbarke des Amun, die bereitgestanden hatte, damit der Gute Gott sie zurück ins Allerheiligste begleitete.

Es schien Ani eine Ewigkeit zu dauern, bis sich endlich etwas hinter dem Vorhang regte, der das Allerheiligste vom Tempelraum abtrennte. Pharao kam heraus und sodann Meri-ptah. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren bestieg Pharao die Sänfte und machte sich auf den Rückweg zum Hafen, gefolgt von seiner Familie. Nur Ani blieb zurück und sah Meri-ptah schweigend an.

„So bist du also der Todesbote, Bauernbub“, rief Meri-ptah zu ihm hinüber.

Ani trat näher. „Du kennst mich?“

„Derart wundersame Erhebungen binnen solch kurzer Zeit rufen immer ein gewisses Interesse hervor“, lachte Meri-ptah gequält. „Man spricht über dich bei Hofe – und auch außerhalb. Doch berichte mir: Was hat Pharao dir aufgetragen, dass du mir sagen sollst?“

„Der Tod ist dir sicher“, sagte Ani mit tonloser Stimme. „Doch du entscheidest, ob du ohne deinen Kopf in der westlichen Wüste verscharrt werden wirst oder ehrenvoll in der Erinnerung der Menschen weiterleben möchtest. Deine Titel, dein Besitz und deine Ruhestätte würden nicht angetastet und du könntest Osiris sowie Maat wohlgerüstet mit all deinen Grabbeigaben in die Augen sehen.“

„Wie ich Pharao kenne, wird er mir behilflich sein, ohne Aufsehen und Blutvergießen zu sterben.“

Wortlos reichte ihm Ani das Flakon aus Alabaster. Meri-ptah öffnete es vorsichtig und roch daran. „Oh, wie edelmütig. Mandragora-Saft. Ein sanfter, ein schmerzloser Tod.“ Meri-ptah verschloss den Flakon sorgfältig und wandte sich zum Gehen. Kurz drehte er sich ein letztes Mal um. „Wünsch mir Glück dabei, Bauernbub.“ Und schon war er verschwunden.

Als Ani am Hafen anlangte, war der Glanz des Aton längst schon wieder auf dem Rückweg. Er erschrak, als er die goldene Barke schon weit auf dem Nil sah. Doch zwei Bewaffnete traten sogleich zu ihm und verbeugten sich. „Folge uns, Wedelträger zur Rechten des Königs.“ Auf einem kleineren Handelsschiff, das ein Stück flussabwärts ankerte und das ihm seltsam bekannt vorkam, sah Ani wie Amenhotep auf ihn wartete. Neben ihm stand Arhonuphis, der Schiffsführer, eben jener riesige Nubier, der mit ihm seinerzeit die Mumie seines Vaters abgeholt hatte. Schweigend ging Ani an Bord und fast ohne jeden Laut legte das Schiff ab und segelte über den Nil. Die Sonne begann schon zu sinken und liebkoste die Welt mit ihrem wärmsten Licht. Ani stellte sich vor, wie Meri-ptah in seinem hübschen, aber bescheidenen Heim sich neben seine Gattin auf das Bett legte. Denn ohne ihren Mann, das wusste Ani aus den Dossiers, würde sie nicht weiterleben wollen. Sie würde bis zum Ende bei ihm bleiben. Sanft würde der Abendwind mit den durchsichtigen Vorhängen zum Garten spielen, während die Sonne ihre milden Strahlen schickte. Meri-ptah und seine Frau würden den Inhalt des Alabasterfläschchens teilen und sich ein letztes Mal küssen. Als hätte er Anis Gedanken erraten, sagte Amenhotep plötzlich: „Die Politik ist leider so. Sie lässt uns manchmal keine andere Wahl, als grausam zu sein.“

Am nächsten Morgen kam der Bote nach Malqata, der berichtete, dass Meri-ptah und seine Gattin eines überraschenden Todes gestorben seien. Man habe sie friedlich entschlummert nebeneinander in ihrem Bett gefunden. Zufrieden lächelnd, als ob sie sich freuten, zu einer letzten schönen Reise gemeinsam aufgebrochen zu sein. Pharao ließ sich nicht lumpen und bestellte zwei Dutzend Klageweiber.

Nun war Anen der Oberste Priester des Amun. Ani hatte den älteren Bruder von Teje und Eje nur ein einziges Mal gesehen. Sein Dossier kannte er dafür umso besser. Er war ein durchgeistigter Schwärmer, der irgendwann einmal begonnen hatte, seine Priesterschaft tatsächlich ernst zu nehmen. Amun musste es so gewollt haben, wenn er denn nun dessen Hohepriester wurde, hatte Ani ihn einmal sagen hören. Er konnte in Pharaos Gesicht förmlich die Sorge ablesen, ob Anen sich auch dann seiner Herkunft erinnern würde, wenn er Entscheidungen zu treffen hätte, die ebenfalls die weltliche Macht des Königs betrafen. Ani fürchtete, dass dieses verantwortungsvolle Amt Anen noch einiges an Problemen bereiten würde.

Doch die beiden nun folgenden Tage waren angefüllt mit ganz anderen Gedanken und Überlegungen. In drei Tagen würde Ani mit Amenhotep den „Glanz des Aton“ besteigen und nilabwärts nach Achmim fahren; während Pharao und Thutmosis nach Men-nefer weiterreisten, um anlässlich der Beisetzung des Apis-Stieres ihre Verabredung mit Huy und dessen Vater Heby einzuhalten. Aber auch die Gottesmutter Mutemwia wollte die Gelegenheit nutzen, um wieder einmal ihre Heimatstadt zu besuchen. „Zum wohl allerletzten Mal“, wie sie nicht müde wurde, zu wiederholen, tunlichst darauf achtend jedoch, dass man ihr auch gefälligst widersprach. Teje würde mit ihren Töchtern sowie ihrem Bruder Eje allein in Malqata zurückbleiben, um die Regierungsgeschäfte während der Wochen und Tage zu führen, die Pharao abwesend war. Sogar Nofretete und ihre Schwester Mutnedjmet sollten mit nach Achmim kommen, war doch ein Besuch ihrerseits bei der dortigen Verwandtschaft längst überfällig. Mit Grausen dachte Ani an die Gesellschaft der lauten und naseweisen Mutnedjmet, freute sich aber umso mehr, dass Nofretete mitkam. Vielleicht würde sich ja in Achmim endlich die Gelegenheit bieten, dass sie ihr Versprechen einlöste und Ani im Streitwagenfahren unterrichtete.

Ein wenig verdruckst hatte Ani Amenhotep gefragt, ob denn Merit-amun mit ihm kommen könne. „Selbstverständlich“, rief der Gottessohn erstaunt. „Keiner von uns wird ohne seine Diener fahren. Sie kommen allesamt mit.“

Ani guckte dumm. „Ist denn Pharaos Barke groß genug, um sie alle aufzunehmen?“

„Natürlich nicht!“, schüttelte Amenhotep den Kopf. „Wo denkst du hin! Sie werden auf einem eigenen Schiff reisen. Ebenso wie der gesamte Hausrat, den die Damen so mit sich zu führen pflegen. Allein meine Großmutter nimmt schon ihre sechs Dienerinnen mit, ganz zu schweigen von Pharaos Gefolge, das bald in die Dutzende geht. Und nicht Mutnejdmets Zwerg zu vergessen, der natürlich ebenfalls dabei sein muss.“

Es war in der Tat der Umzug einer kleinen Stadt, der sich mit aufgeregtem Geschnatter und Gepolter in den heiligen Hallen des Palastes ankündigte. Körbe mit edlen Gewändern und den unterschiedlichsten Perücken wurden durch endlose Flure geschleppt und auf eines der beiden Begleitschiffe verfrachtet. Feinstes Leinen wurde in riesigen Ballen an Bord gebracht, als gälte es, eine Armee auszurüsten. Und allein die Schminkutensilien nahmen mehr Raum ein, als die Hütte einer fünfköpfigen Familie in Anis Heimatdorf.

Ani konnte beobachten, wie die Dienerinnen schon im Morgengrauen auf dem Schiff erschienen, um auch ja jedem angelieferten Teil den ihm zugedachten Platz zuweisen zu können. Denn sollte etwa Pharao im Laufe der Reise mitten auf dem Nil Appetit auf die köstlichen Datteln aus Dahschur verspüren, so wäre die Oberste seiner Dienerinnen dafür verantwortlich, sie augenblicklich zu finden, um sie Seiner Majestät servieren zu lassen. Jede der Hauptdienerinnen verteidigte somit den ihr zugeteilten Stauraum mit Klauen und Zähnen. Ani hatte Amenhoteps ansonsten so liebevolle Amme Subira beobachten können, wie sie Mutnedjmets Zofe mehrfach auf den Hinterkopf schlug. Und mit Erstaunen musste er zusehen, wie seine zärtliche Merit-amun eine ganz andere Seite von sich offenbarte, die er bislang noch nicht kennen gelernt hatte. Wie die Wächterschlange Wadjet, die jeden unbotmäßigen Eindringling mit ihrem Gift tötete, so fauchte, fuchtelte, drohte und zischte sie, wenn jemand dem von ihr beanspruchten Stauraum zu nahe kam. Zunächst war Ani amüsiert. Doch dann wurde ihm klar, dass sie ohne diese Eigenschaft ihre armselige Kindheit wohl kaum überlebt hätte. Außerdem konnte er sich sehr wohl vorstellen, wie es in der Dienerschule des Harems zugegangen war, die sie durchlaufen hatte. Das Schreien und Zetern, das er oft genug von dort gehört hatte, sprachen ihre eigene Sprache.

Endlich war der Abreisetag gekommen. Schon Tags zuvor hatte das Boot der königlichen Zelte abgelegt, damit es rechtzeitig an der nächsten Übernachtungsstelle ankäme, um dort für den Guten Gott und sein Gefolge bereits die Zeltstadt zu errichten. Pharao war bester Laune, freute er sich doch darauf, wenigstens für die Dauer der Hin- und Rückreise den banalsten Alltagspflichten entkommen zu können. Er sang in seiner Sänfte lustig vor sich hin, als er zum abfahrtbereiten Glanz des Aton getragen wurde und reichte Teje immer wieder die Hand, die ihn zum Abschied noch bis zur Barke begleitete. Die Menschen waren glücklich ‑ manchen von ihnen standen sogar Tränen der Rührung in den Augen ‑, ihren Pharao seiner Großen königlichen Gemahlin derart in Liebe zugetan zu sehen. Freilich Ani hatte die beiden schon oft Zärtlichkeiten austauschen sehen - allerdings nur in privater Atmosphäre – so dass er keinerlei Zweifel an ihrer aufrichtigen Zuneigung hegte. Dabei war Pharao alles andere als ein Asket. Der Harem wurde von ihm gern und oft besucht. Und dennoch war er Teje auf eine fast kindliche Art und Weise treu, die Ani oft berührte. Sie hatten einander ihre Herzen geschenkt, ja, ihr Leben. Und seither passten sie gegenseitig darauf auf, dass niemand den anderen verletzen würde. Dies alles, Amenhotep hatte Ani in einer langen Nacht davon erzählt, hatte in Achmim seinen Anfang genommen. Es war die Heimatstadt von Amenhoteps Großmutter Mutemwia, die eine Nebenfrau des vorigen Pharaos war. Der hatte mit seiner Großen königlichen Gemahlin Jaret ebenfalls einen Sohn, der später sein Nachfolger werden sollte. Seine Nebenfrau Mutemwia verbrachte also mit ihrem nicht weiter beachteten Sohn jeden nur möglichen Tag in Achmim. Der freundete sich dort mit der etwa gleich alten Tochter des Bruders seiner Mutter an: Teje, die Tochter des Juja. Als Pharao acht Jahre alt wurde, starb sein Halbbruder, der Thronfolger. Von heute auf morgen musste er Achmim verlassen und an den Hof zurückkehren. Dort begann ein vollkommen neues Leben für ihn. Keine vier Jahre später starb sein Vater überraschend und der Zwölfjährige wurde zum Pharao gekrönt. Die erste Verfügung überhaupt, die er erließ, war die Beorderung Tejes nach Waset. Drei Monate später heiratete er sie gegen alle Widerstände - war sie doch nicht königlichen Geblüts. Stolz und trotzig hatte er dies alle Welt auf einem Gedenkskarabäus wissen lassen, den er anlässlich seiner Hochzeit bis in die hinterste Ecke seines Reiches verteilen ließ. Juja, der ebenso loyal war wie seine Tochter, wurde ebenfalls nach Waset geholt, wo er schnell Karriere machte und einer der höchsten Beamten an Pharaos Hof wurde. Und noch immer, nach all den langen Jahren, überlegte Ani, waren die beiden einander in aufrichtiger Liebe und tiefer Hochachtung zugetan. Sie waren wie Schu und Tefnut: Eine Einheit in zwei unterschiedlichen Körpern.

Ani meinte gar, Tränen in Pharaos und Tejes Augen gesehen zu haben, als sie sich schließlich herzlich voneinander verabschiedeten. „Komm mir nur gesund wieder“, flüsterte Teje, „und pass auf Dich auf!“ Hilflos versuchte Ani anderswo hinzusehen, fühlte er sich doch wie ein Eindringling, der Dinge sah und hörte, die eigentlich nicht für seine Augen und Ohren bestimmt waren. Als Pharaos Sänfte auf der Barke unter dem Baldachin abgestellt worden war, stellte sich Ani rechts hinter seinen Herrn. „Ach, der Bauernbub“, lachte ihm Pharao ins Gesicht.

Irgendwann einmal, sie hatten den Nil noch nicht erreicht, meinte Pharao augenzwinkernd zu Ani, es sei nun genug mit dem Herumstehen, um den Wedel über ihn zu halten. Der Baldachin auf der Barke spende Schatten genug und so heiß, sei es auch wieder nicht, als dass ihm ständig Luft zugefächelt werden müsse. Ani solle sich lieber Amenhotep zur Verfügung halten, falls der ihn benötigte. Und als er ging, konnte er gerade noch hören, wie Pharao zu der neben ihm thronenden Mutemwia sagte: „Ach, Mütterchen! Wie ist das schön, noch einmal mit dir nach Achmim zu fahren. Wie damals, als Amt und Bürden noch weit entfernt und wir beide frei waren wie die Kraniche. Kein Ort ist mir so lieb in meinem ganzen Reich.“

Amenhotep saß mit seinem Bruder und Nofretete zusammen. Ihre ernsten Mienen verrieten Ani, dass sie Wichtiges zu besprechen hatten. „Unsere ganze Gesellschaft ist verlogen“, schimpfte Amenhotep. „Wer glaubt noch an den Humbug von lebendig gewordenen Statuen aus Stein? Wer vertraut noch den Priestern, die für die Menschen zu den Göttern sprechen, je nach Höhe des Entgelts? Wer heiratet noch, weil er so, wie er behauptet, den anderen liebt? Nichts geschieht mehr, weil es richtig ist, sondern nur noch, damit es nütze.“

„Wir sind da keine Ausnahme“, unterbrach ihn Thutmosis. „Wir spielen sogar tüchtig mit.“

„Ja!“, Amenhotep war aufgebracht. „Und das solltest Du ändern, Thutmosis! Ein paar Jahre noch – es möge sein in einer Million mal eine Millionen Jahren, aber es wird sein ‑, irgendwann einmal bist du Pharao. Du kannst dann die Welt verändern, wenn du nur willst. Es liegt in deiner Macht, das Böse und Schlechte abzuschaffen!“

„Du übertreibst, Bruder.“ Thutmosis lächelte. „Das Böse abzuschaffen überfordert sogar die Macht Pharaos. Tragen wir alle doch das Böse in uns. Wir lügen, wenn es hilfreich ist, wir lächeln, wenn wir eigentlich hassen, ja, und wir töten, selbst was wir lieben.“ Unwillkürlich schaute Ani nach dem prächtigen Katzensarkophag, der in Men-nefer beigesetzt werden sollte und der im Bug festgezurrt war.

„Aber du kannst doch nicht einfach nur mit den Schultern zucken“, warf Amenhotep ein, „und dich mit den Gegebenheiten abfinden! Du musst doch zumindest versuchen, die Welt ein wenig besser und weniger böse zu machen. Wer weiß?! Vielleicht wird über die Generationen ein besseres Menschengeschlecht entstehen. Was werden die Pyramiden anderes sein als alte Berge aus Stein? Was wird Hatschepsuts Haus der Ewigkeit anderes sein, als ein altes Gebäude? Aber Pharao Thutmosis, der Fünfte dieses Namens, hat die Menschen dazu gebracht, besser zu sein. Unter ihm wurde das Böse abgeschafft.“

„Da haben wir aber ganz schnell ein Problem.“ Thutmosis hob den Finger und lächelte. „Wer entscheidet, was gut und was böse ist? Und wer legt schließlich die Grenzen fest?“

„Du entscheidest es, Thutmosis!“ Amenhotep war nun vollends aufgebracht. „Du wirst der Pharao sein. Und damit musst du die Verantwortung übernehmen und letztendlich festlegen, was richtig und was falsch ist. Leb deinen Untertanen vor, wie auch sie leben sollen. Und vergiss dennoch nicht, dass du der Pharao bist!“

Thutmosis zuckte mit den Schultern. „Jetzt bin ich erst einmal gespannt, was die Priester des Ptah mir beibringen wollen. Und glaub mir, auch sie werden mir nichts weiter darlegen, als das, was ihnen eines Tages nützt. Die ganzen Bande von Priestern, einerlei, ob sie nun Ptah dienen oder Amun, ist nur darab gelegen, ihre Macht zu vergrößern und den Menschen ihre Habe abzuschwatzen. Sie beteuern ihnen Fürsprache bei den Göttern und drohen mit dem Jenseits. Sie machen aus den Ängsten der Menschen Gold, ihr Gold. Und sie wollen Pharao vorschreiben, was er zu tun und zu lassen hat.“

Amenhotep sah sich um. „Nofretete, was meinst du? Du bist so schweigsam.“

„Nun, ich denke, dass wir es sind, die den Menschen vorleben sollten, wie ihr Leben gottgefällig ist. Wir sollten den alten Aberglauben samt seiner Dämonen und Geister vertreiben und dafür sorgen, dass sich auch ihnen das wahrhaft Göttliche offenbart. Ob wir das Dasein tatsächlich besser machen können, werden wir erst wissen, wenn wir es denn auch versucht haben.“

„Das sagt die zukünftige Große königliche Gemahlin!“ Amenhotep strahlte. „Ich küsse ihre Füße für die unsterbliche Weisheit, die sie mit sanfter und doch fester Stimme in den Nordwind spricht, damit er ihre Worte fortträgt über das ganze Land.“

„Na, dann träumt ihn mal schön weiter, euren Traum von einer besseren Welt.“ Thutmosis erhob sich. „Ihr beide würdet wirklich gut zusammenpassen. Da fällt mir ein, dass ich Vater noch etwas wegen der Zeremonie um das Begräbnis des Apis-Stieres fragen muss.“

Amenhotep küsste voller Bewunderung Nofretetes Hand. „Es ist gut, dass du an der Seite meines Bruders sein wirst. Dein Einfluss wird ihm gut tun.“ Und geradewegs so als habe er Ani erst entdeckt, sagte er. „Und du, Ani, Bauernbub. Was sagst du dazu?“

„Als Bauernbub ist mir all dies reichlich egal“, gab Ani zu bedenken. „Hauptsache, der Nil steht hoch und bringt fruchtbare Erde, damit die Ernte ausreichend ausfällt. Hauptsache, alle sind gesund und können arbeiten. Alles andere wird Pharao schon richten.“

„Und was sagt der Freund des Gottessohnes und Wedelträger zur Rechten des Königs?“, fragte Nofretete.

Ani lächelte. „Der hofft, dass jemand kommt und das Böse endgültig abschafft.“

Schweigend ließen sie die Landschaft an sich vorüberziehen, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Nofretete fing an, ein Lied zu summen und nach einer Weile stimmte Amenhotep mit ein.

Weiße Schönheit in der Wüste,

weiß, am grünen Band des Nils.

Deine Schönheit alle rühmen,

deine Reinheit, deine Kraft.

Wenn am Morgen Aton grüßte,

wuchsen Stürme des Gefühls,

dass die Schönheit in der Wüste

Tefnut sei dem Schu des Nils.

Nofretete versuchte ihre Rührung wegzulächeln. „Ein einfaches Lied.“ Sie blickte Ani an. „Das singen bei uns die Bauern. Es ist nicht sehr geschliffen, das gebe ich zu. Aber es ist voller Liebe und aufrichtiger Herzlichkeit.“

„Ist Achmim denn wirklich so schön, wie man sagt?“, fragte Ani staunend. Denn er hatte noch nie zuvor gehört, dass die Schönheit einer Stadt besungen wurde. Ihre Macht, ihre Stärke, ihre schiere Größe, all das hatte schon viele Sänger inspiriert. Aber dass man eine stinkende Stadt voller Unrat und Dreck als schön bezeichnete, war ihm vollkommen fremd.

Er brauchte nur in Amenhoteps und Nofretetes Gesichter zu sehen, um ihre Antwort zu kennen. Sie strahlten bei dem Gedanken daran und lachten vor Freude, morgen schon dort zu sein. „Was für eine Frage?!“, kicherten sie mit gespielter Empörung. Amenhotep sprang auf und griff Ani bei der Hand.

„Komm mit“, lachte er. „Ich werde dir die endgültige Antwort auf deine Frage liefern.“ Und bevor Ani sich versah, lag er Pharao und seiner Mutter zu Füßen.

„Was ist denn hier los?“, sagte der gutgelaunte Pharao mit strenger Miene. „Was für ein Tumult ist das, der meine lieben Erinnerungen stört? Los, Bauernbub, steh’ auf!“ Und als Ani zögerte, meinte er nur: „Trag meinetwegen meinen rechten Wedel, wenn’s dir hilft, nicht Wurm sein zu müssen.“ Pharao lachte so herzhaft, dass die Doppelkrone beängstigend ins Wanken geriet. Mutemwia klatschte ihm auf die Hand. „Mäßige dich, mein Sohn. Ägyptens Augen und Ohren können dich hören und sehen.“

„Hier gibt’s nur Bauernohren und Bauernaugen“, meinte Pharao vergnügt. „Hier sind wir unter uns!“ Sein Lachen muss noch in Waset wie ein fernes Donnern geklungen haben, dachte Ani, erhob sich und griff zu seinem Wedel.

„Guter Gott!“, rief Mutemwia entsetzt. „Sieh dich vor, was du sagst. Du hast schon manchen für weniger hinrichten lassen.“

Pharao lachte abermals schallend. Dann rückte er seine Krone zurecht und meinte: „Mütterchen, dass du mich auch immer an die Gewichte auf meinem Herzen erinnern musst. Es wird nicht leicht sein, die Wägung meines Herzens zu meinen Gunsten ausfallen zu lassen. Aber was meinst du? Ein Tempelchen für Osiris, ein Prachtbau für Amun, ein Schreinchen für Hathor … Sollte ich einen der Götter vergessen haben, ihn zu bestechen?“

„Hast du etwa von Tejes Wein gekostet?“, fragte Mutemwia besorgt.

Pharao lachte abermals, nahm Ani den Wedel aus der Hand und warf ihn zu Boden. „Ach, Mütterchen. Ich bin endlich mal wieder frei – und glücklich. Dazu brauche ich keinen Wein.“

„Ach, und deswegen müssen wir heute Nacht auch wie die Soldaten in Armeezelten inmitten der Wüste übernachten“, protestierte Mutemwia. „Wo man sich kaum gebadet hat und schon wieder über und über mit Sand besprenkelt ist. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir vorhin in Dendera Halt gemacht hätten.“

„Mutter“, sagte Pharao ernst. „Du übertreibst. Sie haben nichts mit Armeezelten gemein, außer, dass es eben Zelte sind. Es wird dir an nichts fehlen, glaub es mir.“ Er wandte sich Amenhotep zu. „So, jetzt erklär du mir endlich, was er mich fragen soll.“ Dabei deutete er mit dem Daumen auf dem zu seiner Rechten hinter ihm stehenden Ani.

„Das kann er dich selbst fragen“, gab Amenhotep zur Antwort.

„Na los, Ani, stell’ deine Frage!“

„Ist Achmim denn wirklich so schön, wie man sagt?“ Ani hatte felsenfest damit gerechnet, dass nun ein Sturm des Gelächters über ihn, den dummen Bauernbub, hereinbrechen würde. Aber Pharao seufzte nur wohlig und lehnte sich entspannt auf seinem Sessel zurück. „Du wirst es sehen, Ani“, Pharaos Stimme klang warm und weich. „Fast beneide ich dich darum, dass du es morgen zum ersten Mal sehen darfst. Ich versuche jedes Mal, so zu tun als wäre ich noch nie dort gewesen und als blickte ich zum allerersten Mal auf Achmims weißen Mauern. Doch ich schaffe es nicht, mich selbst zu täuschen. Den Rausch des ersten Blicks gibt es eben nur ein einziges Mal. Und man kann ihn nicht wiederholen. Also denk daran, wenn wir morgen gegen Abend dort ankommen. Genieße dein Staunen und lass dich von der Schönheit überwältigen. Achmim ist die Perle meines Reiches.“

ECHNATON

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