Читать книгу Zwischen Almsommer und Bauernherbst - Wilhelm Kastberger - Страница 2
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Als waschechter Berliner und nebenbei noch begüterter Industrieller hatte der damals zweiundfünfzigjährige Dietwald Rothgleiber in der Bergwelt im Berchtesgadener Land, rückwirkend vom 1. Jänner 2008 von der Jagdbehörde des zuständigen Landratsamtes einen Jagdpachtvertrag, befristet auf neun Jahre, bekommen. Als quasi überdrüber konnte er einen ausgefeilten Abschussplan für das laufende Jahr ergattern, was nicht so selbstverständlich gewesen war.
Wie genau das durch die sprichwörtlichen Hintertürln gelaufen sein mag, blieb auch den Recherchierenden vorenthalten. Tatsache ist, ein Preuße kommt in die bayrischen Wälder. Und er kommt darüber hinaus in den Genuss einer ansehnlichen Jagdpacht, noch dazu die reglementierten neun Jahre lang.
Das Gebiet konnte sich sehen lassen. Es war ein mehrere Hektar großes bewaldetes und von riesigen Felsen durchzogenes Jagdrevier. Mit im Pacht inbegriffen war auch eine modern und vor allem luxuriös ausgestattete Jagdhütte. Der Begriff Jagdhütte war früher einmal bestimmt zutreffender.
Im Endausbau, nach annähernd einem Jahr, konnte man das nicht mehr behaupten. Jedenfalls ist es stark untertrieben, wenn von seitens der zuständigen Landesbehörde behauptet worden war, es sei nur eine einfache Jagdhütte. Von dieser Behörde wurde jedenfalls eine entsprechende Baubewilligung erlassen und bislang hat die bauliche Veränderung der einfachen Jagdhütte offenbar niemanden gestört, mit klitzekleinen Ausnahmen versteht sich. Das Gebäude glich nach der Fertigstellung eher einem Bungalow in Blockholzbauweise. Das schon.
Zusätzlich wurde unterm Haus ein voluminöser Tiefbau errichtet. Dabei musste ein Großteil der Felsen regelrecht herausgesprengt werden. Es wurde aber lediglich eine Sprengung genehmigt und letztlich auch gemacht. Wissend, denn gleich darauf gab es lautstarke Proteste.
Von seitens der Landschaftsschützer wurde sofort eingeschritten, der Bau vorübergehend eingestellt und unmissverständlich auf eine sanfte Felsräumung in diesem sensiblen Forstareal gedrängt.
So blieb der Baufirma also nichts anderes mehr übrig, als mit schwerem Gerät das Schiefergestein mühsamst abzugraben. Die entstandenen Mehrkosten wurden selbstverständlich vom Bauherrn übernommen.
Der Mehrwert der unter Tag errichteten Räume war unvergleichlich hoch. Es wurde nämlich dadurch eine zusätzliche Wohnraumerweiterung geschaffen. Zwei bescheidenen Schlafstellen für den Aufsichtsjäger und seine Jagdgehilfen konnten dort ebenso eingerichtet werden, wie auch mehrere Lageräume für all den Kram, was kleine Jagdgesellschaften im Laufe der Jagdsaisonen benötigten.
Zugleich wurden zwei Garagenplätze für mittelgroße Fahrzeuge in den Berg hineinverlegt. Und im hintersten Eck wurde sogar ein Kühlraum installiert, der ausschließlich zur Aufbewahrung der erlegten Beute dienen sollte. All diese Raumvielfalt konnte man von außen gar nicht erahnen.
Dietwald Rothgleiber und seine um annähernd zwei Jahre jüngere Frau Agnes benötigten dringend so einen Ruheplatz. Obwohl Ruheplatz eigentlich nicht die richtige Bezeichnung dafür gewesen war. Es war schon eine rastlose Beschäftigung, die sich Dietwald Rothgleiber damit aufgehalst hatte. Mit Bestimmtheit war es eine ganz andere als in Berlin. Die frische Bergluft einatmen zu können, inmitten der Natur zu wohnen, das war das eigentliche Vergnügen der Eheleute. Sie wollten ihre Urlaube, aber auch so viele verlängerten Wochenenden, wie nur möglich, weit weg von der geschäftlichen Rastlosigkeit Berlins, zusammen in den Bergen verbringen.
Zum Bedauern von Dietwald Rothgleiber war seine Frau der Jagd als solche nicht zu so recht zugetan. Nur knapp zwei Jahre nach der Fertigstellung des Hauses blieb ihr das Vergnügen, sich in dieser friedlichen Umgebung zu erholen, ohnehin versagt.
Die Rothgleiber´s haben ihre einzige Tochter Elita eine ausgezeichnete Ausbildung in Betriebswirtschaft und alles was sonst noch dazugehört ermöglicht. Vor allem haben sie Elita in der Jugendzeit neben ihrer hochschulischen Erziehung die innerbetrieblichen Strukturen der eigenen Firma hautnah erleben und erlernen lassen.
Diese Vorgangsweise hatte dem Betrieb insgesamt sehr gut getan. Elita Rothgleiber lernte nicht nur das Handwerkliche (im Speziellen die Planung und den Ausbau von kleineren und mittelgroßen Schiffen) sowie auch das Kaufmännische. Jahre später lernte sie auch ihren künftigen Ehemann, den Wirtschaftsjuristen Dr. Reinhard Zingarelli, kennen und lieben. Er selbst war zu dieser Zeit noch in seinem elterlichen Betrieb tätig.
Dr. Reinhard Zingarelli ist zirka einhundertachtzig Zentimeter groß, war damals schon und ist jetzt immer noch ein sportlich durchtrainierter Mann. Er spricht mehrere Sprachen perfekt und liebt vor allem gute Musik. Das Feingefühl für gute Musik unterscheidet, wie so manches im gemeinschaftlichen Leben, stets das Persönliche.
Elita ist ebenso sport- und musikbegeistert. Sie ist eine Läuferin in der Natur mit einer Dauerberieselung von Musik und Sprache mittels einem Ohrstöpsel. Besuche in Konzerten oder Festspielaufführungen machten sie tunlichst gemeinsam, obwohl einer der beiden sich auch mal dabei zu Tode langweilen konnte.
Und so kam es, wie es kommen musste!
Es war selbstverständlich ein Samstag. Es sollte laut Wettervorhersagen ein prachtvoller Sommerbeginn werden! Nach dem Kalender war es der 21. Juni 2010.
Die Hochzeitsfeierlichkeiten wurden zwar standesgemäß ausgerichtet, aber keinesfalls zu einer Prunkhochzeit umfunktioniert. Die Eltern des Bräutigams, wie eben auch die der Braut, waren mehr oder weniger aus dem finanziellen Blickwinkel betrachtet, ebenbürtig.
Der Bräutigam Dr. Reinhard Zingarelli war im 29. Lebensjahr und Elita beinahe auf den Tag genau war zwei Jahre jünger als er.
Wie man sich auch vorstellen wird können, gab es doch eine lange Reihe geladener Gäste. So waren Menschen aus der nahen Verwandtschaft ebenso anwesend, wie auch so manche Jugendfreunde aus der Nachbarschaft sowie langjährige enge Mitarbeiter aus den Gewerken.
Elita trug an diesem Festtag ein atemberaubendes Hochzeitskleid, das Absolventen der Modehochschule in Berlin exakt für sie entworfen und auch geschneidert hatten. Sie selbst ist ja nebenbei auch eine begeisterte Modezeichnerin und stand deswegen schon jahrelang mit dieser Schule im engen Kontakt. Darüber hinaus war sie mit der leitenden Fachprofessorin schon seit den Grundschulzeiten bestens befreundet.
Das Kleid wurde überdies auch prämiert. Im Rahmen einer großangelegten Modeschau wurden Kreationen aus dem Schuljahr 2008/09 einem großen Publikum vorgeführt. Sieben international bekannte Modeschöpfer aus dem Lager Umfeld, die als Juroren Entscheidungen zu treffen hatten, saßen damals am Podium.
Und genau dieses Hochzeitskleid, wurde einstimmig auf den 1. Platz gehoben. Zwei Monate später, und zwar am Tag ihrer Hochzeit, durfte Elita Rothgleiber dasselbe Kleid tragen und einen wesentlich größeren Personenkreis vorführen.
Kurzreportagen für das Fernsehen wurden deswegen abgedreht. Eine nicht bekannte Anzahl Paparazzi Fotografen warteten in ihren Schlupflöchern auf die beste Gelegenheit, Fotos zu schießen. So war es nicht zu verhindern, dass plötzlich das Kleid mit der Trägerin in den verschiedensten Printmedien zu sehen gewesen war.
Das junge Paar wohnte eine Zeitlang schon vor ihrer Verehelichung in der elterlichen Villa Rothgleiber im jetzigen Nobelbezirk Wannsee-Zehlendorf, in der Scheffelstraße. Das Gebäude wurde ursprünglich Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet und war von Anfang an im Besitze der Familie Rothgleiber. Das Grundstück ist beiläufig zwei Hektar groß. Es ist von waldähnlichem Stauden und Bäumen, die einen hervorragenden Sicht- und auch Lärmschutz zu bieten hatten, umgeben.
Das Haus selbst ist ein traditioneller Backziegelbau, allerdings mit ungewöhnlichen zwei Stockwerken. Zugegeben, die Fenster wurden in den letzten zwanzig Jahren erneuert und unwesentlich vergrößert. Die äußeren Formen mit den wunderschönen Rundbögen wurden beibehalten. Auf die stets steigenden Energiekosten wurde ebenfalls Rücksicht genommen. So wurde, ohne die Fassaden zu zerstören, eine raffinierte Technik erstmals angewendet. Dieses Experiment, das absolut geglückt schien, übernahm damals die Firma Zingarelli.
Nur Garagen für die Autos, und da gab es gleich mal drei, gab es rundum das Gebäude keine. So wurde notgedrungen hinter der Villa, um ja nicht die Vorderansicht zu stören, sogenannte Carboards errichtet.
Auch die Besucher wurden gebeten, ihre Fahrzeuge nicht vor dem Haus abzustellen. Das funktionierte an sich sehr gut, weil ohnehin nur Menschen zu ihnen kommen konnten, die eingeladen worden waren. Alle anderen konnten gar nicht hereinfahren. Ein auf Gleitschienen bewegliches gusseisernes Tor, das neuerdings elektronisch gesteuert werden konnte, verhinderte einen Unberechtigten die Zufahrt. Ein anderer offizieller Zufahrtsweg existierte nicht.
Es ist zwar nicht ganz richtig. Es gibt schon einen Weg, der allerdings nur mit einem Fahrrad oder Moped benützt werden kann. In früheren Zeiten wurde einmal ein Verbindungsweg von der nördlichen Grundgrenze, quasi von der Parallelstraße zur Scheffelstraße, vermutlich von ehemaligen Grundbesitzern, angelegt. Von dieser Verbindung wissen nur mehr die Anrainer Bescheid und die haben jetzt alle Autos.
Das Glück der jungen Familie Zingarelli-Rothgleiber fand am 14. Mai 2010 einen vorläufigen Höhepunkt. Elita gebar einen Sohn, der zwei Wochen später mit den klingenden Namen Benjamin getauft worden war.
Leider folgte bald darauf ein schwarzer Tag für die Familie Rothgleiber. Es war der Freitag der 11. April 2010.
Wie schon so oft in ihrem Leben nützte die inzwischen zweiundfünfzigjährige Agnes Rothgleiber die für sie sehr selten gewordenen freien Wochenenden in Berlin zu einem Einkaufsbummel.
Regelmäßig schlenderte sie dann in der Innenstadt von einem Schaufenster zum nächsten. Nicht dass sie an der berüchtigten Schaufensterkrankheit gelitten hätte, nein das nicht. Sie wollte sich lediglich von ihrem meist anstrengenden und manches Mal auch überlastenden Alltag wieder einmal ablenken.
Und so kam es, wie es kommen musste: Wahrscheinlich durch Unaufmerksamkeit aller Beteiligten, nämlich einerseits von einem Busfahrer, andererseits von einer Taxilenkerin und nicht zuletzt von der Fußgängerin Agnes Rothgleiber selbst, ereignete sich ein folgenschwerer Unfall.
Beinahe eingekeilt zwischen Bus und Taxi blieb Agnes Rothgleiber, die an dieser Stelle eine stark frequentierte Geschäftsstraße überqueren wollte, letztlich mit lebensgefährlichen Verletzungen auf der Fahrbahn liegen. Trotz rascher Erster Hilfeleistung durch ein herbeigeeiltes Notarztteam verstarb sie auf der Fahrt ins nächstgelegene Unfallkrankenhaus.
Seit dem tragischen Tod seiner Frau Agnes hatte sich das Privatleben von Dietwald Rothgleiber drastisch verändert und nicht nur das. Er begann laut über Strukturverbesserungen und auch über Einschränkungen in seinem Firmenimperium nachzudenken.
Wie halt das Leben mit einem so spielt. Sie haben sich seit Jahren mehr oder weniger aus den Augen verloren. Brunhilde war eine von insgesamt drei Nichten seiner Frau. Am Friedhof, bei der Trauerfeier für Agnes, ist sie ihm wieder begegnet. Er konnte sich noch ganz genau an das Zusammentreffen erinnern. Es war Donnerstag, der 17. April 2010, vormittags um elf.
Später hatte er dann von ihr im Gespräch erfahren, dass sie ein ähnliches Schicksal mit ihrem ersten Mann erleiden musste.
Brunhilde war zu dieser Zeit hochschwanger. Sie wurde von ihrem frisch angetrauten Ehemann Max Joachim begleitet. Voller Freude stellte sie sogleich ihren Gatten dem Onkel Dietwald und seiner Tochter Elita vor.
Nach den Trauerfeierlichkeiten am Friedhof lud Dietwald Rothgleiber die engsten Verwandten, natürlich auch seine Nichte Brunhilde samt Ehemann in die Villa ein. Sie fuhren allesamt, nach einer länger andauernden Verabschiedung von den übrigen Trauergästen, mit mehreren Limousinen vom Friedhof direkt zum Anwesen der Rothgleiber’s.
Trude, der gute Geist im Haus, hatte am Vortag bereits mit ihrem Jakob die notwendigsten Vorbereitungen getroffen. Schön garnierte Fleisch- und Käseplatten sowie auch Getränke wurden von den beiden im Tiefkühlraum deponiert. Von Dietwald Rothgleiber hatte Trude schon Tage vorher die Order erhalten, dass lediglich ein bescheidener Leichenschmaus angebracht ist und demgemäß auch aufgetragen werden sollte.
So konnten Trude und Jakob selbstverständlich auch an den Trauerfeierlichkeiten in der Kirche und am Friedhof teilnehmen. Nur solange wollte Trude nicht bleiben. Sie und Jakob verließen nach dem offiziellen Teil der Trauerfeier, sprich Aussegnung und was sonst noch dazugehört, die Stätte der Stille und fuhren zurück zu ihren Arbeitsplätzen.
Jakob durfte nur, wenn Not am Mann war, in der Küche helfen. Sonst hatte er keinen Zutritt. Dafür sorgte schon Trude. Sie war zwar eine herzensgute Frau, aber auch eine unerbittliche Verteidigerin ihres Territoriums. Nur heute war sie erfreut, dass Jakob das eine oder andere in Küche machen konnte. Aber Servieren, das durfte er ganz bestimmt nicht.
„Schau doch einmal deine Hände an, damit kannst du einen Fußball zerdrücken aber nicht unser schönes Porzellan.“
Trude ist, wie man an dieser Stelle jedenfalls anmerken muss, im Familienkreis der Rothgleiber’s, im wahrsten Sinne des Wortes gleichgeschaltet. Das heißt, sie lebt im Familienverband mit. Auch Jakob, der Hausmeister, ist keinesfalls ausgeschlossen, weil irgendwie ist er ja mit Trude verbandelt.
Auch Tochter Elita, die ebenso hochschwanger wie Brunhilde war, hatte ihre Cousine schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Elita wusste zwar von ihrer verstorbenen Mutter über die Schicksalsschläge die Brunhilde ertragen musste Bescheid, aber persönliche Kontakte gab es auch zwischen den beiden bislang nicht. Für Außenstehende schien es so, als wären die zwei werdenden Mütter unzertrennlich geworden. Sie verließen Arm in Arm den Friedhof, redeten unermüdlich über dies und das und fuhren dann auch miteinander zur Villa zurück. Beide Damen saßen im Fond. Dr. Reinhard Zingarelli lenkte das Auto und Max Joachim Fichtlzauber saß am Beifahrersitz.
In der Villa Rothgleiber setzten nicht nur die Damen ihre Unterhaltung fort. Auch die Männerrunde machte es ihnen nach. Der Neoehemann von Brunhilde, Max Joachim Fichtlzauber, Dietwald Rothgleiber sowie dessen Schwiegersohn unterhielten sich dem Anschein prächtig an dem sogenannten Herren- oder Rauchertisch, der in der prächtigen Diele in einer Nische extra von Jakob aufgestellt worden war. Alle dort Anwesenden waren aber leidenschaftliche Nichtraucher.
Nur glaubhaft ist das auf keinen Fall. Dietwald Rothgleiber zum Beispiel ist ein Pfeifenraucher. Allerdings nur dann, wenn er rundherum Ruhe verspürt, das kam leider nicht jeden Tag vor.
Er ist also ein Genusspfeifenraucher!
Max Joachim Fichtlzauber verschmäht in der Gesellschaft keine angebotene Zigarre. Nur seit seine junge Frau sich in anderen Umständen befindet, lehnt er anstandsgemäß, aber schweren Herzens Angebote dieser Art ab.
Lediglich Dr. Reinhard Zingarelli dürfte ein radikaler Nichtraucher sein. So steht es jedenfalls auf seiner Facebook Seite in fetten Lettern zu lesen. Man weiß jedoch niemals genau, ob solche Eintragungen dann auch tatsächlich zutreffend sind, wenn man genötigt ist, auch den anderen normalen Blödsinn zu lesen.
Also wurde am Herren- und Rauchertisch keine Pfeife angezündet und keine Zigarren angeboten. Das ist nun mal die Tatsache!
Begonnen hat nach einer Aufwärmrunde des sich gegenseitig Bekanntmachens der Gastgeber. Und so kam es, wie es kommen musste: Dietwald Rothgleiber schilderte in blumigen Sätzen in seinem Berliner Dialekt, der hier nicht wiedergegeben werden kann, einige seiner jüngsten Erlebnisse, die er als Jagdherr in Bayern erfahren durfte. Was naturgemäß zum Schmunzeln und zum Lautlachen geführt hätte, wenn es nicht knapp drei Stunden nach der Beerdigung gewesen wäre.
Das war auch ein Grund, warum die zwei schwangeren Cousinen mit ihrem dunklem Outfit und ihren finsteren Gesichtern, die gegenüber auf einem gemütlichen Kanapee saßen, strenge Blicke zum Herrentisch hinschleuderten.
Das tat aber der Erzählfreude der Männer keinen Abbruch, wenn nicht Köchin Trude laut den Befehl erteilt hätte, alle Anwesenden mögen in den Speiseraum kommen.
Insgesamt waren es acht Personen, die zu diesem einfachen Leichenschmaus am gedeckten ovalen Tisch, der aus geschnitztem und gedrechseltem Eichenholz gefertigt war, Platz nahmen. Trude hatte nicht nur die Tischwäsche, sondern auch das Porzellan und den Blumenschmuck in Weiß gewählt. In der Mitte standen drei silberne Kerzenleuchter mit jeweils drei zwanzig Zentimetern lange weiße brennende Kerzen. Nur die schweren in Weinrot gehaltenen Brokatvorhänge, ein Schmuck der drei hohen Fenster im Raum, wurden nicht gegen weiße ausgewechselt.
An sich hätten am Tisch auch wesentlich mehr Personen Platz gefunden. Aber der Hausherr wollte an diesem Tag nur seine engsten Verwandten und einige vertraute Mitarbeiter um sich haben. Jakob stellte die nicht benötigte Bestuhlung in einen Nebenraum ab.
Ziemlich genau um diese Zeit kamen die drei geladenen Gäste an. Jakob führte die Personen vorerst in die Diele. Dort legten sie ihre Garderoben ab und wurden unmittelbar darauf von Jakob in den Speiseraum geleitet.
Als eine Geste der Solidarität an die Belegschaft der Rothgleiber-Gewerke wurde von Dietwald Rothgleiber der langjährige Prokurist der Firma, Dr. Michael Rabenschwartz sowie die Chefsekretärin Isolde Hofthaler, eingeladen. Auch Margaritha, die beste Freundin der Verstorbenen, wurde zu dieser Familienfeier gebeten. Dietwald Rothgleiber begrüßte die drei Personen, bedankte sich für ihr Kommen und stellte ihnen dann Brunhilde sowie auch ihren Mann vor.
Dr. Michael Rabenschwartz ist ein großgewachsener stattlicher Endvierziger, der mit den hervorragenden Eigenschaften, die von einem Betriebsführenden gefordert werden, sehr wohl ausgestattet ist. Jedenfalls ist er eine Ruhe ausstrahlende, ausgeglichene Persönlichkeit, die so alles im sogenannten Griff zu haben scheint. Er wurde, wie sein Chef Dietwald Rothgleiber, gerademal zwei Monate vor ihm Witwer. Kinder hatte er keine. Die Vereinsamung scheint bei ihm regelrecht vorprogrammiert zu sein.
Nur mit Schwiegersohn Dr. Reinhard Zingarelli kommt Dr. Michael Rabenschwartz nicht ganz zurande. Die beiden haben offenbar keinen besonders guten Draht zueinander oder besser formuliert, ihre Chemie stimmt nicht überein. Sie können sich, auf einen Nenner gebracht, nicht riechen. Darüber hinaus haben sich mehrfach Interessenkonflikte aufgebaut, die von beiden Seiten mit Eifersucht und Rache zusätzlich noch geschürt worden war.
Hin und wieder musste sich sogar Elita als beruhigender Pol ins Spiel bringen, wenn es zu Konfrontationen zwischen den beiden Doktoren im Betrieb gekommen war. Meist gelang es ihr auch das streitbare Knäuel zu entwirren und den Tagesablauf, möglicherweise bis zur nächsten Meinungsverschiedenheit, wiederum zu retten.
Anders war es zwischen der Chefsekretärin Isolde Hofthaler und Dr. Reinhard Zingarelli. Bisher zu mindestens. Sie war eine typisch preußische Befehlsempfängerin, wie man sie tagtäglich aus den billigen Serien-Fernsehsendungen auch kennt. Nach außen hin gab es nie Widersprüche, ganz im Gegenteil. Aber welchen Frust sie oftmals mit nach Hause nehmen musste, das wurde von den Chefleuten ganz bestimmt nicht hinterfragt.
Isolde Hofthaler ist um einige Jahre jünger als Dr. Michael Rabenschwartz. Sie müsste schon noch gut und gerne zwanzig Jahre auf ihre Pension warten. Ihren unmittelbaren Arbeitgeber Dietwald Rothgleiber schätzte sie aber sehr. Er nahm sich auch Zeit für sie. Nur er versuchte stets, die eine oder andere Unstimmigkeit sofort aus dem Wege zu schaffen. Im Gegensatz zu seinem Schwiegersohn, der mit so einem Talent nicht begütert war.
Auch Isolde Hofthaler ist es nicht entgangen, dass Dr. Reinhard Zingarelli immerzu, in letzter Zeit immer kräftiger an der Sessellehne seines Schwiegervaters sägt und das bereitete ihr große Sorgen.
`Lange werde ich diese Launen ohnehin nicht mehr aushalten können`, dachte sie sich schon des Öfteren.
Und dann Margaritha, die beste Freundin und zugleich die gute Seele von Agnes, wenn man das so sagen darf.
Margaritha ist so um die sechzig Jahre alt und unverheiratet geblieben. Sie wohnt seit Jahrzehnten immer noch in einer sehr bescheidenen kleinen Wohnung, allerdings inmitten ihrer Stadt Berlin. Über viele Jahre hinweg führte sie als selbstständige Kauffrau, meist mit einer Angestellten, ein kleines Taschengeschäft in der Innenstadt, unweit ihrer Wohnung, im ehemaligen Ostberlin. Nach der Maueröffnung konnte sie ihren Kleinhandel zwar fortsetzen, musste aber bald darauf wegen der hereindrängenden Handelsriesen ihren Einzelhandel aufgeben, sonst hätte ihr die Insolvenz gedroht.
In dieser schweren Zeit lernte sie auch Agnes Rothgleiber kennen. Agnes verhalf ihr mittels Geschäftsfreunden ihres Mannes zu einem Job. Margaritha konnte endlich in ihrem Metier als Taschenfachfrau wieder Fuß fassen. Seit annähernd fünfzehn Jahre ist sie nun als kompetente Geschäftsführerin in einem Taschenerzeugungsbetrieb tätig.
Allmählich entstand eine dauerhafte Freundschaft zwischen der kaufmännisch Angestellten Margaritha und der Industriellengattin Agnes.
Dietwald Rothgleiber führte mit dieser Einladung zum Leichenschmaus ein uraltes Ritual der Familie fort. Seine Absicht war gutgläubig. Er wollte, dass in diesem familiären Rahmen, miteinander gesprochen, gemeinsam gegessen und getrunken wird. Vor allem aber wollte er, dass das Gedenken an die Verstorbene nochmals intensiviert werden sollte.
Gleichzeitig sollte dieses Zusammensein ihm persönlich auch helfen, einen nachhaltigen Zwischenraum, nämlich zwischen dem traurigen Anlass und dem ganz normalen Tagesablauf, wieder einzubauen. Ob das nun zu seiner Zufriedenheit gelungen ist, dazu könnte sich nur Dietwald Rothgleiber äußern, was er aber gewiss niemals tun würde.
Im Speisezimmer, das im Parterre gleich neben der Küche und dem Arbeitszimmer angesiedelt war, gab es am Tisch Platz für rund zwanzig Personen. In Gedenken an die Verstorbene stellte Trude einen leeren Sessel neben ihren Mann hin. Ansonsten gab es keine vorbestimmte Sitzordnung.
Während Trude die selbsterzeugten Gaumenfreuden herangeschleppt und auf dem Tisch platziert hatte, wurden dessen ungeachtet Familiengeschichten, samt einigen lustigen Anekdoten aus den vergangenen Jahren, weiter untereinander ausgebreitet. Von einem Gedenken an die Verstorbene war weit und breit keine Rede mehr.
Vielleicht dachte Margaritha an Agnes, wer weiß. Margaritha mit ihrem stillen Gemüt war lieber eine Zuhörerin als eine Rednerin. Niemals versuchte sie am Tisch, sich in die Geschichtenerzählenden mit eigenen Worten hineinzudrängen. Sie hatte weder Gesten der Zustimmung noch der Ablehnung gezeigt. Sie blieb außerhalb und zeigte nur ihr emotionsloses Gesicht der trauerfeiernden Tischgesellschaft.
Max Joachim Fichtlzauber war hingegen so ein Dauerredner und versuchte banale Witze zu schmeißen. Früher, sagte er, sei er ein leidenschaftlicher Fischer gewesen, daher hat er sich so nebenbei seine zauberhafte Brunhilde geangelt. Gelacht hatte niemand.
Mit seiner Exfrau Anna Maria führte er einen Großgartenbetrieb in Gründlbach, in der Nähe der Stadt Tirschenreuth. Infolge der Scheidung musste zwangsläufig auch die Gärtnerei verkauft und der Barertrag zwischen den scheidenden Eheleuten aufgeteilt werden.
Ohne Unterbrechung schilderte er innerhalb einer Viertelstunde den Zuhörenden mit in einer geballten Ladung von kurzen aber witzigen Pointen seinen Lebenslauf. Die Kunstfigur Benjamin Blümchen hätte es nicht besser machen können. Den Schwerpunkt seiner Erzählung legte er allerdings auf jene Zeit, wo er Brunhilde näher kennengelernt hatte.
Kaum hatte er seine Geschichte dargebracht, da fing auch Brunhilde Fichtlzauber, geborene Hörnling, verwitwete Lüdemanns, die am Tisch gegenüber ihrem Mann saß, über ihre rührige Vergangenheit zu erzählen an.
Brunhilde musste nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Nicolaas Lüdemanns den Vorstandsvorsitz von Nicolaas Lüdemanns Groobkoorn Cool-Kaas Genossenschaft mit Firmensitz in der Stadt Zuidoost in Holland übernehmen. Rückblickend war das ihrer Meinung nach ein Balanceakt oder besser noch ein Sprung ins kalte Wasser. Aber sie schaffte das auch. Sie war auch die Alleinerbin eines großzügigen Einfamilienhauses in Zuidoost sowie eines Ferienhauses im Salzburger Land. Die respektable elterliche Wohnung in Berlin gehört ebenfalls zu ihren Besitztümern.
Und hier versuchte Max Joachim Fichtlzauber wiederum einen Anschluss zu seinem vorhergehenden Ausführungen zu finden. Weil in dieser Wohnung haben sie sich beide noch heimlich getroffen, was dann auch nicht ohne Folgen geblieben ist.
Er zeigte mit einem Lächeln stolz auf den gewölbten Bauch seiner Frau.
Ja, ganz bestimmt habe er noch Kontakt zu seiner Exfrau. Sie wohnt ja quasi direkt in der Nähe vom Ferienhaus seiner Brunhilde. Eigentlich sind sie sogar Nachbarn. In Wirklichkeit wollte das Ehepaar Max Joachim und Brunhilde Fichtlzauber das Objekt rasch verkaufen. Es gab aber seitens der Dorfgemeinde kleinere Hürden zu bezwingen, die aber gewiss mit der Zeit besiegt werden.
Oftmals geistern einen, unter Umständen nicht ganz Unbeholfenen, schon skurrile Gedanken auf der Überholspur entgegen. Dabei wäre es an sich so einfach …
Dietwald Rothgleiber dachte im Moment in quadratischen Formen mit allen Ecken und Kanten und verwandelte diese, soweit sein Denkvermögen ausreichte, in eine zusammenhängende Parabel.
„Ja mein lieber Max Joachim! Gibt es in diesem Wunderland, wie du es gerade ausgedrückt hattest, auch einen Jagdbesitzer oder einen Jagdpächter?“
„Eine? Eine Jagd mein Lieber wird wahrscheinlich zu wenig sein. Soweit ich Kenntnis davon habe, gibt es in dieser Region, die übrigens Oberpinzgau heißt, warum weiß ich auch nicht, eine Vielzahl von Jagden. Einen der Jäger mit den Namen Sepp oder so ähnlich, kenne ich persönlich schon sehr gut. Wir haben uns des Öfteren schon im Caféhaus in Neukirchen getroffen und über die Jägerei und Gartenbau, dass ja eine gewisse Ähnlichkeit aufweist, unsere beider Erfahrungen ausgetauscht.“
Dietwald Rothgleiber hat natürlich mit dieser Frage ganz andere gedankliche Eingebungen weiter skizzieren wollen. Aber diesen steinigen Untergrund, der seine Gedanken zum Abschweifen zwang, wollte er am Beerdigungstag seiner geliebten Frau nicht betreten. Noch nicht!
Seine schwangere Tochter Elita, die drei Stühle von ihrem Vater entfernt saß, bekam auch Bruchteile dieser Diskussion zwischen den beiden Männern mit.
Sie kannte ihren Vater gut und dachte gewiss an nichts Böses. Nur eine zweite Jagd kaufen, das ginge nun wohl wirklich nicht. Sie war schon seit dem Tage ihrer Heirat darauf fixiert, die Rothgleiber Gewerke in absehbarer Zeit selbst mit ihrem Mann führen zu können. Und da würden außerordentliche finanzielle Belastungen, wenn sie auch aus der Familie kommen, eine zu große Hürde bedeuten. Das wollte sie auf keinen Fall. Die Idee ihres Vaters musste sie im Keim ersticken. Aber nicht heute.
Die Finanzen der Rothgleiber Gewerke, die spätestens in einem Jahr in Firma Zingarelli & Co umbenannt werden würden, kämen mit Bestimmtheit in arge Bedrängnis.
Da werde sie kräftig, mit Unterstützung ihres Mannes, zurückrudern müssen.
Das hatte ja noch Zeit. Vielleicht waren es auch nur Flausen im Kopf eines trauernden Ehemannes. Wer weiß das schon. Somit waren ihre Gedanken wieder bei Brunhilde und dem Leichenschmaus.
Die Rothgleiber-Gewerke, die in Berlin Tempelhof, auf einem großzügig angelegten Industriegrundstück angesiedelt sind, beschäftigten in Zeiten der Hochkonjektur zwischen drei- und vierhundert Arbeitskräfte. Die Arbeitsaufträge kamen aus der ganzen Welt herein. So konnte man unter einem Dach ganz bestimmte Produkte herstellen, wo man sonst mehrere Betriebe in Anspruch hätte nehmen müssen. Das sparte jedenfalls den Kunden Zeit und Geld sowie der Rothgleiber-Gewerke eine beachtliche Umsatzmaximierung.
Zu der handwerksbetrieblichen Abteilung gehörte über Jahre hinweg eine Gießerei, eine Seilerei sowie eine Bautischlerei, die sich zusammen im Wesentlichen für den Schiffsausbau spezialisiert hatten.
Was wäre ein Unternehmen in dieser Größe ohne eine kaufmännische Abteilung. Diese ist im Betriebsgelände in einem eigens dafür geschaffenen mehrgeschossigen Gebäude untergebracht. Dort sind, seit es die computerunterstützte Datenverarbeitung gibt, zwischen fünfundzwanzig und dreißig, vorwiegend Frauen beschäftigt. In den früheren Zeiten waren es schier doppelt so viele Menschen, die einem sachbearbeitenden Büroarbeitsplatz bekleideten und mit Karteikarten herumfuchteln mussten. Das hatte Gott sei es gedankt aufgehört. In knapp acht Monaten wurden sämtliche Karteikarten in die EDV eingearbeitet. Erst jetzt waren Suchanfragen innerhalb von Sekunden erfolgreich. Früher hätte das mit hoher Wahrscheinlichkeit einen halben Tag, wenn nicht länger in Anspruch genommen.
Selbstverständlich wurden auch Jahr für Jahr Lehrlinge in den verschiedensten Sparten ausgebildet. Die Besten davon wurden im Betrieb behalten und sukzessive mit dem natürlichen Abgang ersetzt.
Sämtliche Bauwerke der Rothgleiber-Gewerke waren typische Ziegelbauten aus dem 19. Jahrhundert. Daran wurde kaum etwas verändert. Unter Denkmalschutz wurden sie aber auch nicht gestellt. Dafür war die Substanz nicht besonders erhaltungswürdig. Vor rund zwanzig Jahren wurden lediglich die Fenster vom Bürohaus gegen Doppelverbundgläser ausgetauscht. Aber sonst hat sich in den letzten fünfzig Jahren an der Zweckmäßigkeit oder gar an Zierden im Außenbereich nichts getan.
Dietwald und Agnes Rothgleiber waren von Anfang an die alleinigen Besitzer dieses Beinahe-Imperiums. Ganz die Wahrheit ist es auch nicht, weil die Eltern von Dietwald und Agnes hatten die Betriebe gegründet, und zwar: Die Gießerei hieß damals Hörnling-Guss und am Nachbargrundstück stand daneben Rothgleiber`s Seilerei.
Wenige Monate nach der Verehelichung zwischen Dietwald und Agnes wurden die Betriebszweige fusioniert und mit der bereits erwähnten großen Bautischlerei ergänzt. Daraufhin entstand auch der neue Firmenname nämlich die Rothgleiber-Gewerke.
Anfangs des 20. Jahrhunderts benötigte die Seilerei hauptsächlich Faserpflanzen und im speziellen Flachs, Hanf und Sisal. Die Materialien wurden aus ganz Europa zugekauft. Einige Jahrzehnte später wurden auch Kunstfasern beigemengt und die daraus erzeugten Seile waren wesentlich witterungsbeständiger. Jedenfalls gab und gibt es bis heute von seitens der Schifffahrt großes Kaufinteresse. Auch die sogenannten Taufallen oder Ankertaue wurden in dieser Seilerei hergestellt. Lediglich die Erzeugung von Stahlseilen stand nicht auf der Produktionstabelle. Dafür gab es andere Betriebe in Berlin.
Ganz ähnlich entwickelte sich mit der Zeit die Sparte Gießerei zu einem Vorzeigebetrieb. Hier wurden alle möglichen Gebrauchsgegenstände, die für gewerbliche Betriebe aber auch für private Haushalte sehr wertvoll waren, erzeugt. Zugleich wurde von der Firmenleitung die Verflechtungen von Aufträgen zwischen der Seilerei und der Gießerei, später dann auch mit der Großbautischlerei bewusst angestrebt. So entstand eine langsam, aber gesund wachsende breite Palette der Machbarkeit innerhalb der Rothgleiber-Gewerke.
Aber das war einmal!
Knapp ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Agnes gab Dietwald Rothgleiber den Vorstandsvorsitz zu gleichen Teilen an seinen Schwiegersohn und an seine Tochter ab.
Dietwald Rothgleiber blieb zwar als einfaches Vorstandsmitglied dem Betrieb mehr oder weniger als beratende graue Eminenz erhalten, aber er zog sich immer mehr aus der Verantwortung zurück.
Großvater Dietwald Rothgleiber, nun allein lebender Witwer, hat sich im ehemaligen Personalhaus, das seinerzeit gut einen oder zwei Steinwürfe von der Herrschaftsvilla am Rande der Umzäunung entfernt war, häuslich eingerichtet. Seit Jahren stand dieses Gebäude die meiste Zeit leer. So blieb er jedenfalls, zur Freude seiner Tochter, wenn er sich nicht gerade im Berchtesgadener Land aufhielt, im Nahbereich seines Enkels.
Benjamin war für den inzwischen ergrauten Opa Freude und Aufmunterung zugleich. Opa Dietwald unternahm in seiner freien Zeit, wenn der Bub nicht in den Kartengarten gehen musste, kleine Streifzüge durch die Stadt. Für Klein-Benjamin war das Herumtollen mit seinem Opa immer ein großer Spaß. Noch vielmehr Vergnügen bereiteten beide das Herumklettern im Jagdrevier. Streifzüge durch den Wald, Wassertrinken am Bach und vieles andere mehr waren Erlebnisse für den Kleinen.
Eine kurze Rückblende in die Zeit, wo er noch Oberhaupt der Rothgleiber´s Gewerke war, muss an dieser Stelle noch gestattet werden. Dietwald Rothgleiber war zeit seines Lebens immer ein ausgefuchster Geschäftsmann. Er ließ zwar die anderen Partner leben, sein Hemd aber war ihm stets näher.
Und so kam es bei einem Vieraugengespräch zu einem Pakt. Nicht zwischen dem Teufel oder der Hölle, nein das gerade nicht. Aber heiß war er allemal, der Pakt.
Dietwald Rothgleiber traf mit dem führenden Versicherungsmanager Dr. Ernest Knöttere, der sprichwörtlich auf höchster Ebene, nämlich im siebenundzwanzigsten Stockwerk des Wolkenkratzers im Vorstand des riesigen Unternehmens schaltete und waltete, eine epochemachende Vereinbarung.
Diese erfolgte just zu der Zeit, wo Dietwald Rothgleiber die mehrere Hektar große Jagd im Berchtesgadener samt Jagdhütte gepachtet hatte. Eine Hand wäscht die andere. So dürfte auch in dieser Angelegenheit der Grundsatz in Anspruch genommen worden sein.
Der Versicherungsmanager Dr. Ernest Knöttere verdiente mit dem großzügig abgeschossenen Paket zwischen der Firma Rothgleiber-Gewerke und später dann mit Zingarelli & Co so viel, dass er dieser höllischen Vereinbarung schließlich zustimmte. In Wirklichkeit verdiente natürlich nicht nur er persönlich daran, sondern das Unternehmen. Aber Dr. Ernest Knöttere war nicht gerade unbescheiden. Er zog schon seine prozentuellen Vorteile daraus.
Dietwald Rothgleiber verlangte von der Versicherungsgesellschaft, respektive von Dr. Ernest Knöttere, dass seine Jagdhütte nur von einer Scheinprämie belastet werden sollte. Im Schadensfalle würde aber eine gänzliche Abdeckung von der Versicherung zu leisten sein. Im Gegenzug würde er ihn, nämlich den Versicherungsmann, zumindest einmal im Jahr bei der Hirschbrunft, als gern gesehenen Jagdgast einladen.
Dietwald Rothgleiber kannte diesen Herrn Dr. Ernest Knöttere schon einige Jahre. Geschäfte mit ihm zu machen ist die eine Seite, aber persönliche Abmachungen zu treffen, das ist ganz was anderes. Er ist ein durchtriebener Knauserer. Daher wandte Dietwald Rothgleiber bei ihm auch das Prinzip `mit Speck fängt man Mäuse` an. Und tatsächlich so funktionierte das auch.
Aber ganz so einfach war das auch wieder nicht.
Es mussten schriftliche Unterlagen für eventuelle Ereignisse vorbereitet werden. Und so kam es, wie es kommen musste. Der Vertrag wurde auf unbefristete Zeit ausgefertigt, eine hohe Versicherungssumme für den Schadensfall eingetragen und eine sehr niedrig gehaltene Pseudoprämie benannt, die auch Dietwald Rothgleiber niemals bezahlt hatte.
Im Zuge der notariellen Übergabe von Dietwald Rothgleiber an seine Tochter und seinen Schwiegersohn wurde von den neuen Inhabern auch der Firmenname samt Logo abgeändert.
Das alles war schon irgendwie traurig für den Senior. Aber er erinnerte sich, wie es damals gewesen sein musste, als er und seine Frau die Firma gegründet beziehungsweise die Zusammenlegung vereinbart hatten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit brachen einst bei den Eltern von Agnes und Dietwald ebenso emotionale Regungen hervor.
Sei es, wie es sei!
Ab diesem Zeitpunkt hieß die Firma nun Zingarelli & Co. Die Vereinbarungen mit der Versicherung, insbesondere jene, die mit dem Seniorchef abgeschlossen worden und vorwiegend mit dem Jagdhaus in Berchtesgaden verbunden waren, wurden dabei nicht angetastet und eins zu eins so auch übernommen. Lediglich die unvermeidlichen Indexanpassungen erhöhten naturgemäß alle paar Jahre die Prämien für die Firma.
Dr. Reinhard Zingarelli und seine Frau Elita hatten zwar nicht die Absicht an dem äußeren Erscheinungsbild der nunmehrigen Firma Zingarelli & Co etwas zu verändern. Dazu fehlte ihnen eigentlich der Mut, aber wahrscheinlich noch mehr das Geld. So blieben die Gebäude, zumindest nach außen hin unverändert nämlich so, wie sie schon seit mehr als achtzig Jahren auf dem Industrieareal gestanden sind. Verrußte und dreckige Fassaden störten offenbar niemanden. Das gebrannte Rot der Ziegel war nur mehr in Fragmente erhalten und eine besonders schöne Art der Patina hat sich im Laufe der Zeit auf sämtliche Gebäude gelegt.
Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft der Firma Zingarelli & Co sind eine Vielzahl von anderen Unternehmungen, meist Klein- und Mittelbetriebe aus den unterschiedlichsten Branchen neu entstanden oder sie wurden einfach umstrukturiert. Einige von diesen Betrieben sind offensichtlich gutsituiert und haben die alten unansehnlich gewordenen Gebäudeteile inzwischen saniert. Andere Bauten wiederum stehen schon Jahrzehnte lang unverändert und so schmutzig wie eh und je in der Landschaft.
Die Mehrheit der Gewerbeunternehmen allerdings, die auf diesen Arealen ihr
Glück versuchen wollten, scheiterten aufgrund der viel hohen Grundstückspreise. Sie mussten notgedrungen im Laufe der Zeit wieder abwandern.
Das äußere Erscheinungsbild der Industriezone, insbesondere von der Vogelperspektive betrachtet, wird von hohen, weit sichtbaren Schornsteinen geprägt. Ganz oben an Kaminen niesten auch größere Vögel, vermutlich die im Norden selten gewordenen Schwarzstörche.
Auch die aufgelassene Gießerei hatte so ein Unikum damals nötig. Die Schlote galten stets als die Symbole der Arbeit. Heutzutage sind solche Bauwerke veraltet und werden nach und nach mit viel Trara in die Luft gesprengt. Die roten Backsteinziegel sind aber jüngst ein begehrtes Baumaterial geworden. So entsteht aus so manchen ehemaligen Schornsteinen eine Gartenmauer oder gar ein Anbau für ein Wohnhaus.
Auf den modern gehaltenen Industriegrundstücken sind solche hoch in die Luft ragenden Kolosse ein beträchtliches Hindernis und nicht nur wegen des regen Flugverkehrs geworden. Man will sie unter allen Umständen aus dem Stadtbild verdrängen. Angeblich zahlt sogar die Stadtverwaltung lukrative Prämien, nur um diese Schlote loszuwerden.
In Großstädten, wie Berlin nun auch mal eine ist, ist ein neuer schnellwachsender Industriezweig der digitalen Werbewirtschaft entstanden. Diese Werbebranche ist zukunftsweisend, gilt als tonangebend und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Die neuen Eigentümer der Firma Zingarelli & Co, nämlich Dr. Reinhard Zingarelli und seine Frau Elita, haben sich schon vor ihrer Übernahme der Rothgleiber-Gewerke mit der Kreativ-Wirtschaft auseinandergesetzt. Sie suchten gemeinsam auf dem bereits gesättigten Markt Nischen und fanden solche schließlich auch.
Der Senior Dietwald Rothgleiber legte eines Tages eine impulsgebende Idee auf den Tisch. Im Innersten seines Herzens wollte er auf seine Handwerksbetriebe nicht ganz verzichten. Deshalb schlug er seiner Tochter und seinem Schwiegersohn eine gesunde Mischung der bereits vorhandenen Gewerke mit der schier unendlich ausbaufähigen Werbekunst vor.
Das alte Handwerk in Verbindung mit der neuzeitigen Werbetechnik, zum Beispiel.
Und so entstand bei der Firma Zingarelli & Co im Laufe von zwei Jahren neben den bestehenden Handwerksbetrieben, nämlich der Seilerei und der Großbautischlerei sukzessive auch ein modernes, hoch technisiertes Werbeunternehmen. Die offiziellen Einweihungsfeierlichkeiten fanden am Wochenende zwischen Samstag dem 1. und Sonntag 2. Juni 2013 mit einem Großteil der weiblichen und männlichen Dienstnehmer im Firmengelände statt. Am Samstag wurde überdies eine bescheidene Feier auf dem Privatgrundstück der Familie Zingarelli mit den Honoratioren aus Politik und Wirtschaft arrangiert. Auch Vertreter der Presse wurden eingeladen und dabei die neue Firmenphilosophie vorgestellt.
Die Bundeskanzlerin hatte wegen einer dringenden Auslandsreise absagen müssen. Sie wurde schon Wochen vorher von Dr. Reinhard Zingarelli und seiner Frau Elita persönlich zu diesem kleinen Betriebsfest eingeladen. Die Familie Zingarelli und die Kanzlerin kannten sich schon viele Jahre. Sie waren quasi Nachbarn, allerdings um mehrere Ecken.
Zu dieser Zeit hatte der Wirtschaftskrieg, wenn man es so bezeichnen wollte, zwischen USA und der Europäischen Union einen nicht unbedeutenden Höhepunkt erreicht. Die vielbeschäftigte Kanzlerin musste Prioritäten setzen und zog die Auslandsreise der Betriebsfeierlichkeiten vor.
Das war aber kein Beinbruch.
In der vorhandenen Halle der ehemaligen Gießerei konnten dank der neu eingestellten innovativen Mitarbeiter riesengroße Werbetafeln aus Leichtmetallen, ob nun beleuchtet oder unbeleuchtet, mit höchster Präzision hergestellt werden. Es gab solche mit und ohne Laufbilder, die auf Häusern angebracht oder auf freiem Gelände aufgestellt werden konnten. Der Werbeeffekt war allemal ein unübertrefflicher.
Diese Art von Werbegrafik war und ist in Wahlwerbezeiten für bestimmte honorige Politiker und deren Parteien genauso wichtig, wie die Überkopfwegweiser auf Autobahnen und Landstraßen. Zum Beispiel im Freistaat Bayern wurde nach und nach auf die modernen Designs von der Firma Zingarelli & Co zurückgegriffen und die in die Jahre gekommenen Modelle ausgewechselt.
Nur in der Großstadt Berlin konnte sich das Unternehmen mit diesem Geschäftszweig noch nicht so recht durchsetzen. Hier gab es vom Dachverband der Wirtschaftstreibenden massive Widerstände. Ganz sicher ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch in Berlin die Vernunft der dirigierenden Persönlichkeiten in der Stadtregierung und darüber hinaus ändern werden wird.
Jedenfalls die Auftragsbücher, wenn es solche geben sollte, waren auch unter der Patronanz von Senior Dietwald Rothgleiber über Jahre hinweg ausgebucht. Und das hat sich zum Glück für die Arbeitnehmer bis zum jetzigen Zeitpunkt nur unwesentlich geändert.
Die langjährig beschäftigten Arbeiter und Angestellten wurden mit überhöhten Kollektivlöhnen zufriedengestellt, aber nur dann, wenn sie auch bereit waren gewisse Umschulungen anzunehmen.
Diese Praxis hat aber der neue Vorstand mit Dr. Reinhard Zingarelli und Ehefrau Elita Rothgleiber-Zingarelli an der Spitze langsam aber kontinuierlich auf ein ortsübliches, ja eigentlich europaübliches Niveau zurückgedrängt. Man kann sich vorstellen, dass in der Belegschaft so eine Rückführung nicht unbedingt einmütig zur Kenntnis genommen worden war. Es gab zahlreiche Protestversammlungen, die allerdings bald darauf in Kompromissen enden sollten.
Mit der unausbleiblichen Neustrukturierung der Firma Zingarelli & Co musste sich zwangsläufig doch einiges ändern. In erster Linie wurde die Zahl der Arbeitsplätze zwar deutlich reduziert aber gleichzeitig wurden wertvolle kreative Designer Jobs geschaffen.
Der Firmenleitung war es zu Ohren gekommen, aber auch dem Vorstandsmitglied Dietwald Rothgleiber, der ursprünglich auch die Vorschläge über Personalentlassungen unterschrieben hatte, dass ein Vorarbeiter von der aufgelassenen Gießerei kurze Zeit später nach der Kündigung psychisch erkrankt sei.
Die Firmenleitung nahm im Laufe der Verhandlungszeit bestimmte Prämienkürzungen zurück. Im Gegenzug musste die Belegschaft dafür zwei Wochenstunden mehr arbeiten. Somit waren alle wieder zufrieden.
In der Regel zweimal wöchentlich kamen riesige Trucks auf das Firmengelände und brachten die Erzeugnisse quer durch Europa. Aber auch der firmeneigene Bahnanschluss wurde zunehmend mehr genützt. Der Umweltgedanke, nämlich weniger CO2 zu produzieren, hat innerbetrieblich auch Platz gegriffen.
Die Bergwelt im Berchtesgadener Land übte auf Dietwald Rothgleiber eine besondere Anziehungskraft aus. Sooft es ihm nur möglich war, fuhr er in die Berge zu seinem Jagdhaus. Ob nun geladene Gäste kamen oder nicht, das war ihm längst schon egal geworden. Er hatte in seinem Revier eine lebenserfüllende, sinnvolle Beschäftigung gefunden.
Im März 2002 bereitete er sich in einer Jagdschule in einem Außenbezirk von Berlin auf die Jägerprüfung vor. Den Jagdschein erwarb er noch im selben Monat, und zwar am Freitag den 29. März.
Damit verbunden war auch sein wachsendes Jagdfieber. Nicht dass er alles Wild rund um ihn herum schießen wollte, nein das auf keinen Fall. Er fühlte sich wohl, von Jagdgefährten aus der näheren und weiteren Umgebung zu Jagdausflügen eingeladen zu werden. Seine sonst erheblichen geschäftlichen Beschwerlichkeiten konnte er für eine Weile beiseitelegen, um dann relativ gestärkt wieder in sein gewohntes betriebliches Umfeld zurückzukehren. Hin und wieder begleitete ihn auch seine Frau, die aber kaum eine Begeisterung für die Jagd zeigte.
Nur ihm schwebte damals bereits eine Eigenjagd vor, das er ja dann auch Jahre später durchzusetzen wusste.
Dietwald Rothgleiber ist handwerklich außerordentlich begabt. Das ist auch kein Wunder. In seinen Gewerken hatte er jahrelang allerhand von den dort beschäftigten Meistern und Gehilfen gelernt. Das kam ihm bei kleinen Reparaturen im Haus, die er liebend gerne selbst erledigen wollte, sehr zugute.
Auch so im Berchtesgadener Land. Er liebte es, kleine Ausbesserungen im Jagdhaus, an den Zäunen, an den Tierfütterungen sowie auch hin und wieder an den Hochständen selbst zu machen. Und Hochstände gab es doch einige, die von Zeit zu Zeit reparaturbedürftig geworden waren.
Er hatte hier in seinem Jagdrevier kein spezielles Personal angestellt, die lediglich für Reparaturen zuständig gewesen wären, wie in seiner Villa in Berlin.
Da hatte der Gärtner Jakob und die Köchin Trude eine Jahresstellung. Gut, Trude musste auch die Räume pflegen und vom Staub freihalten. Jakob hingegen war quasi durch und durch Hausmeister. Ein Mann für alles halt.
Ob nun eine Glühlampe kaputt gegangen war und ausgewechselt werden musste oder ob die drei Autos der Chefleute zur Reinigung anstanden, all dies und noch viel mehr machte Jakob. Und das alles, ohne dass man ihm eine Order erteilen musste.
Übrigens macht Jakob seine allseits zufriedenstellenden Tätigkeiten schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Inzwischen fühlt er sich wahrscheinlich schon, als wäre er der Beherrscher von Grund und Boden der Industriellenfamilie. Aber ganz so war es dann auch wieder nicht. Trude ließ keine Kommandos in ihrem Reich zu und schon gar nicht von Jakob.
Auch Trude ist beinahe schon so lang im Dienste der Rothgleiber´s beziehungsweise jetzt der Zingarelli´s wie Jakob. Was kaum einer wusste, die Chefleute ausgenommen, sind Trude und Jakob schon seit mehr als zwanzig Jahren verlobt. Der Mantel des Schweigens wurde hier, wenn überhaupt, durchbrochen.
Wenn absolut Not am Mann ist, fährt Jakob als Chauffeure mit der luxuriösen Reiselimousine mit Dietwald Rothgleiber nach Bayern in die Berge zum Jagdhaus. Dort wurden dann gemeinsam mit dem fixangestellten Aufsichtsjäger Arbeiten gemacht, welche einer alleine nicht machen konnte. Für Jakob sind dies übrigens nebenbei zusätzliche willkommene Urlaubstage.
Zum einen, weil sie ihn von seiner angebeteten Trude fernhielten und zum andern den gewohnten Trott in Berlin unterbrechen halfen.
Nur mit den Einheimischen, insbesondere mit Mürz Peda, dem Aufsichtsjäger, konnte Jakob, als er das erste Mal von seinem Chef in die Berge mitgenommen worden war, nicht viel anfangen. Er verstand ihn respektive sie nicht und umgekehrt war es ebenso. Aber je öfter er nach Bayern gekommen war, umso besser wurde der verbale Umgang mit den Ureinwohnern, wie Jakob das treffend zu formulieren wusste. Resi, die Frau vom Aufsichtsjäger, war dann als allseits begehrte Dolmetscherin, anfangs auch für den Jagdherrn von großem Nutzen. Sie übersetzte das Urbayrische in eine halbwegs verständliche Umgangssprache.
Jakob ist um die siebenundfünfzig Jahre alt, schätzungsweise einhundertfünfundachtzig Zentimeter groß, muskulöse Erscheinung mit ebensolchen Pranken statt Hände, wo sich beinahe ein Fußball darin geborgen fühlen könnte. Aber diese Hände braucht Jakob für seine Arbeiten.
Nur für feingliedrige Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Zerlegen und das Reinigen von Jagdwaffen, hat er kein Gespür. Ganz das Gegenteil von Mürz Peda, der hat auch ähnliche Pranken wie Jakob.
Das Zusammenbauen von winzigen Federn und ähnlichen Kleinzeug, wie beispielsweise das Auswechseln von Batterien in einer Fernbedienung für den Fernseher, da fehlt Jakob schlicht und einfach die Geduld dazu. Aber ein geduldiger und gutmütiger Mensch ist er durchaus.
Ganz im Gegensatz zu seiner zweiundfünfzigjährigen Langzeitverlobten. Trude mischt stets ein Quäntchen Gefühl in ihre Kochkünste mit hinein und sie trägt als Besonderheit vor allem einen angeborenen Gedulds- und Geschicklichkeitsfaden in sich. Darüber hinaus verfügt sie über einen sprichwörtlich breiten Rücken und ist jedenfalls dem kleinen Benjamin eine willkommene Ersatzoma.
Trude ist einen Kopf kleiner als Jakob. Sie ist zwar nicht schlank aber auch nicht dickleibig. Vom männlichen Auge aus betrachtet, hüllt sie ihren Körper in attraktive rundliche Formen ein, wie sie ein berühmter Barockmaler gerne gesehen hatte.
An ihren Händen enden auffallend zierliche, kleingliedrige aber nicht gar zu kurze Finger. Bestens geschaffen für den Kleinkram der Technik. Sie beherrschte mühelos den Batterieaustausch aller möglichen Haushaltsgeräte und selbstverständlich auch der Fernbedienung. Trude war, nebenbei bemerkt, noch nie in Bayern. Ihre spärliche Freizeit, höchstens ein bis zwei Tage in der Woche, verbringt sie gerne mit Jakob an einen der vielen Seen rund um Berlin und ist froh, am Abend wieder ohne eine lange Reisezeit aufwenden zu müssen, in ihrem Bett zu schlafen. Im Grunde wollte Trude unverzichtbar für die Chefleute gelten. Daher benötigte sie bis dato auch keine Vertretung. Sie wollte ihr übertragenes Reich selbst regieren. Und das macht sie auch. Entschlossen und entscheidungsfreudig trägt sie ihre zumeist selbst auferlegte Verantwortung mit erhobenem Haupte.
Trude schätzte den ihr darüber hinaus weitreichenden Familienanschluss sehr. Sie lebte inmitten der Familien Rothgleiber beziehungsweise Zingarelli. Auch ihr Lebensfreund Jakob dürfte wie sie ein ähnliches Denkmuster in sich tragen. Aber er ist schlau und lässt sich nicht zu einer Psychoanalyse auf die Couch drängen. Nur Trude kann er nichts vormachen. Sie kennt ihren normal verrückten Freund nur allzu gut.
Dietwald Rothgleiber benützt einen kleinen geländegängigen und wegerprobten allradbetriebenen Suzuki in seinem Jagdhaus. Das Fahrzeug steht, wenn es nicht gebracht wird, in der Garage. Das Auto ist stets einsatzbereit und ist für einen Jagdbegeisterten, wie er es in den vergangenen Jahren geworden war, gerade der richtige fahrbare Untersatz. Da sein Aufsichtsjäger eine ähnliche Kraxn, wie er selbst das halbverrostete Gefährt bezeichnete, besitzt, fahren sie halt des Öfteren zusammen diese Serpentinen am Güterweg zu den Hochständen oder Wildfütterungen.
Seit Dietwald Rothgleiber bei der Firma als Vorstandsvorsitzender zurückgetreten war, wurden auch seine Aufenthalte in Bayern immer ausgedehnter und das nicht nur während der Jagdsaisonen. In den letzten beiden Jahren nützte Dietwald Rothgleiber liebend gerne Nachtzugverbindungen oder, wenn er es überaus eilig hatte, buchte er einen Flug von Berlin nach Salzburg. Von dort aus war es ja fast nur ein Katzensprung in sein zweites Domizil. Hin und wieder holte ihn dann die Resi oder auch der Sagler Andi mit dem Auto vom Flugplatz ab. Der Sagler Andi ist eine besondere Persönlichkeit im Unternehmen Jagd, aber davon später.
Hin und wieder besuchte ihn auch seine Familie. Dann unternahm er mit ihnen und ganz besonders mit seinem Enkel Benjamin Ausflüge in sein Jagdrevier. Früh lernte der kleine Bub schon die eine oder andere Wildart kennen und nicht nur das: Auch für die Flora interessierte sich der Junge sehr. Der Großvater erklärte seinem Enkel die vielen bunten Bergblumen mit ihren unverwechselbaren Düften.
Ganz ehrlich, das gilt als Anmerkung: Das Wissen über die Kräuter und Blumen hatte er auch erst lernen müssen. Und dabei halfen ihm Resi und die Gusti. Die Letztgenannte ist die Frau vom Sagler Andi.
Für den kleinen Benjamin waren die Aufenthalte in den Bergen bei seinem Großvater jedenfalls prinzipielle Bereicherungen.
Mittlerweile wusste der Bub, dass sich sein Großvater, wenn er hier im Süden als Waldmensch lebt und zur Jagd geht, dass er auch seine Kleidung entsprechend der Farben der Natur wählt. Es war dann nicht mehr der sauber gebügelte dunkle Anzug mit hellem Hemd und Krawatte. Nein. Sein Outfit bestand durchwegs aus derben grau-grünen langen oder knielangen Hosen, irgendwelchen putzig karierten Hemden mit Hornknöpfen und ebensolchen Jacken oder Pullovern.
Bei Schlechtwetter nahm Opa keinen Regenschirm, sondern zog sich einen mit wasserabstoßenden Stoff gemachten Überzieher an. All das bemerkte der Bub und wollte ebenso, wenn er bei seinem Großvater wohnen durfte, auch so ein Jägerkostüm besitzen.
Und so geschah es dann auch. Großvater, Enkel und meist auch die Resi, die den Bengel mittlerweile fest ins Herz geschlossen hatte, besuchten mindesten einmal im Jahr einige Läden im Umkreis von Berchtesgaden. Der Bub probierte, Resi gustierte und Opa kaufte all die gewünschten Kleidungsstücke. Und so fuhren sie dann auch zusammen ins Gelände hinaus. Der stolze Benjamin und der ebenso stolze Großvater nebeneinander im Suzuki im praktischen Jägerlook.
Die irgendwann einmal zu klein gewordene Kinderbekleidung wie Hosen, Jacken und Schuhe schenkte Dietwald Rothgleiber sozialen Einrichtungen. Von dort wurden sie dann bei Flohmärkten an Bedürftige zu einem sehr günstigen Preis weitergegeben.
Auch der Mürz Peda und der Sagler Andi, profitierten hin und wieder mit jägertauglichen Lodenhosen oder Joppen, die er ihnen als Arbeitsbekleidung gekauft hatte.
Leider gab es auch immer wieder Abschiede. Einige Tage oder höchstens zwei Wochen konnte der Bub in seiner Jägerkluft bei seinem Großvater bleiben. Spätestens dann musste Benjamin wieder zu seinen Eltern nach Berlin zurück. Sehr oft fuhren Großvater und Enkel mit dem Zug von Salzburg nach Berlin. Manches Mal fuhren sie auch mit dem Auto den langen Weg über die verstopften Autobahnen hinauf in den Norden.
In den letzten zwei Jahren kam es auch vor, dass Dr. Reinhard Zingarelli geschäftlich in Salzburg oder in Linz auf Kreativ-Werbekongressen anwesend sein musste. Er brachte dann Elita und Benjamin zum Großvater und holte Tage später die beiden wieder von dort ab.
Ein Besuch beim Großvater löste stets ein riesiges Hallo beim Lausebengel aus. Aber auch die Freude des alten Herrn war unübersehbar.
Wenn genügend Zeit zur Verfügung stand, entschied sich auch Dr. Reinhard Zingarelli ein oder zwei Tage Auszeit von Berlin zu nehmen. Und so kamen halt auch die geborenen Stadtmenschen mit den bayrischen Naturwundern in engste Berührung.
Er hatte ihn zum ersten Mal bei der Beerdigung seiner lieben geschätzten Frau getroffen und damals mit ihm über vielerlei Privates und Geschäftliches geredet. Es hatte sich quasi eingebürgert. Beinahe regelmäßig, oft auch zwei- oder drei Mal im Jahr kamen sie auf Besuch. Entweder verabredeten sie sich in Berlin oder auch im Berchtesgadener Land. Gekommen sind sie immer alle drei zusammen. Die Nichte Brunhilde, ihr Mann Max Joachim und Heintje ihr gemeinsamer Sohn. Der ist übrigens beinahe gleich alt und gleichermaßen lebendig wie sein Enkel Benjamin.
Wenn Brunhilde und Max Joachim wieder einmal frische Luft atmen und Abstand vom Käse dringend geboten war, dann fuhr die Familie Fichtlzauber von ihrem Wohnort in Holland zu ihrem Zweitwohnsitz nach Berlin. Dort war dann auch ein Zusammentreffen der zwei Buben ohnehin obligatorisch.
Nach Bayern kommt die Familie Fichtlzauber im Regelfall wirklich nur einmal, und zwar in den Sommermonaten für einen, höchstens für zwei Tage. Den Rest ihres Urlaubes verbringen sie dann in einer kleinen Pension in den Bergen im Salzburger Land. Genaugenommen in den Hohen Tauern, in der Nationalparkregion in Neukirchen am Großvenediger.
Während dieser Zeit kann die Vorstandsvorsitzende von der Nicolaas Lüdemanns Groobkoorn Cool-Kaas Genossenschaft mit ruhigen Gewissen den Betrieb für zwei oder drei Wochen verlassen. Sie hat einen Vertreter, auf den sie sich verlassen konnte.
Vor Jahren hatte Brunhilde und ihr verstorbener Mann in der Gemeinde Neukirchen ein Ferienhaus, das sie allerdings, zum Glück muss man sagen, im Februar 2010 an den korrupten Holländer Van der Soaf verkaufen konnten. Überdies stand dieses Objekt in unmittelbarer Nachbarschaft vom Anwesen der Ex-Frau von Max Joachim.
Aber die beiden stehen nach wie vor, trotz so mancher Widrigkeiten, in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander. Und der kleine Heintje war überhaupt das Salz in der Suppe. Er verstand es, wie kaum jemand anderer, die Erwachsenenwelt wieder in das richtige Lot zu stellen.
So verbrachte die Jungfamilie Fichtlzauber ihren Sommerurlaub in den Bergen und hatten obendrein im Bedarfsfall in der Person von Anna Maria Fichtlzauber einen Omaersatz samt Kinderbetreuerin zur Verfügung.
Angeklungen ist es ja schon einmal.
Seinerzeit beim Leichenschmaus in der Villa, als sie am Herrentisch gesessen sind. Dietwald Rothgleiber hatte mit seiner angeborenen Routine geschickt und sehr gezielt in den nicht zu Ende gehen wollenden Redefluss von Max Joachim hineingebohrt.
Postwendend bekam er auch alle denkbaren Informationen, die er damals schon für zukunftsweisend einreihen hätte können. Er tat es nicht, noch nicht.
Aber die Zeit, selbstverständlich auch er, waren damals noch nicht bereit für ein Abenteuer in unbekannten Jagdrevieren. Dazwischen lagen nun etliche Jahre großer persönlicher Anstrengungen sowie auch des Vergessens.
Doch als er eines Morgens erwachte und den Traum der Nacht zu analysieren versuchte, wurden gerademal diese Bilder aus der Vergangenheit wieder lebendig. Er erinnerte sich plötzlich wieder an das Geschwafel von Max Joachim, dass seinerzeit seine Gedanken in eine Unform getrieben haben.
Nun war seiner Meinung nach die Gelegenheit gekommen, um anzuknüpfen, dort wo er seinerzeit gedanklich ausgestiegen war. Umsichtig säte er grobkörnige Samen aus, in dem er Max Joachim als ehemaligen Gartenfachmann anrief, diese einzupflanzen.
Kaum zwei Wochen später erhielt Dietwald Rothgleiber von ihm die Nachricht, die Samenkörner seien aufgegangen und würden sich prächtig entwickeln. Die Ernte könne er zwischen dem Almsommer und dem Bauernherbst erwarten.
Dietwald Rothgleiber war zufrieden mit dieser Meldung. Er vermied es tunlichst, Andeutungen über seine Aussaat gegenüber seiner Tochter zu erwähnen oder gar seinen Schwiegersohn von seinen Plänen einzuweihen. Das tat er schon aus taktischen Gründen nicht.
Er ließ es einfach herankommen.
Und sie kamen alle drei.
Der Urlaub im Herbst war schon das ganze Jahr über geplant. Die Zimmer in der Privatpension in Neukirchen wurden bei ihrem letzten Ferienaufenthalt im Sommer bereits gebucht. Alles hatte somit seine Ordnung.
Auch Max Joachim hatte bei seiner Ex-Frau vorsichtig seine Fühler ausgestreckt und sie auf eine mögliche Überraschung vorbereitet. Und so bildeten ab dieser Zeit die grobkörnigen Samenteile, die Dietwald Rothgleiber Max Joachim zur Aussaat übermittelt hatte, bereits in den Gehirnwindungen von Anna Maria Fichtlzauber neue, scheinbar völlig auf unorthodoxen Bahnen laufende Synapsen.
Die ganze Nacht war die Familie Fichtlzauber mit dem Auto von Holland in die Berchtesgadener Bergwelt unterwegs. Brunhilde, Max Joachim und Heintje wollten eine Woche Herbsturlaub in Neukirchen machen.
Sie luden Dietwald Rothgleiber ein, der zu dieser Jahreszeit in seinem Jagdhaus war, mitzukommen. Und wie der Teufl so halt mit Bällen zu spielen gedenkt, so ähnlich ist es auch hier geschehen. Max Joachim, der schlaue Fuchs, brachte es beinahe an diesem berüchtigten Wochenende zu einem Erfolgserlebnis.
Aber dabei blieb es nicht.
Es war der Samstag, der 28. September 2013, als sie am frühen Morgen so gegen sieben Uhr endlich am vereinbarten Ort eintrafen.
Dietwald Rothgleiber wartete bereits vor einem am Königssee nächstgelegenen Gasthaus auf angekündigten Besuch. Dann kamen sie und stellten ihren PKW am Parkplatz neben seinen Suzuki ab.
Brunhilde und Max Joachim stiegen aus. Sie dehnten und streckten sich. Sie waren sichtbar müde und abgeschlagen. Nur Heintje war quietschvergnügt. Er hatte die ganze Fahrt gut und tief auf einem Kindersitz auf der Rückbank geschlafen.
Glücklicherweise bescherte den Ankommenden dieser Morgen ein Traumwetter. Es war ein kühler Herbsttag. Der wolkenlose blaue Himmel reflektierte im kristallklaren spiegelglatten Wasser. Rundum die Berge, die ihre Schatten wie Bildnisse an der Wasseroberfläche in verzerrte Perspektiven zu drängen schien.
Und vor allem die noch vorherrschende Ruhe.
Spätestens zwei Stunden danach würde es mit der sprichwörtlichen Ruhe am Königssee für eine Weile ohnehin vorbeisein. Dann würden die Urlauber und Tagesausflügler den Königssee, der mit seinen Mythen und Sagen weit über die Region hinaus bekannt ist, zur Freude der Gastronomen, für sich eingenommen haben.
Nach einer ausgedehnten Rast mit Frühstück im Gasthaus und einem kurzen Spaziergang am Ufer des Königssees fuhren alle zusammen die gut und gerne einhundertzwanzig Kilometer in den Pinzgau.
Dietwald Rothgleiber fuhr mit seinem Suzuki hinterher. Er ließ sich auch gerne einladen. Ehrlich gesagt ist er auch neugierig geworden, einer ihm bislang unbekannten weiblichen Person vorgestellt zu werden. Das alles sollte laut Plan von Brunhilde und Max Joachim in mustergültiger Weise geschehen.
Dietwald Rothgleiber war bei Freunden und Bekannten als ein holpriger Kavalier berühmt berüchtigt. Er besann sich aber. Vor einem Supermarkt in Mittersill hielt er an. Dort kaufte er einen kleinen Bund Rosen. Inzwischen wusste er ja, dass das Vorstellungsritual der kleine Heintje liebend gerne seiner Oma Anna Maria zelebrieren wollte. Und so geschah es eine Stunde später auch. Mit den Blumen in der Hand stand Heintje vor der Frau und zeigte mit Strauß nach hinten.
„Du Oma, das ist der Opa von Beni!“