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I.

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Ein sonniger Julitag.

Der See lag blau in die Felsen gebettet wie ein tiefes Mannesauge, und die Felsen bildeten die wetterharte Stirn. Die majestätischen Berge ragten grau und weiss ins Himmelsblau, und zu ihren Füssen, am Ufer des Sees, wimmelte und zwitscherte das Menschenvolk. Sommerfrischler, Geheimräte, Professoren, Industrielle, Kaufleute mit Frauen und Töchtern, die sich mit ihren Dirndlkostümen und Grossstadtfrisuren vor den Königen der Bergwelt wie ein Zwerggeschlecht am Karneval ausnahmen.

Hart am Ufer, da wo die weisse Landstrasse, sich sanft neigend und zu einem weiten Platze sich verbreiternd zum See abfiel, lag ein Nachen festgepflockt, eine flache, breite Zille, die ihr schlankes Vorderteil hoch über den Wasserspiegel erhob, wie alle Kähne, die den See befuhren.

Auf dem Sitzbrett des Hinterschiffs kauerte ein Bursche in kurzer bayerischer Lederhose, mit gebräunten Knien und blühweissem Hemd. Der graue Rock lag auf der vorderen Sitzbank. Die braune Rechte hatte das Ruder gefasst und plätscherte damit. Den linken Arm hielt er auf das Knie gestemmt, und die Hand umfasste das Kinn. Der mit einem bunten Blumenstrauss geschmückte Filzhut lag in den Nacken zurückgeschoben. So spähte er unverwandt auf die Landstrasse hinaus. Ab und zu zog er die dicke Uhr an der massigen Kette aus der Hosentasche und klopfte ungeduldig mit dem schwerbeschuhten Fuss den Boden des Nachens.

Da knirschten Wagenräder im Sand der Strasse. Ein offener Landauer kam in schlankem Trab angefahren. Darin stand aufrecht ein Herr in grauem Reiseanzug und weissem Strohhut. Braune Koffer wackelten auf dem Bock neben dem Kutscher. Der Bursche im Kahn sprang auf; sein schwarzes Auge, sein ganzes braunes Gesicht leuchtete. Mit einem Satz stand er neben dem Wagen, der dicht am Ufer hielt, und streckte beide Arme dem Ankömmling entgegen.

„Grüss‘ Sie Gott, Herr Leutnant, grüss’ Sie Gott!“

„Guten Tag, Sepp! Grüss’ dich Gott! Schau, da bin ich, nun hast du mich endlich.“

Die beiden jungen Männer hielten ihre Hände fest ineinander und schauten sich eine Weile mit leuchtenden Blicken in die Augen.

„Nun komm, Sepp. Ist das dein Kahn?“

Sepp nahm die Koffer und half dem Leutnant in den Nachen.

„So, Herr Leutnant, wenn Sie sich jetzt hier auf den Stuhl setzen wollten, dann könnten wir losfahren.“ Damit wies er auf den in der Mitte des Kahnes stehenden roh gezimmerten Lehnstuhl.

„Wenn er nicht umfällt! Ist er fest?“

„Der hat schon viele Fahrgäste getragen, alles mögliche Volk: Engländer und Amerikaner, auch schon Franzosen . . .“

„Vergessen wir die Herren! Sepp, es sitzt sich hier ausgezeichnet.“

Sepp stand aufrecht auf der äussersten Kante des Hinterschiffs und stiess das Fahrzeug mit dem breiten Ruder vom Lande ab. Nun glitt es, wie von unsichtbaren Händen geschoben, in gleichmässigem Fluss über den regungslosen Wasserspiegel.

Die Insel kam näher. Aus dem Gebüsch schaute das Nepomukbild. Dicht unter Ahornästen schwebte das Boot wie ein Schatten vorüber.

Ein „Ah!“ des Entzückens entrang sich der Brust des jungen Fahrgastes.

Rechts und links standen zwei schroffe, trotzige Felskulissen senkrecht in den See hinein, und in der weiss und goldig schimmernden Ferne öffnete sich eine unirdische Wunderwelt. Ernste dunkle Tannenwälder, kühne Felsschroffen, grüne Matten und hoch darüber weisse Schneefirnen im Sonnenlicht des Spätnachmittags erglühend, das blaue Wunder des Sees, der flimmernde Himmel mit fahrigen Wolkentschwaden.

„Herr Leutnant, und das sollten uns die Russen oder Franzosen genommen haben!“

Sepp tat ein paar kräftige Ruderstösse, dass der Kahn nur so über die Flut dahinflog. Wie hatte er sich schon lange darauf gefreut, seinen Leutnant in diese seine Welt zu tragen!

Der Angeredete sagte nichts. Er stieg nur von seinem Stuhl herunter und setzte sich, an ein Sitzbrett zurückgelehnt, auf den Boden des Kahns. Er warf den Hut zum Gepäck hinter sich, streifte die Rockärmel hinauf und liess die Hände bis zum halben Unterarm ins Wasser hängen. Sein bleiches, mageres Gesicht überflog eine schwache Röte; die leichte Brise, die von den Bergen zum See niederstieg, spielte mit seinem blonden Haar und verwischte den feingezirkelten Scheitel. Der halbgeöffnete Mund trank in gierigen Zügen die kühle Luft, und die matten Blauaugen nahmen von Sekunde zu Sekunde an Glanz zu. Es kam ihm vor, als ströme die kühle Flut, die seine Pulse umschmeichelte, durch seine heissen Adern, und als weite und kläre sich seine Stirne in der weltweiten Sicht.

Ein Läuten wie von schweren Glocken hallte ihm aus dem gewaltigen Tempelrund der Felsnatur entgegen und hoch über den tiefen Glockentönen lag ein feiner leiser Akkord von Geigen- und Harfenklang.

Die Sonne sank tiefer hinter den Bergen und ein geheimnisvolles, violettes Dämmern liess seine Schleier vom blauen Himmel niedergehen, unter denen die Felsfirsten rötlich schimmerten in blendendem Kontrast zu den schwarzen Tannen zu ihren Füssen.

Die Berge standen um den See wie eine Schar gepanzerter Riesen der Vorzeit um die Wiege eines zarten Königskindes. Es lag wie ein ehrfürchtiges Staunen ob der weichen Hilflosigkeit des Sees, wie ein Anbeten der kinderduftigen Reinheit auf ihren gewaltigen Stirnen. Sie drängten sich immer dichter und dichter hinzu, und einer schaute dem andern über die Schulter und schien sich an dem wohligen Atmen und goldigen Lächeln des Kindes zu freuen. Und eine Sorge hatten sie um das Kind! Von allen Seiten strömte die Milch der weissen Staubbäche ihm zu; Alpenblumen warfen sie ihm entgegen und stellten kleine Schweizerhäuschen als Spielzeug auf. Ein besonders gewaltiger Recke, der sein Haupt mit dem gehörnten Germanenhelm weit über seine Nachbarn erhob, hatte seinem Liebling etwas ganz besonders Feines geschenkt, ein weisses Kirchlein mit rotem, zwiebelkuppeligem Türmchen und ein Dutzend bunter Häuser dazu. Das Kind musste die Riesen alle recht lieb haben, denn ihr Bild strahlte immerwährend aus seinen Blauaugen; aber das Kirchlein hatte es besonders gern, weil es so bunt auf dem weichen gelben Sand stand und sich streicheln liess.

So phantasierte Sepps Gast in den sinkenden Abend hinein.

Plötzlich zuckte es wie ein Blitz durch sein Gehirn. Jetzt, ja jetzt! Die Beleuchtung, genau die Beleuchtung über demselben Seebild hatte er schon einmal gesehen! Das war vor zehn Jahren! Eine Blutwelle schoss ihm in die Stirne. Er reckte sich mit einem Ruck im Sitzen empor. Ja, vor zehn Jahren war es, im dritten Semester seiner Universitätsstudien. Von München aus hatten sie, drei lustige Kommilitonen, einen Ausflug ins Gebirge und an den See gemacht. Ah, wie viel tiefer war doch jetzt der Eindruck des Geschauten als damals im ersten Jugendüberschwang! Aber das andere! Jetzt hatte er es! Sepps Gesicht und das des Mädchens von damals waren dieselben. Aber er hatte nie von einer Schwester gesprochen, auch dann nicht, wenn sie einmal gemütlich miteinander geworden waren. Doch das war so seine stolze, verschlossene Art. Und erst Sepps Gesicht damals, als er aus der Ohnmacht nach dem ersten Verbinden im Sanitätsunterstand erwacht war! Diese Angst in des treuen Burschen Zügen, genau die heilige Todesangst in des Mädchens Auge bei der verfluchten Kahnfahrt.

Was hatten sie sich damals dabei gedacht!

Sie hatten das Touristenschiff, da wo es die Wende zur Rückfahrt macht, verlassen und waren in Wald und Fels umbergestreift. Mit dem letzten Schiff am Abend wollten sie heimkehren, hatten es aber verspätet. Jetzt galt’s, einen Kahn und einen Schiffer zu finden. Alle Bootsleute waren schon von Reisenden mit Beschlag belegt. Nur ein Kahn war übrig, hatte aber keinen Mann als Führer. Sie klopften und baten an zwei, drei Blockhäusern, aber alle Männer waren fort. Allein wollte und durfte man die unkundigen jungen Leute nicht fahren lassen.

Da erbot sich ein kräftiges junges Mädchen aus Mitleid mit den Verzweifelten, sie über den See zu rudern. Vielleicht würde sie auf der Fahrt ihren Bruder mit seinem Kahn treffen, der schon Fremde zurückruderte und jetzt auf der Heimfahrt begriffen sein musste. Dann könnte er ja ihren Kahn nehmen und sie selbst in den seinen übersteigen, um wieder nach Hause zurückzufahren.

Die Studenten freuten sich in dem Gedanken, von einem frischen, schönen Dirndl über den See gerudert zu werden. Heitere Scherze und unverblümte Komplimente umflogen das Mädchen, als es den Kahn zur Abfahrt fertig machte und sich mit dem grossen Ruder auf die breite Bank des Hinterschiffs stellte. Die übermütige Laune stieg mit jedem Ruderschlag und die poetische Stimmung mit dem Abendglühen der Bergkronen, über dessen Widerschein im Wasser sie dahinfuhren. Grüne, blaue und rote Lichter zuckten und webten in der von den Felsen eingeschlossenen Luft wie eine Waberlohe durcheinander. Einer der jungen Herren schmetterte den Walkürenruf in die Stille hinaus, sprang auf und wollte die Ruderin umfassen und küssen. Im selben Augenblick sass ihm die Hand des. Mädchens klatschend auf der Wange. Er torkelte zurück und brachte den Kahn bedenklich ins Schwanken. Als sei nichts geschehen, ruderte das Mädchen ruhig weiter, aber um ihre Mundwinkel ging ein Zucken, und in ihren schwarzen Augen standen Tränen. Die Herren Studenten sassen still und verschüchtert da; keiner sagte ein Wort. Sie fühlten sich wie gezüchtigte Hunde. Nach einer Weile erhob sich der Missetäter und bat ernst und ehrlich, wie vor einer Dame, um Verzeihung.

Der arme Kerl, Egon Weissenfels, ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle, später hochgeachteter Offizier, hatte bei Arras den Heldentod gefunden. Von manchen war er als Weiberfeind verlacht worden, weil er im Kriege gegen jede Art leichterer Lebenshaltung mit aller Strenge einschritt. Das hatte das Schiffermädchen aus ihm gemacht.

Er, Hermann Stürmer, hatte sich über die Entschuldigung des Kommilitonen geärgert, hatte sich nach dem Mädchen umgewendet in dem Gedanken, ihr durch ein gemütlich-zutrauliches Benehmen die Stellung als Siegerin wieder zu entreissen. Er langte mit dem Arm nach ihr, um sie zu umfassen. Da warf das Mädchen das Ruder nach ihm und sprang in seiner heldenmütigen Angst ins Wasser. Starr vor Schrecken sassen die andern da und schrien der dem Ufer zuschwimmenden nach, bis sie im Abenddämmer entschwand. Ihr blumengeschmückter, breitrandiger Hut schwamm auf den wie im leisen Erschauern sich kräuselnden Wellen.

Mit heisser Anstrengung gelangten sie endlich im Dunkel zum Anlegeplatz an der Landstrasse und flohen wie böse Buben noch in der Nacht zur nächsten Bahnstation. In den folgenden Tagen suchten sie mit zitternder Angst in den Zeitungen nach einem Bericht über ihr Abenteuer. Wenn das Mädchen ertrunken wäre! Aber es verlautete nichts.

So hatte Hermann Stürmer die Schreckendstunde im Laufe der Jahre vergessen. Es war ja auch nur ein dummes Bauernmädel gewesen. Wer wollte sich da noch viel kümmern!

Und nun fiel ihm das Begebnis heiss auf die Seele. Es war ihm, als stächen ihm Sepps Augen forschend ins Herz. Er wandte sich um und streifte mit einem prüfenden Blick Sepps Auge. Der aber schaute ganz unbefangen drein und meinte so obenhin:

„Ja, Herr Leutnant, jetzt sind wir gleich daheim. Schauen Sie, da hinten am End’ des Sees liegt unser Häuserl. Und die Stube unter dem Giebel mit den zwei offenen Fenstern und dem kleinen Vorbau, die ist für Sie eingerichtet. Da sollen Sie bald gesund werden.“

Wie konnte er aber auch auf den Kindischen Gedanken kommen, dass Sepp etwas von der Begebenheit wusste und erst recht, dass er ihn als den traurigen Helden von damals erkannte? Das Mädchen musste ja längst verheiratet sein und war vielleicht weit fortgezogen. Die ganze unangenehme Geschichte war sicher in der Gegend vergessen. Aber das nervöse Hämmern seines Herzens wollte sich doch nicht beruhigen.

„Schauen Sie, Herr Leutnant, da steht die Mutter schon an der Türe und erwartet uns.“

Hermann Stürmer schaute wie geistesabwesend hinüber, indes Sepp zu gewaltigen Ruderschlägen ausholte.

Jetzt schlug der Kahn einen Bogen und verlangsamte die Fahrt. Knirschend legte er am Ufer an. Sepp warf das Ruder auf den Rasen, fasste die Koffer und sprang leichtfüssig hinaus. Von seiner Hand gestützt folgte ihm der Gast.

Vom Hause her kam eine grosse stattliche Frau in der adeligen Landestracht den Uferhang hinunter.

„Das ist meine Mutter, Herr Leutnant.“

Die Frau reichte Hermann Stürmer die schwielige Hand und drückte sie mit einer Herzlichkeit, die noch mehr sagte als ihr schlichter Gruss:

„Seien Sie herzlich willkommen, Herr Leutnant, mein Sohn hat mir soviel von Ihnen erzählt, dass Sie gar nicht wissen, wie sehr ich mich freue, Sie ein paar Wochen in unserem Haus zu haben.“ Dabei fasste sie mit beiden Händen des Gastes Hand. Der wusste nicht, was er sagen sollte, so war er gefangen von der schlichten, ehrlichen Art der alten Frau. Die ganze Ehrlichkeit, die in ihren Worten lag, begriff er allerdings noch nicht. Und das war in diesem Augenblick gut für ihn.

„Ich danke Ihnen“ — fast hätte er gesagt ,gnädige Frau‘. — „Hoffentlich falle ich Ihnen nicht zu sehr zur Last, aber Ihr Sohn wollte es nun einmal nicht anders.“

„Und ich auch nicht.“ Dabei leuchteten ihre schwarzen Augen unter der freien Stirne.

Hermann Stürmer konnte den Blick nicht von ihr lassen. Wieder dasselbe. Gesicht von damals! Viel Arbeit und wohl auch Sorgen hatten ihr Runen um den Mund in die Wangen gegraben. Aber sie hatten nicht vermocht, die festen, energievollen Züge zu verwischen, die unter den Falten und Fältchen wie ein Heldengedicht von Mutterglück und sorgender Liebe hervorleuchteten. Die Krähenfüsschen, die strahlenförmig auf das Auge zuliefen, als wollten sie es zerhacken, vermochten nichts gegen die innere Fröhlichkeit und Seelenstärke, die aus den Tiefen des Auges wie ein heimeliges Feuer strahlte. Das Leid war wohl manchmal auf diese echte Tochter ihrer stolzen und starken Heimat hereingestürmt, aber die Spuren, die es in dieser Seele zurückgelassen hatte, mussten wohl nur vermehrte Kraft erzeugt haben, denn das schwere in Zöpfen um den Kopf gelegte schwarze Haar durchzogen nur vereinzelte Silberfäden.

Die drei gingen langsam in der kühlen Abendluft dem Hause zu, dass mit seinen blumenstockgeschmückten Fenstern auf den See hinausschaute.

Hermann Stürmer konnte den Blick nicht von der alten Frau lassen, die mit einem seiner Koffer vor ihm herging. Und dann schaute er wieder traumverloren in die Bergeinsamkeit, da wo sie, vielleicht eine Stunde hinter dem Hause, am tiefsten war und am geheimnisvollsten durch die Silberzunge eines Staubbaches sprach. Man sah ihn wohl von der Höhe ins Tal niederschiessen, hörte aber sein Rauschen nicht. Immer mehr kam Hermann zum Bewusstsein, wie die grosse Natur hier grosse Menschen geschaffen hatte, nur dass er noch nicht klar sah, worin die Grösse dieser Menschen bestand. Er selbst fühlte sich nur so unendlich klein vor diesen Bergen und diesen Menschen.

So trat er ins Haus. Die Mutter reichte Sepp den Koffer. „Führ’ den Herrn Leutnant gleich auf sein Zimmer, dass er sich etwas erfrischen und es sich bequem machen kann. Dann holst du ihn nach einem Viertelstündchen zum Essen ab.“

Damit verschwand sie in einer Türe an der Seite des kleinen dunklen Hausflurs.

Sepp stieg seinem Gast voraus die steile, enge Stiege hinan, an deren Kopf die Zimmertüre weit offen stand. Ohne sich umzuschauen, ging Hermann gleich zum offenen Fenster.

Da lag das ganze zauberisch schöne Rundbild vor ihm. Blau die Berge und der See tiefschwarz. Hoch darüber spannte sich ein grünseidener Himmel, unter dem einzelne weisse Wolkenkissen sich um die Häupter der Felsen schmiegten.

Hermann Stürmer war es, als müsste er irgend jemand danken, vor irgend jemand in die Knie sinken und weinen. Ein Klang war in seiner Seele, und Bilder webten durch seine Phantasie, die sich zu einem Gedicht zusammenschliessen wollten. Aber er fand die Worte nicht und die festumrissenen Gedanken. Er fühlte nur, dass er in grosser heiliger Poesie untertauchte wie in einen tiefen kühlen See alles Leidvergessens.

Da knarrte die Türe. Er erwachte aus seinem Traum.

Sepp hatte sich wortlos entfernt.

Hermann wandte sich ins Zimmer zurück und schaute sich mit einem kurzen Blick um. Ein einfacher Tisch mit einer dunkelroten Spreite und einem gehäkelten weissen Deckchen, ein altmodisches Tintenfass darauf. Ein schwerer breiter Schrank mit bunter Blumenbemalung auf grauem Masergrund, eine Kommode in derselben Art mit einem Kruzifix zwischen zwei messingenen Kerzenleuchtern, ein breites, behagliches braunes Holzbett mit hochgeschichteten Federkissen, daneben ein kleiner weisser Waschtisch und ein paar Holzstühle, das war die ganze Zimmereinrichtung.

Über dem Bett hing ein holzgeschnittenes Kreuz, in der Wandecke neben der Türe stand auf einer Konsole die schwarze Altöttinger Mutter Gottes, und über der Kommode war mit zwei Nadeln an der Wand ein grosses Bild Hindenburgs befestigt. Aus einer illustrierten Zeitschrift war es geschnitten.

Hermann Stürmer betrachtete das alles vom ästhetisch-volkstümlichen Standpunkte aus, und deshalb gefiel es ihm. Auf die Dauer würde er sich schon heimisch fühlen in den wenigen Stunden, die er tagsüber, höchstens bei schlechtem Wetter, auf dem Zimmer zubringen wollte.

Er öffnete die drei Schubladen der Kommode. Die unterste war gefüllt; er schob sie wieder zu. Die beiden anderen waren leer. Er öffnete den Schrank. Die eine Hälfte war frei, die andere mit bunten Frauenkleidern behängt, denen ein starker Kampfergeruch entströmte. Nun schnallte und schloss er die Koffer auf und kramte seine Wäsche und Kleider und die anderen Reisegegenstände auf den Waschtisch, in den Schrank und in die Kommodeschubladen. Ein paar Bücher und die grosse Schreibmappe von schwarzem Leder warf er auf den Tisch. Dann wusch er sorgfältig die Hände, deren weisse Farbe nicht recht zu ihrem kräftigen Bau passte, und stellte sich wartend ans Fenster. Die Berge waren kaum mehr zu sehen, aber ein frischer, würziger Wassergeruch stieg labend vom See auf und umschmeichelte ihn wie ein stärkendes Bad.

Es klopfte. Sepp holte ihn zum Essen hinunter. Da der Herr Leutnant kein eingemieteter Gast war, so sollte er immer an den Mahlzeiten der Familie teilnehmen. Sepp fasste seine Hand und drückte sie, indem er ihm leuchtenden Blicks in die Augen schaute.

„Ich danke Ihnen noch einmal, Herr Leutnant, dass Sie gekommen sind. Eine solche Freud‘ werde ich in meinem Leben nicht mehr haben.“

„Du bist ein guter Kerl, Sepp. Jetzt lass mir aber das dumme ,Herr Leutnant‘ weg. Ich habe jetzt aufgehört Leutnant zu sein. Ich will alles vergessen, was mit mir als Leutnant etwas zu tun hatte. Ich bin jetzt wieder der Doktor Hermann Stürmer, simpler Ingenieur dort oben am Main.“

„Gut, Herr Leutnant — Herr Doktor —, wenn Sie’s so haben wollen. Ich tu Ihnen alles, was Ihnen Freud’ macht.“

Sie gingen die Treppe hinunter und traten ins Zimmer, das von einer Petroleumhängelampe erleuchtet war. Das Licht fiel hell auf den runden mit weissem Linnen und buntem Bauerngeschirr gedeckten Tisch und verlor sich in den Winkeln und Ecken, in denen allerlei gemütlicher Hausrat stand.

Hermann war einen Augenblick geblendet. Dann stockte sein Herz. Hell von dem Licht beschienen schaute ihn dicht neben dem Tisch ein bleiches Mädchengesicht aus grossen schwarzen Augen an. Herrgott! Das Mädchen von damals!

Es flimmerte ihm vor den Augen, die Stube begann sich im Wirbel zu drehen. Er fasste sich an die Stirn und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Da weckte ihn eine volle Altstimme aus seiner halben Ohnmacht:

„Grüss’ Gott, Herr Leutnant!“ Und eine weisse Hand streckte sich ihm entgegen.

Mechanisch tappte er einen Schritt voran und fasste die Fingerspitzen der Hand und beugte sich willenlos darüber und küsste sie. Er wagte nicht aufzuschauen, denn er fühlte, wie des Mädchens Blick auf seiner Stirn brannte.

Da trat die Mutter mit einer dampfenden Schüssel aus der nebenanliegenden Küche.

„Sehen Sie, Herr Leutnant, das ist unsere jüngste Tochter — die anderen sind glücklich verheiratet und haben alle frische, liebe Kinder; die gute Resei ist schon lange krank“— dabei strich sie ihr mit der Hand über den Scheitel. — „Sie hat schon ungefähr zehn Jahre Rheumatismus und muss immer liegen. Sie freut sich auch recht sehr, dass mit Ihnen einmal eine Abwechslung ins Haus kommt.“

Hermann Stürmer wäre am liebsten im Boden versunken. An eine Täuschung war nun nicht mehr zu denken. Aber jetzt galt es, sich zusammenzunehmen. Mit einem Blick streifte er die auf einem Liegestuhl hingestreckte Gestalt. Dasselbe Gesicht wie das Sepps und der Mutter, nur viel weicher und feiner, von einer unbeschreiblichen, durchgeistigten Anmut. Das ganze Gesicht war nur Auge, und das Auge nur Seele.

„Ja, Herr Doktor, wenn ich die Lumpen in die Fäuste bekäm! Resei bat einmal, als kein Mann hier herum zu finden war, Studenten über den See gerudert, und die haben sie . . .“

„Sei still, Sepp, du weisst, dass ich das nicht hören mag!“

„Ich muss dem Herrn Doktor doch sagen, was dir fehlt. — Und da ist sie ins Wasser gesprungen vor lauter heiliger Angst und nachher zwei Stunden in den nassen Kleidern am kalten Abend gelaufen und da hat sie’s weggekriegt und nun liegt sie schon bei zehn Jahren so da. Aber sie ist ein Engel, Herr Doktor.“

Resei hatte die Augen geschlossen. Hermann hörte Sepps Stimme nur wie aus weiter Ferne. Er liess sich auf einen Stuhl niederfallen und nahm seine ganze Kraft zusammen, um nicht laut aufzuschreien.

„Das ist recht, Herr Leutnant, dass Sie sich setzen,“ meinte die Mutter, „es ist schon Zeit zum Essen. Sie werden müde und hungrig sein von der langen Reise.“

„Ja, Frau Aibl, ich bin hungrig, und heute müssen Sie mir schon verzeihen, wenn ich bald zur Ruhe gehe.“ Hermann sagte das so dahin; er wusste selbst nicht, was er sprach.

Sepp holte aus einer Zimmerecke einen aus grauen Ästen und einem rohen aber weissgescheuerten Brett zusammengezimmerten Krankentisch hervor und stellte ihn über den Liegestuhl, Resei in handliche Nähe.

Man setzte sich zu Tisch und ass ziemlich schweigsam. Hermann meinte immer, etwas sagen zu müssen, um seine Beklommenheit zu verbergen. Aber das Mädchen schien ihn gar nicht wiedererkannt zu haben, sonst hätte es sich nicht so unbefangen geben können, oder — verfügte über eine ganz aussergewöhnliche Selbstbeherrschung.

Gegen Schluss des einfachen Mahles trug eine Dienstmagd die gefüllten Masskrüge herein. Jeder bekam einen Krug, nur Resei trank nicht.

„Herr Leutnant, ich bekomme kein Bier, da müssen Sie uns schon die Freude machen und uns erzählen, wie es eigentlich zugegangen ist, dass der Sepp Sie hierher eingeladen hat und dass wir Sie nun hier haben. Er sagt nur, es sei an einem harten Kampftag gewesen. Mehr will er aber nicht erzählen. Sie haben ihm sicher einmal das Leben gevettet.“

„Ich ihm? Fräulein, Sie wollen nur mit mir scherzen und mich noch mehr beschämen.“

„Ach, Resei, mach‘ doch keine solche Geschicht’ um die Sach’. Der Herr Leutnant will jetzt auch nimmer was vom Krieg hören und reden. Er hat eben gesagt, wir sollen nicht mehr ,Herr Leutnant‘, sondern ,Herr Doktor‘ sagen, der Krieg sei aus und jetzt müssten wir wieder fürs Vaterland und die Familie schaffen wie sich’s für den Frieden gehört.“

„Nein, Sepp, wenn du die grosse Sache nicht erzählt hast, so muss ich es schon tun. Das bin ich deiner Mutter und Schwester doch schuldig. Sonst hab’ ich ja gar kein Recht, hier zu sein.“ Der Doktor war herzlich froh ein Thema gefunden zu haben.

„Das ist nun nicht wahr, Herr Doktor, denn jeder, der uns den Feind von Haus und Hof gehalten hat, hat ein heiliges Recht auf unsere Dankbarkeit, und dazu ein Freund meines Sohnes ist mir immer herzlich willkommen.“

„Sie sind zu gütig, aber ich will die Geschichte erzählen. Sepp, und du sagst nichts!“

Sepp stand auf, öffnete das Fenster und stellte sich daran und schaute in die dunkle Nacht hinaus. Nach wenigen Minuten stapfte er hinaus, indem er etwas von Stall und Stier brummte.

Hermann rückte mit dem Stuhl aus dem Lichtkegel der Lampe fort, um aus dem Dämmerdunkel heraus zu sprechen: „Es war in den letzten harten Kämpfen. Die Franzosen hatten sich eingegraben. Unsere Artillerie gab Trommelfeuer. Gegen Abend war der Graben sturmreif. Das Feuer schwieg. Es war ein Augenblick der grössten Spannung. Wie Tiger sprangen wir auf den feindlichen Graben zu. Ich war meinem Zug voran, und Sepp dicht neben mir wie immer. Rechts und links fielen die Kameraden. Ich zog meinen Revolver. Wir standen am Grabenrand. Da fährt ein französischer Offizier mit einem Dolch auf mich los. Ich stutze. Wie ich losdrücke, fühle ich schon den Dolch des Franzosen; vielleicht wollte er mich von unten herauf aufschlitzen. Im selben Augenblick saust ein Spaten auf ihn nieder und spaltet seinen Schädel von oben bis unten. Das war Sepp. Ich sank zusammen, und über mir entspann sich in wenigen Sekunden ein Gemetzel, das die Wut, mit der Freund und Feind ihren Offizier rächen wollten, entfachte. Mir schwanden die Sinne. Aber die Ohnmacht muss nicht gar lange gedauert haben. Ich erwachte in Sepps Armen. Er trug mich, indem er seine feste Hand auf meinen Leib presste, langsam und vorsichtig in unsere Stellung zur Sanitätsstation. Ich musste sehr viel Blut verloren haben, denn ich fühlte mich todschwach, so dass ich kaum die Augen öffnen konnte. Aber der Spatenhieb Sepps hatte den Franzosen gerade noch im rechten Augenblick getroffen, so dass seinem Stich auf halber Bahn die Kraft entzogen wurde. Auf der Sanitätsstation wurde ich notdürftig verbunden und dann ins nächste ordentliche Feldlazarett gebracht. Von Sepp hörte und sah ich lange nichts. Viel reden oder gar schreiben ist ja seine Art nicht. Endlich nach langen Wochen, als unser Truppenteil in meiner Nähe vorbeikam, stand er an meinem Feldbett und schaute mir stumm in die Augen. Ich gab ihm die Hand, und ich konnte nicht anders, ich küsste sie. Da zog er sie mir weg und sagte in ruhigem aber festem Ton, der keinen Widersprüch duldete: ,Herr Leutnant, ich hab’ vom Herrn Oberstabsarzt gehört, dass durch die Wunde Ihre Nerven ganz zerrüttet sind und sonst weiss ich auch, dass es Herrn Leutnant nicht gut geht; der ganze Krieg und alles, was drum und dran hängt — alles das hat . . . nun, der Herr Leutnant wissen das selbst. Ich habe nun Ihr Leben gerettet — ich sage das nicht, um damit zu protzen —, aber ich habe Sie nun einmal gerettet mit Gottes Hilfe, und deshalb gehören Sie mir. Ich bin für Ihre Zukunft und Ihre völlige Gesundheit verantwortlich. Darum müssen Sie, wenn der Krieg aus ist und Sie reisen können, zu mir an den See kommen und bei mir so lange wohnen bis Sie wieder ganz gesund sind. Meine Mutter wird sich freuen; ich habe ihr schon geschrieben, dass Sie kommen.‘ — Was sollte ich machen? Ich fühlte, dass hier jeder Widerstand vergeblich war, denn Sepp gegenüber musste man immer ganz ehrlich sein, ob man wollte oder nicht. Er gab mir seine Hand, und ich schlug ein. Eine Träne rollte ihm die Wange hinunter und er sagte: ‚Herr Leutnant, ein Mann, ein Wort.‘ Damit ging er, und ich bin hier, wie Sie sehen.“

Mutter und Tochter schwiegen. Der guten Alten rannen die dicken Tränen die Wangen herunter. Sie stand hastig auf und räumte übergeschäftig den Tisch ab. Hermann Stürmer erhob sich und reichte der Mutter die Hand zum Gutenachtgruss.

„Mutter, ich danke Ihnen für den herrlichen Sohn.“

Dann beugte er sich zu Resei nieder und gab ihr die Hand ohne sie anzuschauen. Sie hielt seine Rechte einen Augenblick fest, raffte die Blumen auf ihrem Tisch zusammen und drückte sie ihm in die Hand.

„Nehmen Sie die Blumen mit auf Ihr Zimmer, Herr Doktor, sie sollen Ihnen morgen früh, wenn Sie erwachen den ersten Gruss von den Bergen sagen und vom lieben Gott, der sie so schön gemacht hat. Gute Nacht, Herr Doktor.“

Hermann verbeugte sich hilflos. In seiner Verwirrung traf sein Blick eine Sekunde das Auge des Mädchens. Es war tränenfeucht.

Was war es doch, das aus diesem Wort zu seiner Seele sprach, aus dieser Stimme und diesem Auge? Mit einem Ruck wandte er sich um. Hätte ihm draussen in der Welt eine Dame Blumen geschenkt, er hätte sie zum Kuss an die Lippen geführt. Aber hier das Blumengeschenk — das fühlte er —, durfte er nicht durch eine weltmännische Sitte entweihen.

An der Treppe traf er mit Sepp zusammen, der ihm mit einer Kerze hinaufleuchtete. Oben angekommen nahm er dem Burschen das Licht aus der Hand und setzte es auf den Tisch. Dann ging er, die Hände auf dem Rücken, ein paarmal auf und ab. Sepp wollte sich zurückziehen.

„Nein, Sepp, wir sind Männer, — bleib noch einen Augenblick hier. — Sepp, du weisst von der Geschichte mit deiner Schwester vor zehn Jahren.“

„Was soll das, Herr Doktor?“

„Was das soll? Du hast vor einer Stunde gesagt: ,Wenn ich die Kerle in die Fäuste kriege‘, das hast du gesagt. Sepp, hier steht einer dieser Buben vor dir. Ich war dabei.“

„Herr Doktor, so was habe ich mir schon eben gedacht. Sie wurden bleich als Sie Resei sahen. Und erst das Mädel!“

„Siehst du, Sepp, morgen muss ich wieder fort. Es wird dir wohl einleuchten, dass ich nicht länger bleiben kann. Ich muss fort, ohne weiter Abschied zu nehmen. Rudere mich, ehe der Tag anbricht, über den See, wenn du mich nicht jetzt, wo du alles weisst, einfach ins Wasser werfen willst.“

„Herr Doktor, seien wir keine kleinen Buben. Sehen Sie, Sie wissen, dass ich nicht viel Worte machen kann, aber wenn Sie gehen, machen Sie mich unglücklich und Resei erst recht. Das ist mein Wort. Mehr sag’ ich jetzt nicht. Gehen Sie schlafen und tun Sie, als sei nichts zwischen Ihnen und meiner Schwester geschehen. Das wird Ihnen schwer. Gut, dann sei es Ihre Busse für Ihren dummen Streich. Gute Nacht, Herr Doktor.“

Hermann stand allein im Zimmer. Wie damals im Lazarett, so fühlte er auch hier, dass gegen Sepp nichts zu machen sei. Er musste sich einfach fügen. Er löschte das Licht, legte den Rock ab und setzte sich ans offene Fenster. Die Hände legte er auf den Fensterrahmen und liess die Pulse von der kühlen Nachtbrise umwehen. Seine Nerven zerrten und rissen an seinem Gemüt. Er fühlte sich unendlich müde und zerschlagen. Mit weitgeöffneten Augen schaute er zu den Sternen empor, die im Himmelsduft flimmerten. Welcher von ihnen war sein Stern und welcher hatte ihn hierher geführt? Was wollte das Schicksal von ihm?“ —

Unten brachte Frau Aibl mit der Magd die Tochter zu Bett. Resei war heute ganz besonders fröhlich. Sie lächelte in einem fort.

Als die Mutter ihr das Weihwasser gegeben und sich aus der Kammer zurückgezogen hatte, betete sie ihr Abendgebet, einen einzigen grossen Satz, der ihr wie ein Magnifikat aus der Seele drang:

„Lieber Gott, ich danke dir, dass du ihn hierher geführt hast. Vollende jetzt dein Werk und lass mich für ihn leiden, soviel es dir gefällt. Mein Bruder rettete ihm das Leben; lass mich leiden, dass er recht lebe. Amen.“

Am heiligen See

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