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II.

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Hermann Stürmer hatte eine unruhige Nacht verbracht zwischen tollen Träumen und wildem Umherwälzen. Seine Nerven zuckten, die Schläfen brannten, in den Knien lag ihm eine schmerzende, bleierne Müdigkeit. Alle Glieder taten ihm weh. Ah, wenn er nur fünf Minuten in dem kühlen See liegen könnte!

Erst am Morgen, als die Sterne erbleichten, sank er in einen schweren, traumlosen Schlaf. Plötzlich erwachte er, wie von einer starken Faust gerüttelt. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Alles still. Niemand war da. Nur ein Hahnenschrei draussen und ein kurzes Muh eines Rindes. Aber die Sonne schien hell in das Zimmer. Ein heimeliger Glanz lag in der niederen Stube. Er liess sich wieder in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Die Lider taten ihm weh. Ein ziehender Schmerz ging ihm durch das Gehirn. Allmählich verschwand das Webgefühl, er lag in halbbewusstem Schlummer und lauschte auf seinen eigenen Herzschlag. O wenn er doch immer so liegen könnte, bis er zur alten Kraft sich wieder durchgeruht und durchgeschlafen hätte! Nur schlafen, schlafen und alles Vergangene vergessen, nur für die tatenfrohe Zukunft erwachen!

Die Sonne stieg weiter am Himmel empor und warf mit ihren Strahlen aus der Höhe ganze Flammenbündel ihres Widerscheines aus dem See an die Wände und die Decke von Hermanns Stube. Wie eine goldene Flut durchdrang das Licht seine Lider. Er wurde vollends wach. Mit kurzem Entschluss stand er auf.

Während des Ankleidens brach plötzlich eine heisse Scham über ihn herein. Konnte er jetzt noch Sepp unter die Augen treten? Und erst recht Resei? Gestern abend bei dem Gefühlsgewoge seiner Seele hatte er die Sache doch zu leicht genommen. Wie würde man ihn in diesem Hause ansehen? Der Gedanke wurde ihm zur Qual. Er fühlte sich beschämt wie ein kleiner Bube und verrichtete seine Hantierungen unwillkürlich immer langsamer, um Zeit und Aufschub bis zum ersten Zusammentreffen mit einem der Hausbewohner zu gewinnen. Endlich war er fertig. Er wollte die Treppe hinunter und gleich hinausstürmen, um sich erst im Freien die nötige Ruhe zu ergeben. Aber als er über die Türschwelle hinaustreten wollte, kam ihm Mutter Aibl entgegen.

„Grüss’ Gott, Herr Doktor! Wohin so schnell? Kommen Sie zum Frühstück, es ist schon neun Uhr.“ Damit öffnete sie die Stubentüre und schob ihn hinein. Hermann wusste nichts zu erwidern und gehorchte willenlos.

Resei lag am selben Platz wie gestern abend neben dem Tisch, der nur mehr für den Gast mit Tasse und Brot gedeckt war. Das Mädchen streckte ihm die Rechte entgegen und liess ein Strickzeug in den Schoss sinken. Ihre Augen strahlten noch heller als gestern. Als Hermann die Hand berührte, sah er, was er gestern in der ersten Verwirrung nicht bemerkt hatte, dass die Finger fein und dünn waren wie Kinderfingerchen und steif gekrümmt wie Taubenfüsschen. Das ganze Mädchen fast nur mehr Geist, der Körper war von den Leiden verzehrt.

„Es freut mich, Herr Doktor, dass Sie solang geschlafen haben. Schlaf ist das beste Heilmittel für die Nerven, sagt man; ich weiss ja nichts davon, weil ich nie etwas mit den Nerven zu tun hatte.“

„Aber dafür um so mehr mit Ihren Leiden . . . Fräulein, verzeihen Sie mir . . . ich war ein Teufel.“

Seine Stimme zitterte, er sank in die Knie und drückte die Hand des Mädchens an seine Lippen.

„Nicht, Herr Doktor, führen Sie nicht solche Reden. Sie tragen gar keine Schuld. Ich habe Ihnen viel, sehr viel zu danken. O wenn Sie das Glück kännten, das Sie mir gegeben haben!“ Sie hob seine Hand ein wenig und er stand auf. „Jetzt frühstücken Sie. Schauen Sie, da bringt Mutter den Kaffee und die Milch. Trinken Sie nur recht viel Milch, soviel wie Sie wollen. Sie gehören ja dem Sepp, und was dem gehört, gehört auch uns; da müssen Sie halt tun, was wir Ihnen befehlen. Und dann gehen Sie hinaus, den Weg hinter dem Häusl geradeaus zum kleinen See. Den haben Sie noch nicht gesehen. O, da ist es schön! Da legen Sie sich ins Gras unter einen Busch und schauen immer nur auf den Wasserfall, der ganz weit hoch aus den Bergen kommt und lauschen auf die Vögel und lassen die kleinen bunten Käfer über ihre Hände laufen und denken gar nichts, rein gar nichts, den ganzen Morgen. Dann kommen Sie zu Mittag heim und haben die schönsten Stunden verlebt, die Sie verleben können. Sepp ist heute früh schon über den See gefahren, er muss zu Einkäufen in die Stadt. Morgen wird er Sie wohl in die Berge führen, dass Sie da Weg und Steg kennenlernen. — Schauen Sie, da ist mir mein Knäuel gefallen, heben Sie es mir mal bitte eben auf. — So, vergelt’s Gott. Nun essen Sie aber auch tüchtig und trinken Sie die Milchkanne ganz leer. — Sind Sie schon fertig? Dann machen Sie geschwind, dass Sie auf den Weg kommen, sonst sind Sie nicht lange allein draussen. Denn bald kommt das erste Schiff mit Touristen und die verderben einem die halbe Freud’.“

So redete das Mädchen in seiner ruhigen Art ganz unbefangen über den Tisch hinweg. Es war gar keine Hast in ihrem Sprechen und alles klang so natürlich. Hermann war erstaunt über die Feinheit dieses Menschenkindes, das ihm durch sein bewusst zwangloses Geplauder über die schwersten Augenblicke seines Lebens hinweghalf. Er stand auf und empfahl sich mit einer Verbeugung, in der zum erstenmal in seinem Leben innere Überzeugung lag.

Sepp und Resei und die Mutter waren die ersten ganzen Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war. Und der Sepp, der ihm im Felde als sein Bursche oft ein Rätsel war, passte ganz und gar zu den beiden Frauen und zu den Bergen mit dem See. Er war nur aus dieser Umgebung heraus zu verstehen. Dass er solange durchs Leben hatte wandern müssen, bis er einmal Menschen fand, denen man als Mensch gegenübertreten konnte! —

Wie er sich immer mehr in seine Gedanken verlor, wurde sein Schritt schneller und rüstiger. Er reckte seine hohe überschlanke Gestalt empor. Er wollte sich nach Reseis Anweisung richten. Es war ihm, als löse sich allmählich sein Gewand; aber das neue, das aus dem Himmelsduft und den Bergeslüften herab wie blaue Schleier sich um ihn legen wollte, schmiegte sich noch nicht seiner Seele an. Es war ein zuckendes Hin und Her, ein Weben und Knistern und Wirren in seinem Gehirn.

Da hob sich der Weg ein wenig über Felsgeröll hinweg. Ein weitästiger Ahorn stand da, etwas vornübergebeugt und träumte vor sich hin, ganz verschaut in etwas, das vor ihm im Blumenhag liegen musste. Hermann ging die Büsche entlang, die ihm zur Linken die Aussicht wehrten, auf den Schatten zu — und stand vor einem Märchenwunder.

Es war ihm, als lege sich ihm eine unsichtbare Hand auf seine Brust und ein Elfenfinger an die Lippen, dass er stehen und nicht den leisesten Laut von sich geben sollte, um das tiefste Geheimnis der Berge, das dort schlief, nicht zu wecken.

Ein Silberspiegel lag vor ihm, so glatt und eben, wie er nur von den feinsten Händen zarter Berggeister geschaffen werden kann. Ein See, so gross und so klein, dass er gerade eben ein See genannt werden konnte. Ein Wasser so tiefdunkel, so schwarz und doch so hell und licht, dass das in der Seele aufsteigende Grauen sich im selben Augenblick in den Jubelruf himmlischer Lust verwandelte.

Wie weisse, grüne und blaue Strahlen ging es vom See aus, in dem sich die schräg abfallenden Felsen, die Waldbüsche und des Himmels Blau widerspiegelten. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo das Wasser aufhörte und der Fels begann. Endlich fand sein Auge in dem kristallenen Flimmern und Flirren einen Ruhepunkt.

Aus der grauen, von weissen Firnen gekrönten Felswand fern jenseits des Sees stürzte ein Wasser fall wie ein sich schlängelndes Silberband in den Tannenforst hinab. Vor den Tannen breitete sich ein lichtgrüner Almenteppich bis zum See, und auf der grünen Matte stand ein Sennerhäuschen, als wolle es die Stille und Einsamkeit noch besonders betonen. Um den See zog sich, soweit die schroff ins Wasser abfallenden Felsen es gestatteten, ein schmaler Fusspfad, bald dicht am Ufer sichtbar, bald in Gebüsch und Geröll sich verlierend. Unter dem Ahorn, an seinen Stamm gelehnt, stand, eine Bank, im Wasser träumte zwischen Ried und Schilf ein halbzerfallener ruderloser Kahn.

Hermann wusste nicht wie ihm war. Eine geheimnisvolle Macht zwang ihn, den Hut abzunehmen. Er stieg die wenigen Schritte zum Wasser hinunter und setzte sich in das Boot. Beim Einsteigen schaukelte die Zille ein wenig, und ein Wellenkranz legte sich in weiten, immer weiteren Kreisen um sie herum. Es war, als müsste beim leisen Plätschern und Glucksen der seidenen Wellen irgend eine schilfbekränzte Gestalt mit grossen Wunderaugen aus der Tiefe steigen. Hermann sah den Wellen nach, die das Sonnenlicht in sich aufsogen und es als glitzerndes Perlenspiel wieder zurückgaben. Langsam fielen ihm die Augen zu. Die Müdigkeit übermannte ihn. Aber eine selige Müdigkeit. Kein Laut nah und fern, und doch ein tausendstimmiges Knistern und Flüstern und Weben und ein langsames, tiefes Atemholen. — —

Und wie er sass und träumte, sah er in der Luft Strahlensterne blitzen, und ein tausendfacher krachender Hall donnerte aus den Bergen. Ein Geschrei erhob sich, ein Geheul und Röcheln. Er zuckte zusammen und schloss die Augen noch fester.

Da stand er im Schützengraben am Scherenfernrohr mit zwei anderen Offizieren, frischen, feinen jungen Menschen. Der Hauptmann, sein Freund, den er anbetend verehrte, Egon Weissenfels, lachte und scherzte in seiner unbezwinglichen Art. Er, Hermann Stürmer, ging zu seiner Kompagnie zurück. Nach ein paar Minuten schlug eine Granate ein, und Sanitäter trugen die beiden Kameraden und seinen Egon, zerfetzte Fleischklumpen, an ihm vorüber. Wäre er nur einen Augenblick später vom Beobachtungsposten weggetreten, so hätte man ihn geradeso fortgetragen. Warum hatte es ihn nicht auch weggerissen?

Er vergrub das Gesicht in die Hände. Dicke Tränen stürzten ihm aus den Augen. Ein wahnsinniger Schmerz, der ganze Jammer des Erlebten, riss an seinen Nerven. Er hob das Gesicht aus den Händen und stierte mit weit geöffneten Augen ins Leere.

Nacht war um ihn. Die Nacht eines Höhlenunterstandes. Neben ihm röchelte ein Landsturmmann in den letzten Zügen, ein Feldgeistlicher kniete neben ihm und sprach ihm Gebete ins Ohr. Und durch die dünne Bretterwand kreischte aus der Nachbarhöhle ein Grammophon: „In der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht . . .“ Viel Schreckliches hatte er im Kriege gesehen und gehört, aber die beiden Erlebnisse waren ihm in der Erinnerung die furchtbarsten geblieben. Damals war sein Auge und Ohr und ein wenig seine Nerven dabei gewesen, jetzt zitterte der ganze innere Mensch. — Und jetzt hier Resei!

Er sprang auf und lief blindlings ins Gebüsch und Felsgeröll hinein, als wollte er vor sich selber fliehen. Da stiess er an einen hochragenden, moosbewachsenen Block. Ohne zu wissen, wie, blieb er stehen und lehnte seine Stirne an den kühlen Stein. Er fühlte seine Pulse hämmern wie das Ticken eines Motors und legte seine Hände auf den Felsen wie auf die Schulter eines Vertrauten starken Freundes.

Und wieder stand Egon im Geiste vor ihm, und er wollte seine Hand fassen. Aber der lag ja in Frankreich begraben.

In Überwallung des Gefühls umarmte er den Felsen und wollte ihn küssen.

Da blitzte es in seiner Seele auf wie ein blendendes Licht. Erschreckt trat er von dem Trumm zurück und stierte in die Gräser und Blumen.

Sollten diese Berge und der See und die Sonne und Egon und er eins sein, und all die Menschen, die sich da gegenüberstanden auf Mord und Tod?

Wenn die wunderbare Bergwelt und er eins waren, wie konnte sie dann im tiefsten Frieden und er so ganz freudlos sein? Und wenn sie mit ihm eins war, wie konnte sie ihn dann trösten, seine Seelenqualen stillen, seine Tränen trocknen? Sie war ja ebenso gequält und ratlos wie er! Also nirgendwo Ruhe, nirgendwo Glück! Wahnsinn! Und doch ein so wunderschöner Wahnsinn! Er kannte sich nicht mehr aus.

Er kannte sich selbst nicht mehr. O, in die Berge rennen und sich von einem Felsen in die Tiefe stürzen und ruhen, schlafen, schlafen nach all dem Irrsinn des Lebens!

Und doch!

Noch immer flammte das Licht in seiner Seele wie der Feuerschein eines gewaltigen Brandes am nächtlichen Himmel.

Und wenn er zerschmettert irgendwo in den Schluchten läge und die Geier auf seinen Körper niederstiessen, hätte er dann Ruhe? Wäre das Glück?

Und es schreit doch mit Millionen Zungen in ihm nach Glück . . .

„Glück will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Wer sagt doch so? Er hatte es einmal irgendwo gelesen. Der Klang der Worte ist der Nietzsches. Und er hat recht . . .

„O Kinderglaube komm doch wieder!“ . . .

Zitternd sank er in die Blumen auf die Knie und lehnte den Scheitel wieder an den Felsen. Da war es ihm, als lege sich eine weiche zarte Hand auf sein Haupt und ein feines bleiches Gesicht schaute ihn aus grossen schwarzen Augen an, lächelnd und voll unendlicher, sieghafter Güte. Und diese Seele war mehr, als die seine. Woher hatte dies Menschenkind so viel Grösse? — Und das Licht blitzte grell auf in seiner Seele. Denn sie hatte mehr aus ihrer Einfalt.

Da kam plötzlich ein Trotz über ihn. Seine Augen wurden kalt und trocken. Er sprang auf und rannte stolpernd den Weg zum See zurück.

„Von wem lasse ich mich hier übertölpeln. Blödsinnige Nerven!“

Aber das Licht flackerte weiter in seiner Seele und seine Seele rang nach Höherem, das fühlte er.

„Tu der Mensch seine Pflicht und gebe sich nicht mit Sentimentalitäten ab. Pflicht ist Arbeit eines jeden Menschen an seinem Platz. Was nachher kommt, ist alles Phantasterei. Nachher ist doch alles aus.“

Und das Licht flackerte weiter in seiner Seele, es wurde unruhiger und schoss funkelnde Flammengarben. Und immer wieder fragte er: „Woher hat diese Einfalt solche Höhe?“

Da stand er wieder unter dem Ahorn am Seeufer und warf einen stolzen Blick über das im Sonnengold strahlende Rundbild.

„Schade, dass man den Wasserfall nicht technisch ausnutzen kann! Ich müsste die Sache einmal studieren, vielleicht liesse sich doch hinten im Tal ein kleines Elektrizitätswerk für die Umgegend errichten. Wieviel Pferdekräfte wird der Fall hergeben? . . . Und wenn ich ihn zwinge, dann ist er doch nicht eins mit mir. Und wenn ich alle Naturkräfte in die Faust und unter die Räder bekomme, dann herrsche ich über sie, dann sind sie doch nicht Ich!“

Da fielen dicke Schleier von seiner Seele. Er sah die Bergwelt vor sich stehen in ihrer ganzen Erhabenheit. Wie die Orchestermassen des gewaltigen Schlusschors eines Oratoriums, das in ein Lob des Allerhöchsten sich aussingt, klangen die grauen und schwarzen Felsen ringsum, und wie das Jubeljauchzen der Sänger stiegen die weissen Firnen daraus zum Firmament empor. Vor der einfachen und darum so grossartigen Sprache der Bergnatur, vor den lapidaren Zügen, mit denen Gottes Hand seinen Namen für jeden denkenden Menschen vor ihn hingeschrieben hatte, brach das verkrüppelte Gedankengebäude rasch zusammen, das er sich, fern von sich selbst und fern von der eigentlichen Natur, in einem Scheinleben, zurechtgezimmert hatte. Er sah sich wieder als Knabe und Jüngling auf dem Gymnasium, als der er im Religionsunterricht zum ersten Male in heller Freude die Frage nach dem Schöpfer der Wunder der Welt gelöst und sie mit Paulus im Römerbrief beantwortet hatte.

Wie ihn das so plötzlich überkam, wusste er nicht, er war auch unfähig, die wirren Gedankengänge zurücksinnend aufzurollen. Er sah nur jenseits des Wustes die Wahrheit stehen, wie ihm jenseits des Wundersees die ewigen Firnen winkten.

Die Stunden, die er hier geweilt hatte, kamen ihm vor wie ein Gang in eine andere Welt, an deren Pforten er einen Riesen traf von überirdischer Majestät und Kraft. Ein kurzes Staunen, ein Anprall, ein ohnmächtiges Sichbäumen und ein beglückendes Besiegtsein. Seine Augen waren geöffnet, und das Licht der Wahrheit flutete hinein.

Er fühlte eine Hand nach seiner Rechten greifen, und ein schwarzes tiefes Augenpaar schaute ihn irgendwoher aus dem See beseligt an.

Mitten aus dem Wasserspiegel flammte eine Feuerlohe, das Bild der Sonne, die in Mittagshöhe stand. Er erschrak und sprang über das Geröll, das den Weg einfasste, und lief durch Busch und Anger auf sein Haus zu. Er hielt es nicht mehr aus, er musste sein Glück, den Gott seiner Jugend wiedergefunden zu haben, das er nicht in Worte fassen konnte, einem Menschen wenigstens hinstammeln. Wer der Mensch war, — ach es konnte nur einer sein, das Mädchen, nein der Mensch, die wunderbare Seele, die in der kranken Hülle der Resei wohnte!

Die Seele? Gibt es denn eine Seele? Und wenn nicht, was bezwingt denn in dem einfachen Mädchen, den schwachen, von Schmerzen verzerrten Leib, dass er immer lächelt?

Hastig wie sein Schritt und, hier und da vor einem Stein, einem Wurzelgewirre stockend, ging das Räderwerk seiner Gedanken. Ein Wühlen und Knirschen war in ihm.

Da stand er vor Resei. Sie lag auf ihrem Stuhl vor dem Hause in der Mittagssonne. So schnell wie sie es mit ihren verkrümmten Fingern vermochte, raffte sie in der Hand eine braune Perlenkette zusammen und barg sie unter der Schürze. Ein heiliger Ernst lag auf ihren Zügen, als wandle ihre Seele noch in einer anderen Welt. Dann aber leuchtete ihr Auge, und ihr Mund lächelte. An der Brust trug sie einen kleinen Blumenstrauss, ein bunter Falter sass auf ihrer Schulter und wippte mit den Flügeln. Hermann stand einen Augenblick in stummem Staunen da. Dann fasste er sich:

„O Fräulein, da hinten am kleinen See ist es wunderbar. Da versinkt man ganz in der göttlichen Majestät der Natur.“

Reseis Auge überflog ein Schatten.

„Die Berge und Seen und Blumen und Sterne sind. Geschöpfe des lieben Gottes wie wir.“

Das sagte sie so einfach und natürlich, so mit selbstverständlicher Überzeugung aus der Seele heraus, dass Hermann sich schämte.

„Nein, Fräulein, so habe ich es nicht gemeint.“ Sein Auge wurde feucht und plötzlich zitterte seine Stimme: „Ich habe den lieben Gott erkannt; den Sie meinen. Und das verdanke ich Ihnen, das weiss ich ganz bestimmt. Sie standen neben mir und legten Ihre Hand auf meinen Scheitel.“

Da bohrte sich ihm ein Dolch ins Herz. Mit ganz veränderter, aber ganz von Liebe durchtränkter Stimme sagte das Mädchen:

„Ja, ich habe für Sie gebetet, und wenn man für einen Menschen betet, dann leuchtet ihm die Gnade in der Seele auf.“

Das war der Flammenschein gewesen, der unablässig in seiner Seele geflackert hatte. Irgend etwas würgte in seiner Kehle, und stotternd sagte er, indem er Reseis Hand mit seinen Fingerspitzen berührte:

„Fräulein; ich danke Ihnen.“

„Danken Sie nicht mir, danken Sie dem lieben Gott. Jetzt wo er wieder vor Ihnen steht, beten Sie zu ihm. Sie sind jetzt begeistert und ganz von Gefühlen durchschauert. Aber wie lange? Beten Sie!“

Hermann hatte sich neben Resei auf die Türschwelle gesetzt, während sie halbsinnend ruhig vor sich hinsprach. Er hielt die Stirne in die Rechte gestützt. Die Linke drehte spielend den weichen Panamahut.

Resei schwieg, aber er glaubte im Sinnen, sie spräche weiter. Ihre ganze Erscheinung war wie stillfliessender, sanft zur Seele redender Quell.

„Fräulein, geben Sie mir bitte das Buch, in dem Sie das gelesen haben, was Sie eben sagten,“ sprach er plötzlich unvermittelt.

„Ja, ich habe manches im Laufe der Jahre gelesen. Ich habe einen Oheim, der Kapuzinerpater ist, der hat mir hier und da ein schönes Buch geschenkt. Aber die Bücher, in denen Sie am besten lesen, die haben Sie immer nah. Es sind die einsamen Berge mit dem stillen See und Ihre eigene Seele in dem nervenkranken Leib.“

„Kann man denn in seiner eigenen Seele lesen?“

„Ja, man kann in ihr lesen und auf ihre Sprache lauschen. Aber wie wenige Menschen tun das? Es gehört sich manchmal etwas Mut dazu. Wenn ich so die Menschen sehe, die an unseren See kommen, — selten kommt einmal einer allein. Immer sind sie in Gesellschaft, sie unterhalten sich über die dümmsten Dinge, oft sogar sprechen sie hier noch von ihren Geschäften. Wagt sich einmal einer allein heraus, so liest er noch auf dem Schiff in einem Buch und setzt sich drüben auf eine Bank und liest. Viele Herren haben kein rechtes Vergnügen, wenn sie keine Dame bei sich haben. All die Menschen haben eine schreckliche Angst, auch nur ein paar Minuten allein zu sein, sie fürchten sich vor ihren eigenen Gedanken, vor ihrer Seele und ihrer ehrlichen Sprache. Sie haben ihr Herz wund und müde gepeitscht in Arbeit und Vergnügen und nun gönnen sie ihm nicht einmal hier ein wenig Ruhe, dem armen, zuckenden, schreienden Herzen.“

„Sie haben recht, Fräulein, sie kennen die Welt und das Menschenleben wunderbar gut. So ist es auch mir ergangen, genau so. Und heute morgen hatte ich eine schreckliche Angst, sogar einen Trotz gegen meine eigenen Gedanken.“

„Das wird Ihnen noch oft so gehen. Ich habe das auch in mir erlebt.“

„Sie in sich? Sie leben ja hier im Himmel! Was wissen Sie von unseren Kämpfen draussen und unserem Ringen? Mein einziger Trost war bis jetzt Goethes Wort: ,Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‘ Ich habe immer ehrlich gestrebt, das ist meine Rettung und ist mein Stolz.“

„Sie sagten doch noch eben, dass ich das Leben und die Menschen wunderbar kenne, und nun streiten Sie es mir wieder halb ab. — Sie meinen, mein Leben habe sich so glatt abgewickelt! Ich habe mich auch nach Lebensfreude und Glück gesehnt. Das äussere war mir versagt, da musste ich mir das innere erkämpfen . . .“

„Das Ihnen aber jetzt auch zum äusseren geworden ist.“

„Ja, auch ich habe meine Gedanken gehabt, mit denen ich förmlich ringen musste, aber sie sind mir nie wichtig vorgekommen.“

„Es ist wunderbar, wie fein Sie sich in unsere Seelen einfühlen können und das Richtige ahnen. Es ist wahr, wir Gebildete gefallen uns zuviel in unseren wälzenden Gedanken, wir empfinden eine Lust der Selbstquälerei und halten an unseren Gedanken hartnäckig fest, wenn wir auch sehen, dass sie uns in einen Irrgarten führen.“

„Folgen Sie nur einmal dieser Gedanken, die Ihnen in diesen Tagen ganz natürlich kommen. Lassen Sie alle Erinnerung an früher und draussen gar nicht über die Schwelle Ihrer Seele treten. Und Sie werden erlöst sein.“

„Wovon?“

„Von sich selbst, von all den äusseren Dingen: der Arbeit, dem Vergnügen, der Lektüre, von allem, was Sie Ihre Bedürfnisse nennen und was Sie für Ihre Seele halten.“

„Zeigen Sie mir den Weg zu dieser Freiheit!“

„Das kann ich nicht, ich bin nur ein armes Weib; das kann nur die Gnade Gottes, und die müssen Sie sich erbeten.“

„Erbeten? Ich habe jahrelang nicht mehr gebetet. Ich weiss nicht, wie ich beten soll.“

„Und doch wissen Sie es. Sie haben heute morgen am oberen See schon stundenlang gebetet. Sie erkennen nun Gott über den Bergen. Wie gross ist er, der all die Schönheit vor uns ausbreitet, wie lieb ist er, der uns kleine Menschen zu sich heranzieht.“

„Reden Sie bitte nicht von der Liebe Gottes. Sie haben den Krieg nicht mitgemacht und all das Elend nicht gesehen. Nein, Gott ist grausam mit uns kleinen Menschen, er hat seine Lust an unserer Qual.“

„Ja, das wäre so, wenn unser Leib der ganze Mensch wäre. Aber unser eigentliches Selbst ist unsere Seele. Und dieser Seele wollte Gott durch den Krieg gut. Denken Sie an sich selbst. Sie werden den Krieg und die Führung Gottes durch den Krieg noch einmal preisen. Gott ist gut mit Ihnen. Grübeln Sie jetzt nicht mehr, sondern denken Sie ruhig. Die Berge und die Einsamkeit werden zu Ihnen reden. Ich habe auch für mich denken müssen, und die Berge und die Einsamkeit redeten auch zu mir.“

Hermann hob den Kopf und schaute mit sinnendem Auge auf den See und die Berge. Resei sah, wie er sann, und schwieg. Eine Biene umschwirrte die Blumen auf ihrer Brust. Sie verfolgte mit den Augen ihren Zickzackflug und lächelte zufrieden, als das Tierchen sich in einen Blumenkelch verkroch, um seine süsse Labe zu suchen.

Hermann sah sich am Eingang eines weiten Tempels sitzen. Der See waren die blauen Fliessen, die Berge die Säulen und Altäre, über denen weisse Wolken wie Weihrauchschwaden hingen. In der Ferne, wo die Landschaft sich schloss, rundete sich in weitem Bogen das Chor mit geheimnisvoll lauschigem Kapellenkranz. Aber das Chor war noch leer, es stand kein Altar darin, und keine Ewige Lampe lockte mit ihrem traulichen Schein. Es fehlte ihm noch etwas an dem Tempel, sein weites Rund umschloss noch keinen Zentralgedanken; das tat seinem künstlerischen Gefühl weh. Er erwachte aus seinem Traum.

„Fräulein, ich habe Sie eben durch meine Unaufmerksamkeit unterbrochen. Sie wollten mir sagen, wie ich beten soll.“

„Im Gebet erheben wir uns zu Gott, gehen schliesslich mit allen unseren Gedanken in ihm auf, leben und freuen uns in ihm. Er ist uns, unserer Seele so nah wie unser Leib uns nicht näher ist. Wenn es rings ganz still ist, können Sie ihn fühlen im Schlag Ihres Herzens und im Singen Ihres Blutes. Denken Sie daran — es ist keine Phantasie, reine und echte Wirklichkeit —, dann fühlen Sie sich glücklich, dann kann kein Leid Sie beunruhigen, kein äusseres Vergnügen Sie von Gott wegreissen. Alles was von aussen, auch von Ihren Nerven, an Ihre Seele herantritt, prasselt an Ihnen herunter wie ein Platzregen an Ihrem Mantel. Sie sind ein Nichts und doch das Grösste was es auf Erden gibt, wenn Sie denken, dass Gott Ihnen so nahe ist. Schliessen Sie die Augen und sagen Sie sich immer die Worte vor: Gott und ich und ich und Gott! Mein Gott, gib mir die Gnade, dass ich dich und mich immer mehr erkenne. — So betend stehen Sie morgens auf, wandern in die Berge und legen sich abends zur Ruhe.“

Drinnen ging eine Türe. Die Mutter trat heraus. „Darf ich stören? Herr Doktor sind sicher müde und hungrig. Das Essen ist bereit. — Ich will eben die Marie rufen, dass wir dich hineintragen.“

„Nein, Frau Aibl, lassen Sie das Mädchen wo es ist. Es ist mir eine Ehre, das Fräulein mit Ihnen hineinzutragen.“

Hermann war aufgesprungen und fasste den Liegestuhl am Kopfende. Die Mutter in ihrer natürlichen Art machte weiter keine Höflichkeitseinwände.

So trugen sie das Mädchen die Stufen der Haustüre hinauf und ins Zimmer hinein. Vor Hermanns Seele stand das Bild aus ,Parsifal‘, wo die Edelknappen den Gralskönig Amfortas zum heiligen See tragen. Er trug hier die Königin seines Montsalvat, die den heiligen Gral in seiner Seele wieder zum Glühen bringen sollte.

Am heiligen See

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