Читать книгу Der Mann, der nie geboren wurde: Die Raumflotte von Axarabor - Band 218 - Wilfried A. Hary - Страница 6
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ОглавлениеDie Ähmisch hatten sich ihr eigenes Paradies erschaffen. Vor zehn Generationen, als sie einen Planeten zugebilligt bekamen vom Sternenreich von Axarabor, nur für sie selbst. Wo sie verbunden mit der Natur leben konnten, fernab von all jenem, was ihrer Meinung nach der Teufel selbst an Zivilisation erschaffen hatte. Mit einer einzigen Ausnahme: Auf der anderen Seite des Planeten, also maximal weit entfernt von ihren kleinen Ansiedlungen, die mehr eine scheinbar willkürliche Anordnung von Gehöften waren, befand sich nach wie vor der weitgehend automatisierte Raumhafen mit der Vertretung von Axarabor vor Ort.
Und noch mit einer zweiten kleinen Ausnahme: Jene Elektroschocker, die zufällig so aussahen wie Vibratoren für gewisse Anwendungen, von denen die Ähmisch allerdings noch nicht einmal etwas ahnten.
Diese Elektroschocker waren nötig, denn weil sie selbst grundsätzlich auf jegliche Technik verzichteten, waren sie auf Arbeitstiere angewiesen. Und als solche eigneten sich die Proporz ganz besonders. Woher diese Bezeichnung stammte, wusste niemand mehr zu sagen. Es handelte sich dabei jedenfalls um Riesenkäfer, die extrem friedlich und gutmütig waren. Sie besaßen keine natürlichen Feinde, weil Fressfeinde keine Chance hatten, ihren diamantharten Panzer zu knacken. Außerdem ernährten sie sich rein vegetarisch. Gerade so wie die Ähmisch, die im Namen ihres Weltenerschaffers Setna sich ausschließlich naturgemäß ernährten. Was sie halt als naturgemäß ansahen.
Dabei war der Planet ÄHMISCH immerhin so überreichlich mit äußerst fruchtbarem Boden gesegnet, dass trotz der primitiven Bestellung ihre Felder genügend erwirtschafteten, um organisiert von der Vertretung von Axarabor über den Raumhafen Lebensmittel in das Sternenreich zu exportieren. Um damit nach und nach alle Schulden abzuzahlen, die ihnen bei der Übergabe dieser Welt aufgebürdet worden waren.
Die Lebensmittel aus der Ähmisch-Produktion galten als ganz besonders wertvoll und erzielten horrende Preise auf dem interplanetarischen Markt für Luxusgüter. Dennoch waren die Schuldenberge natürlich auch nach der zehnten Generation noch längst nicht abbezahlt. Man rechnete mit noch insgesamt mindestens einhundert Generationen. Zumal ja der Schutz durch die Raumflotte von Axarabor ebenfalls bezahlt werden musste, was die Rückzahlung der Schulden verzögerte.
Für die Ähmisch allerdings kein Problem. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, weil sie ihr Tagwerk gern erledigten. Es hätte ihnen jedenfalls weit mehr Sorgen bereitet, hätten sie mit der Überproduktion nicht die Schulden abbezahlt, sondern hätten sie für sich selbst übrig gehabt. Was hätten sie denn mit all dem Geld eigentlich anfangen können? Sie brauchten doch nichts weiter als sich selbst und die Natur, die sie sich untertan gemacht hatten.
Und um neue Elektroschocker zu kaufen natürlich, falls die alten kaputt gingen. Weil keiner von ihnen wusste, wie die Dinger überhaupt funktionierten. Sie wussten lediglich, dass man ohne sie die Proporz nicht steuern konnte. Denn das war das einzige, was bei ihnen wirkte, was sogar den diamantharten Panzer durchdrang: Elektroschocks. Wobei das für die Proporz garantiert nicht mit Schmerzen verbunden war. Das kitzelte sie höchstens.
Alles Umstände, die weit davon entfernt waren, die Gedanken von Bauer Ion zu bestimmen. Er führte voller Hingabe vielmehr den Pflug, der von einem seiner Proporz gezogen wurde, was für das sechsbeinige Tier, das beinahe eine Tonne wog, wobei es die Größe einer kleinen Hütte hatte, geradezu eine Leichtigkeit war. Die Ähmisch bildeten sich ein, dass ihren Nutztieren die Arbeit sogar riesigen Spaß machte. Und vielleicht traf das ja sogar zu. Obwohl es natürlich noch niemand jemals geschafft hatte, einen Proporz nach seiner eigenen Meinung zu fragen. Er hätte sowieso keine Antwort erhalten.
Anderes bewegte Ion, wenn überhaupt. Beispielsweise die sich drohend auftürmenden Wolken am fernen Horizont, über der brettebenen landwirtschaftlich genutzten Fläche. Ein ziemliches Unwetter, das niemand vorausgesehen hatte, und der nächste Unterschlupf war immerhin so weit entfernt, dass er es wohl nicht rechtzeitig schaffen konnte, ihn zu erreichen.
Es passte Ion ganz und gar nicht. Obwohl er keineswegs jetzt von Angst gepeinigt wurde vor diesem Unwetter. Wenn es wirklich schlimm wurde, konnte er hinter seinem Proporz Deckung suchen. Das Tier brauchte sich nur flach auf den Boden zu pressen, um von keinem Sturm mehr umgeworfen werden zu können. Und wenn sich Ion klein genug machte, wurde er dahinter ebenfalls von dem Panzer geschützt.
Nein, es ging Ion eigentlich nur darum, dass er dadurch aller Voraussicht nach sein Tagwerk nicht vollenden konnte. Das brachte seinen Arbeitsablauf deutlich durcheinander, was ihm eben erheblich gegen den Strich ging.
Und dann ging es ziemlich schnell, was bei dem subtropischen Klima in der Region, in der sich die Ähmisch vor zehn Generationen niedergelassen hatten, nicht unüblich war. Er nahm halt wie beabsichtigt Deckung hinter dem Panzer seines Proporz, um dort abzuwarten, dass dieser hässliche Sturm endlich wieder vorüber ging, möglichst ohne empfindlichen Schaden auf seinem Feld zu verursachen.
Die Erfahrung lehrte ihn, dass es innerhalb von wenigen Minuten schon wieder vorbei sein konnte. Allerdings gab es auch Gewitterstürme, die länger anhielten. Wenn er großes Pech hatte, vielleicht sogar den restlichen Tag lang, und falls es besonders schlimm kam, sogar die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen. Verbunden auch noch mit sintflutartigen Regenfällen konnte das auch im Schutz hinter dem Panzer eines Proporz recht ungemütlich werden.
Es half alles nichts. Er musste einfach nur Geduld üben, so schwer es ihm auch fallen wollte. Und der Sturm kam mit solcher Wucht, dass er ohne den schützenden Panzer vor sich kaum eine Chance gehabt hätte. Einzelne Böen hätten ihn glatt vom Boden gepflückt und davon geweht.
So verharrte er hier in Kauerstellung und knurrte unwillig vor sich hin, obwohl das herzlich wenig nutzte, denn solch ein Unwetter konnte weder durch Unwillen noch durch ein aufrichtiges Gebet besänftigt werden.
Zwischen zwei besonders heftigen Böen gab es dann sogar einmal eine kleine Pause, wobei es beinahe windstill wurde. Sonst hätte er über das Tosen des Sturmes nicht die leisen Schritte hinter sich gehört.
Erschrocken fuhr er herum – und traute seinen eigenen Augen nicht, denn da kam ein Mann auf ihn zu. Er wirkte noch ziemlich jung und war splitternackt. Nicht nur, dass dies sehr ungehörig war, sondern bei einer solchen Wetterlage konnte das wahrhaft fatale Folgen haben. Bis hin zum Tod. Was fiel dem Fremden denn da ein?
Überhaupt wirkte er ein wenig ungewöhnlich. Also ganz abgesehen von der Tatsache, dass er splitternackt war und aufrecht und völlig ungeschützt während eines solchen Sturmgewitters hier über das Feld tappte: Seine Haut erschien rosig wie die eines neugeborenen Babys. Sie zeigte keinerlei Makel. Und der Mann schien Ion gar nicht zu sehen, obwohl er genau auf diesen zu tappte.
„ He, du da!“, rief Ion ihm entgegen.
Das schien er zumindest zu hören, denn er blieb irritiert stehen und sah sich um. Endlich blieb sein Blick an Ion hängen, der sich immer noch tief hinter den Panzer seines Proporz duckte.
„ Oh, Verzeihung!“, rief jetzt der Fremde zurück. „Ich habe dich gar nicht gesehen. Dachte, du gehörst zu dieser seltsamen kleinen Erhebung, wärst gewissermaßen ein Teil davon.“
„ Hä? Das ist mein Zugtier, ein Proporz, das sich nieder kauert, um Schutz vor dem Sturmgewitter zu haben.“
„ Und du kauerst dich schutzsuchend dahinter? Ganz schön clever von dir.“
„ Aber es ist absolut gar nicht clever, wenn man aufrecht und dann auch noch nackt bei einem solchen Wetter durch die Gegend läuft!“, warf ihm Ion vor, wobei seine letzten Worte beinahe von der nächsten Sturmbö verschluckt wurden.
„ Ach ja?“ Der Fremde schien nachzudenken. Er sah sich jetzt um und erweckte den Eindruck, als würde er jetzt erst bemerken, dass er auf freiem Feld stand.
Doch dann winkte er beruhigend ab.
„ Ach, mich kümmert das nicht. Dieser Sturm kann mir nichts anhaben.“
„ Das haben auch schon andere gemeint, und jetzt sind sie tot!“ Ion schüttelte fassungslos den Kopf. Doch dann fiel ihm ein: „Aber woher kommst du denn eigentlich? Ich habe dich noch nie bei uns gesehen. Dabei habe ich mir eingebildet, dass ich alle Ähmisch der Umgebung kenne.“
„ Ähmisch? Nennt ihr euch so?“
„ Ja, bist du denn selber kein Ähmisch?“
„ Keine Ahnung, was ich bin.“
„ Aber das musst du doch wissen. Wo kommst du überhaupt her? Vom Raumhafen? Aber der ist zwanzigtausend Kilometer entfernt jenseits des großen Meeres. Wie bist du überhaupt hierher gelangt?“
Der Fremde dachte nach.
„ Ich weiß es nicht“, gab er kleinlaut zu.
Er sah sich erneut um.
„ Ich weiß eigentlich gar nichts. Noch nicht einmal, was Ähmisch bedeutet.“
„ Wir sind die Auserwählten Setnas, des Schöpfers des ganzen Universums“, klärte Ion ihn voller Stolz auf. „Deshalb leben wir in seinem Antlitz zu seiner ganzen Freude. Eins mit der Natur.“
Ion zögerte kurz. Dann fügte er hinzu:
„ Allerdings nicht so weitgehend eins mit der Natur, dass es uns erlaubt wäre, nackt umher zu stolzieren. So wie du. Ganz im Gegenteil sogar.“
Der Fremde sah überrascht an sich hinab.
„ Ach ja? Tatsächlich: Ich bin nackt. Und du bist angezogen? Seltsam.“
„ Aber du musst doch wissen, wo du deine Kleidung gelassen hast!“, beharrte Ion.
„ Ich weiß es wirklich nicht. Eigentlich weiß ich eben… gar nichts. Tatsächlich. Ich war ganz allein und bin einfach nur los gelaufen. Bis ich rein zufällig dich traf.“
„ Rein zufällig?“ Ion schüttelte entschieden den Kopf. „So einen Zufall gibt es nicht. Ich bin weit und breit allein. Wenn man einfach los läuft, ist die Wahrscheinlichkeit, auf jemanden zu treffen, praktisch null. Es sei denn…“
„ Es sei denn?“, hakte der Fremde hoffnungsfroh nach.
„ Es sei denn, Setna hat dich geleitet!“
Der Fremde lauschte in sich hinein.
„ Setna? Da ist kein Setna. Ich höre ihn jedenfalls nicht.“
„ Man hört ihn nicht, sondern spürt ihn. Mit jeder Faser seines Daseins. Aber natürlich nur, wenn man zu den Auserwählten gehört.“
„ Also ein Ähmisch ist?“
„ Genau.“
„ Dann bin ich also kein Ähmisch?“
„ Du wurdest von Setna zu mir geführt. Also ist Setna auf jeden Fall mit dir. Obwohl du das selber nicht zu wissen scheinst.“
„ Weil ich alles vergessen habe?“, sinnierte der Fremde laut.
„ So wird es sein. Aber kauere dich neben mich, ehe dich der Sturm doch noch vom Feld pflückt wie eine überreife Frucht.“
„ Du meinst, dass kann er tatsächlich?“
„ Und ob! Die ersten Ähmisch auf dieser Welt hatten erst entsprechende bittere Erfahrungen sammeln müssen, ehe sie die Gefahr als solche richtig erkannt hatten.“
Ion erschrak regelrecht.
„ Moment mal: Wenn du nicht von Raumhafen kommst – immerhin nackt über eine Distanz von zwanzigtausend Kilometern… Dann bist du vielleicht sogar von hier? Aber seit zehn Generationen hat es sich bestätigt, dass diese Welt kein intelligentes Leben trägt außer uns Zugereisten. Und du siehst aus wie ein rosa Mensch, völlig ohne Haare, aber mit normaler, tadelloser Gestalt. Wenngleich ziemlich muskulös, wenn ich das so frei bemerken darf.
Bist du etwa…?“
Ion ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
Der Fremde kauerte sich dicht neben ihn, was Ion ziemlich unangenehm war, wenn er ehrlich zu sich selbst sein wollte, aber hatte er ihn nicht selbst dazu eingeladen?
„ Was soll ich denn sein?“, erkundigte sich der Fremde in freundlicher Unschuld.
„ So etwas wie ein Ureinwohner dieser Welt?“
Abermals dachte der Fremde angestrengt nach. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
„ Ich kann mich wirklich nicht erinnern!“, beteuerte er.
„ Aber du sprichst sogar meine Sprache, als wärst du gemeinsam mit mir hier aufgewachsen!“, bemerkte Ion jetzt.
Der Fremde sah ihn überrascht an.
„ Tatsächlich, du hast recht. Es ist, als wäre ich doch einer von euch.“
„ Kannst du aber nicht sein, weil ich das sonst wüsste!“, trumpfte Ion auf.
Er schüttelte ebenfalls den Kopf.
„ An einen Namen kannst du dich wohl auch nicht erinnern?“
„ Nein, leider!“
„ Ich nenne dich Rosa. Wegen deiner Hautfarbe. Wärst du damit einverstanden?“
Der Fremde zuckte gleichmütig mit den Achseln.
„ Ganz wie du willst.“
Ion hob den Daumen.
„ Ah, der Sturm ebbt ab. Wir können uns jetzt wieder aufrichten.“
Kaum hatte er ausgesprochen, erhob sich auch sein Proporz wieder auf seine sechs Beine.
„ Allerdings werde ich meine Arbeit abbrechen müssen. Deinetwegen, Rosa. Ich gebe dir meine Jacke. Die kannst du dann um die Hüften binden, damit es ein wenig schicklicher aussieht, wenn ich dich zu meinem Haus bringe. Meine Familie wird Augen machen, wenn ich ihnen einen rosa Mann mitbringe.“
Er lachte in Vorfreude darauf.
Der Fremde, den er Rosa nannte, lachte nicht mit. Er wirkte vielmehr sehr ernst, vielleicht sogar besorgt.