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Späte Rückkehr Dresden

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Nun, da bin ich“, flüstert Jakob Steinberger. Das sagt er immer wieder, wenn er in dieser Stadt an einem neuen Platz angelangt ist.

Vor drei Tagen ist Jakob Steinberger in seine ehemalige Heimat gekommen. „Meine gewesene Heimat“, wie er sagt. Er ist in Deutschland, um es genauer zu sagen: er steht auf der Brühlschen Terrasse in Dresden.

Jakob Steinberger ist ein alter Herr, im nächsten Jahr wird er achtzig.

„Nu, wenn du fahren willst, dann fahr“, hat seine Frau Rosel gesagt. „Der Allmächtige allein weiß, wie lange du noch dazwischen herumgehen kannst. Später ...“ Sie hat nicht ausgesprochen, was sie mit später meinte. Aber Jakob Steinberger wusste es.

So ist er gefahren.

Seit über fünfzig Jahren lebt Jakob Steinberger in Israel, seiner angestammten Heimat. Deutschland – das lag so weit weg. Die Erinnerungen glichen teils schönen, teils beklemmenden, Angst machenden Träumen. Diesen Träumen wollte er am Ende seines Lebens nachgehen.

Vieles hat Jakob Steinberger schon in Augenschein genommen: die Semperoper, den Zwinger, im Stallhof des Schlosses ist er gewesen, und an seiner Außenseite betrachtete er Ludwig Richters Fürstenzug. In der Hofkirche hat er dem übenden Organisten gelauscht. Gestern Abend wollte er an der Frauenkirche den Arbeitern zusehen. Er sah sie nicht, nur grelle Scheinwerfer, die den Handwerkern geleuchtet haben. Ihre Rufe konnte er hören, ihre Maschinen. Dann ist er auf Umwegen wieder zurückgeschlendert zur Brühlschen Terrasse.

Die Elbe strömt kraftvoll und ruhig nordwärts, immer mehr Lichter beginnen sich in ihr zu spiegeln. Es ist, als bekämen die Geräusche in diesem Licht einen anderen Klang. Ein Dampfer tuckert stromabwärts, voll von bunten Lampen und fröhlichen Menschen.

Vom anderen Ufer leuchtet Neustadt herüber –

Und jetzt erst fällt Jakob Steinberger der jüdische Friedhof da drüben an der Pulsnitzer Straße ein. Hin und wieder hat er in Israel an diesen Friedhof gedacht. An seine verschnörkelten hohen Grabmäler, manche über und über grün von Moos, und wie die Mutter ihm die Inschriften vorgelesen hat. Hier in Dresden ist ihm der Friedhof bislang nicht in den Sinn gekommen. Wenn es ihn noch gibt, dann wird auch er Wunden haben, sagt er sich, so wie wir, wie diese Stadt ihre unzähligen Wunden hat. Sie werden keinen Grabstein stehen gelassen, werden alles schon vor der Bombardierung im Februar fünfundvierzig beseitigt haben!

Soll er hingehen? Es wird sich ergeben oder nicht ergeben, denkt Jakob Steinberger.

Ja, nach Neustadt will er gehen, sofort!

Jakob Steinberger überquert die Augustusbrücke, wenig später den Neustädter Markt mit dem goldenen Reiterstandbild Augusts des Starken. Als er ein Kind war, schien ihm der große König bis in den Himmel zu reichen. Ja, in seinem Gold war er bestimmt direkt vom Himmel auf den Platz geritten. Für den Jungen stand er in mehrfacher Hinsicht für Größe. Beachtlich ist er immer noch, aber ...

Jakob Steinberger fühlt eine Art von Trauer, die sich bei allem Verlorengeglaubten einstellt.

In der Hauptstraße ist noch Betrieb. Ein gemischtes Volk sitzt auf den Bänken unter den Platanen, die sich die Straße hinaufziehen. Dadurch, dass sich die Straße zum Albertplatz verjüngt, täuscht sie eine Länge vor, die sie nicht hat. Wie endlos ist ihm diese Straße in seiner Kindheit vorgekommen.

Er betritt ein Restaurant, das in einem überdachten Hof untergebracht ist. Hoch über dem äußersten Rand der Dächer spiegelt sich Glas und vermittelt den Eindruck, dass man unter freiem Himmel sitzt. Ein Restaurant von dezenter Eleganz, wie er es bisher in Dresden noch nicht gesehen hat.

Als ihm das Essen gebracht wird, tritt ein junges Paar an seinen Tisch, vielleicht Anfang, Mitte Zwanzig.

„Entschuldigen Sie bitte“, vor Aufregung flüstert der Mann. „Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

„Für alte Menschen ist es immer sehr erfreulich, wenn die Jugend sich zu ihnen gesellt“, lacht Jakob Steinberger. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

„Wir wünschen Ihnen einen guten Appetit“, haucht die junge Frau, und sie bekommt einen roten Hals und rote Ohren.

Sie bestellen Wein, und als sich die beiden zuprosten, sehen sie sich mit einem Blick an, der Jakob Steinberger veranlasst, sich über seinen Teller zu beugen. Es dauert eine Weile, ehe sie trinken.

Sie haben die Köpfe gesenkt und schweigen. Endlich sagt der junge Mann, und er hält seinen Blick fest auf die Tischplatte geheftet: „Sie werden sich fragen, warum wir an Ihren Tisch kommen, obwohl so viele andere noch frei sind ...“

Jakob Steinberger hebt die Brauen. Ohne aufzusehen fährt der junge Mann verlegen fort:

„Wir ... nein, meine Braut hat es sich in den Kopf gesetzt, heute Abend mit einem fremden, einem sympathischen Menschen zu feiern ... mit dem ersten, dem wir begegnen ...“

„So?“ Jakob Steinberger legt das Besteck ab. „Und da hat das Los mich getroffen?“

Die junge Frau nickt. „Dieser Abend ist ... Wissen Sie ... Wir haben uns heute Abend verlobt“, sagt sie und wird noch röter, „und haben gesagt, den wir im Lokal antreffen, den bitten wir ...“ Sie ist so rot geworden, dass sie ihr Gesicht bedeckt.

Jakob Steinberger erhebt sich, reicht beiden die Hand. „Da gratuliere ich. Glück wünsche ich Ihnen, viel Glück der Braut, dem Bräutigam ... Glück und Wohlergehen auch Ihren Eltern, den Geschwistern!“

„Wir haben beide keine Eltern mehr. Keine Geschwister“, sagt die junge Braut leise.

„Oh, da habe ich etwas Verkehrtes ...“

„Nein, nein!“ ruft sie schnell. „Es ist, wie es ist!“

Jetzt ist auch der alte Mann so verlegen wie die jungen Leute. Erinnerungen steigen auf, lange verschüttet. In seinem Hals wächst etwas, schnürt und presst, dass seine Augen flackern.

Später lässt er für sich eine Flasche Roten kommen und lädt die beiden zum Trinken ein, zum Mitfeiern, wie er sagt. Denn es gäbe für alle einen Grund zum Feiern:

„Ja, da betreten Sie beide, nein, wir alle drei, in gewisser Weise Neuland“, lacht er und hebt sein Glas. „Obwohl, so ganz stimmt das für mich nicht. Denn ich bin wohl mehr auf der Suche nach Vertrautem, nach Verlorenem ...“

Die beiden lächeln glücklich zurück, sie fragen aber nicht, was er mit dem Vertrauten und Verlorenen meint. Der junge Mann hat seine Hand auf den Arm seiner Braut gelegt, und hin und wieder blicken sie sich tief und lange an.

Einmal rutscht der Hemdsärmel bei dem jungen Mann hoch, und Jakob Steinberger sieht über der Handwurzel eine Tätowierung.

Jetzt kommen seine Augen nicht mehr von dem bläulichen Gebilde los. Er versucht nicht hinzusehen, es gelingt nicht. Schließlich fragt er: „Sie tragen eine Tätowierung?“

Der junge Mann schiebt den Ärmel hoch. „Ja, eine Spinne.“

„Eine Spinne? Wissen Sie, dass Spinnen sogar ihre Artgenossen töten“, fragt Jakob Steinberger. „Und es kann vorkommen, dass sie sie auffressen.“

Die beiden finden das komisch. Sie lachen wie über eine ulkige Geschichte. „Von uns beiden ist keiner so!“ Der junge Mann schüttelt, immer noch lachend, den Kopf. „Ich nicht und sie auch nicht ...“ Er legt seinen Arm um den Hals seiner Braut.

„Tätowierungen“, jetzt entblößt Jakob Steinberger seinen Arm, „Tätowierungen sind Narben“, sagt er ernst, „es sind tiefe, bleibende Wunden. Nicht nur im Fleisch. Sehen sie einmal ...“

Die junge Braut beugt sich zu ihm hin. „Eine Schlange?“, fragt sie. Der alte Mann schüttelt den Kopf.

„Eine Nummer? Du, guck mal, eine Nummer!“ flüstert sie zu ihrem Bräutigam hin.

„Jude?“, fragt der. „Sie sind Jude?“

Der alte Mann nickt. „Das hier ist lange her, sehr lange“, sagt er. „Das war in der Zeit, als wir keine Namen mehr hatten. Wir waren eine Nummer. Neunundzwanzigtausend-vierhundert-dreiundachtzig. Das war ich. Den Jakob Steinberger wollten sie damit auslöschen! Töten! Den gab es nicht mehr. Das hier“, er streicht mit dem Finger über die bläuliche Nummer, „das hat die Seele verwundet. Und solche Wunden heilen nicht. Niemals.“ Und, als vertraue er ihnen ein Geheimnis an, flüstert er: „Es ist noch schlimmer: das vererbt sich.“

Das Lebhafte, das Versonnene und auch ihr Glücklichsein sind verschwunden, als wäre es von den Brautleuten abgefallen. Der junge Mann sieht abwechselnd auf seine Spinne, dann auf die Nummer des alten Mannes.

„Ich sehe, ich habe Sie entsetzt. Das war nicht meine Absicht“, sagt der alte Mann und hebt sein Glas gegen sie. Und er versucht zu lächeln, als er sagt: „So tragen wir beide etwas Modisches. Sie und ich.“

Und langsam, als müsste er bei jedem Wort überlegen, spricht er über sein Leben, erzählt von damals, als man dem achtzehnjährigen Jakob Steinberger seinen Namen auslöschen wollte. Er erzählt von der Zeit in Buchenwald, im Arbeitslager, auch von seinem Leben in Israel.

Jakob Steinberger erzählt leise und mit größeren Pausen. Die jungen Leute sitzen vorgebeugt, lauschen und vergessen zu trinken und haben wohl auch einander vergessen. Noch während der alte Mann spricht, hat die junge Frau ein Zittern überfallen. Zusammengekauert sitzt sie, die Hände unter die Achseln gepresst, als fröre sie.

„Warum sind Sie hergekommen?“, fragt sie endlich. „Warum quälen Sie sich?“

„Quälen? Junge Frau ... Ich sage es einmal so: es ist, als würde ich eine alte Wunde aufstechen und den Eiter herausdrücken. Oder: man entschließt sich, einen peinigenden Körperteil zu amputieren.“

Der junge Mann hat seinen Kopf aufgestützt, die Tätowierung hält er verdeckt. Er blickt an dem alten Mann vorbei ins Leere, als dächte er nach. Die junge Frau öffnet den Mund, will etwas fragen, aber sie fragt nicht.

Jakob Steinberger hält die Augen geschlossen. Es ist das erste Mal, dass er fremden Menschen in diesem Land seine Geschichte erzählt hat, Menschen, die nach denen gekommen sind, die ihn gequält, die getötet haben. Ihm ist, als hätte er sich vor den beiden jungen Menschen, die so glücklich an seinen Tisch gekommen sind, entblößt.

„Verzeihen Sie mir.“ Seine Stimme klingt müde, gebrochen. „Ihr fröhlicher Tag hat durch mein Erzählen keinen fröhlichen Ausklang. Es tut mir leid. Es ist doch Ihr Verlobungstag. Vielleicht bereuen Sie, dass Sie an diesem Tag zu mir an den Tisch gekommen sind.“

Die jungen Leute schweigen, dann schüttelt einer nach dem anderen den Kopf, aber keiner wagt es, den alten Mann anzublicken, keiner weiß etwas zu sagen.

So zahlt er denn. Und als er gehen will, bitten die beiden, ihn ein Stück begleiten zu dürfen. Auf dem Weg bleiben sie stumm. Den alten Mann haben sie in ihre Mitte genommen. Am Neustädter Markt müssen sie sich trennen.

„Werden Sie glücklich“, sagt Jakob Steinberger, ihnen beide Hände hinstreckend. „Ich wünsche es Ihnen. Und ein langes Leben! Das auch!“

„Danke.“ Der junge Mann drückt ihm vorsichtig die Hand, als könnte er etwas an dem Alten zerbrechen. „Danke für alles. Und: Leben Sie besser, wenn Sie nach Israel zurückkommen.“

Abwartend, befangen steht das Mädchen daneben. Da nimmt sie Jakob Steinberger unversehens in die Arme und küsst ihn und läuft fort.

Der junge Mann verneigt sich kurz wie zur Bekräftigung, dann folgt er gemächlich seiner Braut.

Jakob Steinberger sieht den beiden nach, und bald schon kann er sie nicht mehr erkennen. Nur die Schuhe der jungen Frau hört er noch einen Moment auf dem Pflaster. Dann sind sie irgendwo in der Dunkelheit, hinter dem Reiterstandbild des starken August, verschwunden.

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