Читать книгу Operation Führerhauptquartier - Will Berthold - Страница 5
Anlauf
ОглавлениеNiemand weiß, ob der Führer überhaupt kommen wird, aber Stunden vor Beginn der Traditionsveranstaltung im Münchner Bürgerbräukeller verschärfen die Sicherheitsorgane ihre Kontrollen so extrem, als wäre die erste Garnitur des Dritten Reiches von Feinden der Bewegung und ausländischen Agenten durchsetzt.
Dabei ist der große Unbekannte längst im Saal. Ohne Ausweis und Einladung durchbrach er »ungefilzt« als erster sämtliche Sperrkreise. Unsichtbar und unhörbar nahm er den besten Platz im Saal, in unmittelbarer Nähe des Führers und seiner engsten Gefolgsleute. Der Illegale ist der Tod.
Er nistet in der ausgehöhlten Säule direkt neben dem Rednerpult, als Höllenmaschine, von zwei einander kontrollierenden Uhrwerken gesteuert, bestehend aus zehn Kilo Dynamit, genug, um den Pfeiler zu zerschmettern, die Galerie herunterzureißen, den Mann am Rednerpult zu erschlagen und seine in der Nähe sitzenden Paladine auf die letzte Reise mitzunehmen.
Die Zündung ist so geschaltet, daß der Höhepunkt der Rede und das Ableben des Führers zusammenfallen werden. Vor 20 Stunden wurde die Zeitbombe scharf gemacht, eine geniale Eigenkonstruktion, die garantiert fehlerfrei arbeiten wird. Seit nunmehr 14 Stunden tickt die Zünduhr.
Adolf Hitler kann diesem siebenundzwanzigsten, mit Abstand gefährlichsten Anschlag auf sein Leben nur entgehen, wenn er der Traditionsveranstaltung fernbleibt, und tatsächlich hat er zunächst seinen Stellvertreter beauftragt, die Gedenkrede zu halten. Alle Jahre wieder läßt der Führer von seinen alten Kämpfern den Marsch auf die Feldherrnhalle nachvollziehen, der vor 16 Jahren unter den MG-Salven der Bayerischen Landespolizei als blutige ›Spring-in-Deckung-Prozession‹ gescheitert war.
Aber in diesem Jahr – der Zweite Weltkrieg ist im dritten Monat – drohen ihn dringende Regierungsgeschäfte in Berlin festzuhalten.
Tatsächlich muß Hitler wichtige Entscheidungen treffen: Soeben haben Holland und Belgien sich als Friedens-Vermittler angeboten. So einfach kann der braune Diktator die Offerte ehrlicher Makler nicht abtun, denn die diesmal mangelnde Kriegsbegeisterung der Deutschen zwingt ihn, sich in der Öffentlichkeit als Friedensfreund darzustellen.
In wenigen Tagen, am 14. November, soll der Blitzkrieg im Westen beginnen, die Offensive gegen Frankreich unter Bruch der niederländischen und belgischen Neutralität. Hitler verschiebt den Angriffsbefehl auf das Frühjahr 1940, weniger aus völkerrechtlichen als aus meteorologischen Gründen.
Das dritte dringende Regierungsgeschäft ist die zur Zeit geheimste Kommandosache Großdeutschlands: SS-Agenten des Reichssicherheitshauptamts (rsha) haben, als deutsche Widerstandskämpfer getarnt, zwei leitende Offiziere des Secret-Intelligence-Service (SIS) in einen mörderischen Hinterhalt gelockt. Nunmehr muß Hitler persönlich entscheiden, ob der Schlag bis in das Londoner Hauptquartier des britischen Geheimdienstes vorangetrieben werden oder ob Major R. H. Stevens und Captain S. Payne Best – sie steuern von den Niederlanden aus das englische Agentennetz in Deutschland – auf neutralem Boden in die Falle gelockt und über die Reichsgrenze verschleppt werden sollen.
Am Nachmittag fliegt er in einem für ihn typischen Spontan-Entschluß von Berlin aus in die »Hauptstadt der Bewegung«, um hier doch seinen Kampfzeitkult zu zelebrieren.
18 Uhr. Der große Festsaal ist mit 3000 altgedienten Hoheitsträgern überfüllt. Zusammengepfercht werden sie in der Siedehitze auf Tuchfühlung gepreßt, braununiformiert, rotgesichtig, Elite, die aus der Hefe kam, von Hitler durch Nacht zum Trog geführt.
20.03 Uhr. Das stürmische Sieg-Heil-Geschrei der Straße kündigt, den Saal erreichend, Hitlers Eintreffen an. Die alten Gefolgsleute springen auf Stühle und Tische. Der Begeisterungssturm wird zum Orkan. Unter dem frenetischen Jubel droht der Bierkeller zu bersten. Rasende Ovationen reißen die Schulter-an-Schulter-Deckung der Leibgardisten auseinander wie Granateinschläge.
Das NS-Ritual beginnt. Perfekte Massenregie: Die Blut-Fahne wird hereingetragen. Der ›Badenweiler Marsch‹ ertönt. Sein dumpfer Rhythmus setzt sich nur mühsam gegen den Lärm durch. Bevor der Führer spricht, begrüßt er per Handschlag einige Privilegierte, unter ihnen Heinrich Himmler, Dr. Josef Goebbels und Julius Streicher. Umbrandet von Heilgeschrei und Hysterie tritt der fulminante Demagoge an die Rednertribüne. Mit grollender Stimme setzt er seinen Kampf fort. Immer wieder fallen ihm seine Anhänger ins heisere Wort, dem Mann, der alles heimgeholt hat ins Reich, zuerst seine österreichische Heimat, dann den Sudetengau, das Memelgebiet, den polnischen Korridor, Danzig und zuletzt den Heldentod.
Hitlers Rede beginnt fünf Minuten früher als angekündigt. Irgendwie ist er heute nicht ganz in Form. Seine Diktion wirkt gehetzt; er kürzt die sonst sorgfältig eingeplanten Pausen für die ekstatischen Entladungen seiner Zuhörer. Es ist, als liefe er unbewußt mit einer Zündschnur um die Wette, die exakt und unaufhaltsam der Explosion entgegenglimmt, pünktlich und tödlich.
Über dreißig Nächte hatte sich der Attentäter in den Saal des Bürgerbräukellers geschlichen, hatte hier zu Abend gegessen, mit den Kellnerinnen gescherzt, gewartet, bis die Lichter ausgegangen waren, und hatte dann jeweils bis um drei Uhr morgens an der Säule gearbeitet, um sich dann zum Schlafen niederzulegen. Das herausgekratzte Mauerwerk war von ihm in einem Sack gesammelt, dann in einen Pappkarton umgeleert und in einem Köfferchen weggeschafft worden, wenn er jeweils gegen Mittag des nächsten Tages unbeobachtet den Schauplatz seines Anschlags verließ. Am 5. November hatte er festgestellt, daß sein Werk einwandfrei arbeitete. Es fand gerade eine Tanzveranstaltung statt, und der Unbekannte, der noch einmal sechs Stunden an seine Zeitbombe letzten Schliff legte, mußte eine Eintrittskarte für den Todesreigen erstehen, wohlfeil – eine Reichsmark für den Tyrannenmord.
Die Rede tönt aus Hunderttausenden von Lautsprechern, gebannt folgen ihr Millionen Volksgenossen, vielleicht dreißig oder vierzig oder noch mehr. Man hört Hitler auch in London und in Paris, in Washington wie in Moskau, verfolgt seine beispiellose Fähigkeit, Banalitäten, Wiederholungen, Halbwahrheiten, Binsenweisheiten und Propagandalügen in einen orgiastischen Massenrausch umzusetzen. Nicht selten erliegen ihm selbst Besonnene – aber es gibt auch Zuhörer, die bereits in einer Zeit, in der Auschwitz, Maidanek und Treblinka noch weithin unbekannte Ortsnamen sind, nüchtern bleiben.
Fraglos gehört der kleine, schmächtige Mann mit Rucksack, der sich in dieser Minute, verstohlen nach allen Seiten sichernd, in Konstanz der durch die Stadt verlaufenden Schweizer Grenze nähert, zu ihnen. Die verdunkelten Straßen sind leergefegt, aus den Wohnungen und Wirtshäusern plärrt die Stimme des Unmenschen; sie hört sich an, als poltere eine Geröll-Lawine über eine Felswand.
Der unauffällige Grenzgänger mit der hohen Stirn und den blauen Augen weiß, daß er in diesem Moment die gefährlichste und schwächste Stelle seines Anschlags durchstehen muß; er hofft, daß die deutschen Grenzbeamten sich im Gemeinschaftsempfang von dem Verführer vernebeln lassen und daß ihn die Grenzer auf der schweizerischen Seite übersehen, so daß der eidgenössische Fremdenkommissar, Hitlers Liebediener, nicht mehr berechtigt ist, ihn postwendend an seine Mörder auszuliefern.
Er steht am Zaun. Ein letzter Blick. Hitlers Stimme gibt ihm das Geleit; sie kommt jetzt halblaut aus einem Volksempfänger, den zwei Grenzbeamte auf Wache mitgenommen haben. Die Uniformierten haben den Führer im Ohr und das Niemandsland im Auge.
Sie sehen im letzten Moment den Grenzgänger, der am Zaun hochklettert, schleichen sich an ihn heran, Waffe im Anschlag. »Herunter!« ruft einer. »Hände hoch, oder ich schieße.« Keine Chance. Der kleine Mann läßt sich nach unten fallen und ergeben festnehmen; damit beginnt sein Todeskampf, der sich über fünf Jahre hinziehen wird.
Die Grenzbeamten stellen fest, daß es sich um einen gewissen Georg Elser handelt, Schreiner und Uhrmacher aus dem Württembergischen. Für sie ist er zunächst ein kleiner Fisch, kein großer Fang.
20.40 Uhr. Schon jetzt merken die Zuhörer, daß es der Führer diesmal kürzer machen wird als sonst. Er will am nächsten Morgen in Berlin sein. Da mit einer Wetterverschlechterung zu rechnen ist, die das Fliegen problematisch macht, wird er die Rückreise in die Reichshauptstadt in seinem Sonderzug antreten, der in einem ständigen Leerfahrplan eingesetzt ist. Abfahrtszeit: 21.31 Uhr. Erreicht Hitler bis zu diesem Zeitpunkt den Hauptbahnhof, hat er freie Fahrt bis Berlin. Andernfalls drohen dem Sonderzug erhebliche Verspätungen. Wenn alle Verkehrsampeln auf Grün stehen, schafft eine rasch fahrende Wagenkolonne den Weg vom Bürgerbräukeller bis zum Münchner Hauptbahnhof in längstens zehn Minuten.
21.07 Uhr. Die Führerrede geht zu Ende, um mindestens eine halbe Stunde gekürzt. Hitler läßt minutenlangen Beifall über sich ergehen. Noch während der Nationalhymne kämpfen ihm und seiner Kamarilla die Bewacher den Weg zum Ausgang frei.
Die Veteranen der Saalschlachten sind wieder unter sich, die Silhouetten ihrer Gesichter verschwimmen im Dunstkreis, in dem die braune Bewegung einst entstanden ist. Seit die Macht von den Fäusten der Rabauken an die hintergründigeren Schaltzentralen der SS übergangen ist, fühlen sich viele von ihnen als verstaubte Ladenhüter der Bewegung, die man nur noch an den Gedenktagen aus der Reichs-Requisitenkammer holt und zur Schau stellt.
Die Führerkolonne erreicht den Marienplatz, rollt weiter durch die Kaufingerstraße. Die Begleitfahrzeuge setzen sich an die Spitze, um die Menschenmauer am Stachus zurückzudrängen. Der Zeitplan funktioniert reibungslos. Um weitere Verzögerungen auszuschließen, macht die Führer-Begleitkompanie bereits den Vorplatz am Hauptbahnhof frei.
21.20 Uhr. Ein greller Blitz. Ein gewaltiger Donnerschlag. Der Pfeiler ist geborsten; die herunterstürzende Galerie begräbt die unter ihr sitzenden Ehrengäste. Die Höllenmaschine ist auf die Sekunde genau explodiert, doch 13 Minuten zu spät, um den Lauf der Weltgeschichte von Grund auf zu verändern. Im Saal verwandelt das Attentat die Gefolgsleute des Führers in eine kopflose, vielköpfige Horde, die über Verwundete und Sterbende hinwegtrampelt, einer auf Kosten des anderen, boxend, rudernd, stoßend, um nach draußen zu flüchten.
Die Führerkolonne schwenkt zum Hauptbahnhof ein. Hitler steigt aus und betritt, gefolgt von Himmler und Goebbels, seinen Salonwagen. Heilrufe hinter der Absperrung quittiert er flüchtig mit dem ausgestreckten Arm. Der Sonderzug fährt ab, ohne daß die NS-Größen erfahren, daß ein Anschlag den Biersaal in ein Inferno verwandelt hat. Die ersten Rettungstrupps vom Krankenhaus rechts der Isar gelangen nicht an die Unglücksstätte, weil die Panik der Flüchtenden sie niederwalzt. Die Kommandos der Besonnenen im Saal werden von den gräßlichen Schreien der Verwundeten und Sterbenden überlagert. Niemand weiß, ob fünf oder 50 Hoheitsträger unter den Trümmern liegen, und niemand fragt in diesen ersten Minuten, wem der Anschlag gegolten hat und wie er möglich war.
Endlich flammt ein Notlicht auf, illuminiert Szenen des Horrors. In der Wanne mit dem Tropfenbier schwimmt eine abgerissene Hand. Um eine ganzgebliebene Stuhllehne winden sich Eingeweide wie eine Kranzschleife. Eine Kellnerin liegt bäuchlings am Boden; in der Hand hält sie den Henkel eines Maßkrugs wie den Griff einer Notbremse, doch ihre Not ist überstanden.
Die Braunhemden einiger Besonnener, die sich dem Chaos entgegenstemmen, sind rotgefärbt. Der Rauch beizt ihre Augen, sticht in ihre Lungen. Im Raum hat sich der schwefelige Gestank der Hölle verbreitet. Ein Hilfssanitäter will sich über einen Verletzten zur Mund-zu-Mund-Beatmung beugen und kann sie nicht vornehmen, weil dem Hoheitsträger vom Explosionsdruck der Kopf abgerissen wurde. Einem Gauobmann wurde von einem Holzsplitter die Halsschlagader aufgerissen. Man kann seinen Herzschlag am herausgepreßten Blutstrahl sehen, verfolgen, wie der Puls schwächer wird. Seine aufgerissenen Augen betteln um Hilfe.
Aber was sollen die Hilfssamariter, in einem Schnellkurs ausgebildet, tun? Sie müßten die Arterie abbinden, aber damit würden sie den Verwundeten erwürgen. Da sie an seinem Tod nicht mitschuldig werden wollen, verfolgen sie mit hängenden Armen sein Sterben, das kein Ende zu nehmen scheint.
Verletzte, denen der Explosionsdruck das Trommelfell zerfetzt hat, irren wie von Furien gehetzt hin und her.
Andere, die die gräßlichen, entmenschten Schreie der Verletzten hören, wünschen die Taubheit der letzten Minuten zurück.
Während ein Gauleiter Erste Hilfe organisiert, tropft ihm von oben etwas gegen die Stirn wie Spatzendreck. Mechanisch wischt er sich mit der Hand sauber, starrt zur Decke, stellt fest, daß ihn Gehirnsubstanz besudelte, dreht durch, überschreit das Gebrüll der Eingeklemmten, rast durch die Reihen wie ein Berserker, reif für die Zwangsjacke.
Die ersten Toten werden geborgen und in einer Reihe nebeneinander geschichtet. Auf ihren Gesichtern, soweit noch vorhanden, hat sich die letzte Begeisterung ausgeblendet.
Kurz vor Mitternacht erreicht der Sonderzug des Führers Nürnberg. Der Polizeipräsident der ›Stadt der Reichsparteitage‹ läßt ihn stoppen, flitzt am Bahnsteig entlang, betritt den Salonwagen, stößt auf einen ob der Fahrtunterbrechung unwilligen Hitler. »Mein Führer«, meldet PG Martin aufgeregt: »Mein Führer – ich melde Ihnen: Höllenmaschine im Bürgerbräukeller. Explosion unmittelbar nach Ihrem Weggang. Mindestens zehn bis fünfzehn Parteigenossen nahe der Rednertribüne getötet. Möglicherweise an die Hundert weitere schwer verletzt.«
Detonation? Höllenmaschine? Attentat? Hitler wäre nicht Hitler, würde er nach dem ersten Schock anstelle einer Reihe unglaublicher Zufälle für seine Rettung nicht unverzüglich die Vorsehung bemühen.
Auch die nächste Folgerung ist typisch für ihn: »Das war der Secret Service«, sagt er zu Himmler. »Da gibt es keinen Zweifel«, stellt er bereits vor Anlauf der kriminaltechnischen Untersuchung fest. »Wir werden diesen Schurken eine Antwort erteilen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« Hitler glaubt an Allgegenwart, Tücke und Schlagkraft des britischen Geheimdienstes wie ein Klippschüler an Winnetou, den Apachenhäuptling. »Wir werden jetzt handeln.«
Himmler nickt eifrig. In dem käsigen Gesicht des Reichspolizisten zeigen sich rote Flecken wie Abdrücke von Ohrfeigen.
»Rufen Sie Schellenberg an«, ordnet Hitler an: »Ich befehle, die Secret-Service-Offiziere ohne Rücksicht auf Verluste und Folgen unverzüglich von Holland nach Berlin zu schaffen. Ich werde diese Halunken dem deutschen Volk vorführen. Ich werde ihm zeigen, wie hinterhältig die Engländer sind.« Er mustert seinen Reichsführer SS starr und setzt hinzu: »Ich erwarte unverzügliche Vollzugsmeldung.« Himmler stürzt ans Telefon; er wählt die rsha-Filiale in Düsseldorf. »Schellenberg«, reißt er den SS-Oberführer aus dem ersten Schlaf. »Wissen Sie überhaupt, was vorgefallen ist?« ruft er aufgeregt in die Sprechmuschel, als wäre er nicht selbst erst vor einer Minute über den Anschlag informiert worden. »Attentat auf den Führer. Er befiehlt, daß die Holland-Operation nunmehr sofort anläuft. Haben Sie mich verstanden?«
»Jawohl, Reichsführer«, erwidert der Benjamin der Prinz-Albrecht-Straße und Günstling des rsha-Chefs Reinhard Heydrich, ein verkrachter Jurastudent, der es während des Kriegs zum Leiter der gesamten deutschen Auslandsspionage bringen wird. »Das wird natürlich nicht ohne Grenzverletzung –«
»Sind Sie wahnsinnig?« schreit Himmler mit kippender Stimme: »Der Führer entgeht im letzten Moment dem sicheren Tod und Sie kommen mir mit solchen Kinkerlitzchen. Bringen Sie die Sache zum Abschluß!« ruft er außer Atem. »Heute noch. Ende des Gesprächs.«
Schellenberg legt auf. Ein voreiliger Befehl zwingt ihn zu überstürzter Aktion. Er steigt aus seinem gestreiften Pyjama in einen eleganten Zivilanzug, verwandelt sich in Dr. Schemmel, Hauptmann der OKW-Transportabteilung, als den ihn die englischen Geheimdienstoffiziere in Holland kennen. Vor dem Krieg hatten die Repräsentanten des deutschen Widerstands einander in London die Türen des Foreign Office in die Hand gegeben und waren ausnahmslos abgewiesen worden. Nunmehr vertrauen die Briten einem SS-Agenten, der eigentlich so durchsichtig ist wie ein Fensterglasmonokel, halten ihn für den Beauftragten einer deutschen Oppositionsgruppe, die von einem ungenannten Wehrmachts-General geführt wird. Und diesen hohen Militär will der zivile Hauptmann bei der nächsten Begegnung in Amsterdam präsentieren, wo auf dem Flugplatz Schiphol eine Sondermaschine bereitsteht, die ihn und Dr. Schemmel nach London fliegen wird. Dort soll in einer Geheimbesprechung mit M.I.-6 eine deutsch-englische Gemeinschaftsoperation zwecks Beseitigung Hitlers abgesprochen werden.
Schellenberg weiß, daß er sein Falschspiel nicht mehr zum Höhepunkt bringen kann, daß er nunmehr List durch Gewalt ersetzen muß. Er ruft über einen Geheimsender ON 4 Holland und bestellt in einem verschlüsselten Funkspruch Major Stevens und Captain Best für den Mittag des 9. November, 14 Uhr, zum entscheidenden Treffen in das Grenzcafé nach Venlo.
Der Funker in Amsterdam bestätigt den klaren Empfang, nicht jedoch, ob der Vorschlag von den Secret-Service-Statthaltern angenommen wird. Das wissen sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich selbst noch nicht.
Dann trommelt Schellenberg sein Kidnapper-Kommando zusammen: zwölf Mann, rauhe, rabiate Burschen, Laien auf der internationalen Agentenbühne. Blutige Laien, seit sie am 1. September den Zweiten Weltkrieg gezündet haben – nach einer Idee Heydrichs, mit Wissen Hitlers und Himmlers, jedoch hinter dem Rücken der schlesischen Behörden.
In polnischen Uniformen hatten sie den spektakulären Überfall auf den Reichssender Gleiwitz verübt und dabei eine polnische Proklamation verlesen.
Um der internationalen Presse die Provokation zu beweisen, mußte man Aggressoren vorführen. Tote Aggressoren aus Polen. Zu deutsch: frische Leichen. Da der Zeitpunkt des Einsatzes nicht genau feststand, waren sie lebend zu konservieren; deshalb gab man ihnen das Tarnwort ›Konserven‹.
Zum richtigen Zeitpunkt wurden KZ-Häftlingen in polnischen Uniformen, fernab vom gestellten Schauplatz, die Verwundungen beigebracht, die sie bei Kampfhandlungen erlitten hätten. Dann legte man die Ermordeten in Grenznähe und vor dem Sender Gleiwitz nieder, damit Hitler den Anschlag aus dem Osten vier Stunden später im Reichstag mit den Worten vergelten konnte: »Seit vier Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen.«
Das Holland-Rollkommando, geführt von einem Sturmbannführer, ist jetzt komplett, bis auf Hauptsturmführer Müller-Wagenknecht, der vor zehn Wochen die Konserven-Aktion geleitet hatte. Vermutlich läßt er sich in der Düsseldorfer Altstadt mit obergärigem Bier vollaufen, jedenfalls wird er dort gesucht.
Die SS-Männer fassen Maschinenpistolen, füllen sich die Taschen mit Eierhandgranaten, tarnen ihren offenen Transportwagen als Privatfahrzeug, kleiden sich in Räuberzivil. Sie gleichen Mitgliedern eines Kegelclubs beim gemeinsamen Himmelfahrtsausflug. Himmelfahrt mag stimmen, aber die Kegel, die ihre Kugel trifft, lassen sich nie wieder aufstellen.
Während dieser Vorbereitungen jagt eine Blitzmeldung um den Erdball: Attentat auf Adolf Hitler. Sieben Tote, über hundert Verletzte. Die Welt hat ihr Thema.
London fragt in Paris an, Paris in London zurück. Fehlanzeige. An München sind diesmal keine Alliierten beteiligt. Wo immer an diesem Tag Menschen beieinanderstehen, diskutieren sie: Wer steckt dahinter? Niemand weiß es, aber überall in Deutschland verbreitet sich das Gerücht, Hitler und Himmler hätten den Bürgerbräu-Anschlag inszeniert, um den Haß auf England zu schüren und dadurch die mangelnde Kriegsbereitschaft der deutschen Bevölkerung anzuheizen.
9. November, zehn Uhr. Die Vertreter der Firma N. V. Handelsdienst voor het Continent im Nieuve Uitleg 15 in Amsterdam, dem Hauptquartier des Secret-Service, treffen sich zu einer Geheimbesprechung. Man rätselt, ob die Höllenmaschine von München bereits das Werk des unbekannten deutschen Generals ist. Im Grunde spielt es keine Rolle, denn das Ziel wurde ganz knapp verfehlt.
Unter den Anwesenden sind einige jüngere Offiziere, die diesem Dr. Schemmel mehr als skeptisch gegenüberstehen: Wieso kann er so oft die Grenze passieren, wo die Deutschen die Ausreise noch strenger kontrollieren als die Einreise? Warum kann der deutsche Verschwörergeneral nicht selbst bis Amsterdam fahren und muß von SIS-Offizieren in Venlo persönlich in Empfang genommen werden? Solche Fragen läßt normalerweise kein Geheimdienst ungelöst durchgehen, aber Stevens und Best sind so vernarrt in ihre Idee, das Monster aus Braunau mit Hilfe der Deutschen zur Strecke zu bringen, daß sie ihrem Gegenspieler vertrauen. Blind vertrauen, denn ihre Überprüfung hat nicht mehr ergeben, als daß es im OKW einen Dr. Schemmel gibt, ohne festzustellen, daß dieser Mann auf eine lange Dienstreise geschickt wurde. Natürlich stimmt sein Ausweis, wenn der Staat, der ihn losschickt, selbst als Fälscher auftritt.
Wenn die Holländer bei einer von den Engländern veranlaßten Filzung ein bißchen schneller reagiert hätten, wäre ihnen das Röllchen Aspirintabletten mit der Aufschrift ›SS-Sanitätshauptamt‹ aufgefallen, das Dr. Schemmel im letzten Moment aufriß und schluckte – und dann den ganzen Tag über Beschwerden klagte, die sich – hinterher – als einzige Wahrheit seiner Aussage herausstellen werden. Mitunter sinkt die Venlo-Affäre auf das Niveau einer Klamotte ab: SS-Oberführer Schellenberg und Captain Best begegnen einander in einem Waschraum, wo der Deutsche sein Monokel poliert.
»Tragen Sie schon lange ein Einglas?« wendet sich der Engländer belustigt an seinen Gegenspieler.
»Sehen Sie«, erwidert der angebliche Dr. Schemmel, »das wollte ich gerade Sie fragen.«
Das Duell im Untergrund gleicht einer Schlacht mit verkehrten Fronten: Die britischen Experten benehmen sich wie Anfänger und ihre Gegenspieler, die SS-Dilettanten, wie Zauberlehrlinge des Secret-Service.
Elf Uhr: Das üppige holländische Frühstück wird abgetragen. Ob Stevens und Best nach Venlo fahren, ist noch immer offen. Die Debatte geht weiter, die Kontroverse auch.
Der Reichsrundfunk hat inzwischen gemeldet, daß einer der Attentäter an der Schweizer Grenze gefaßt wurde. Ein Mann namens Elser, Werkzeug des englischen Geheimdienstes.
»Die eigentlichen Mörder von München sitzen in London«, stellt ein Kommentator fest: »Der Führer wird zu gegebener Zeit die ihnen gebührende Antwort erteilen.«
Schellenberg ist schon unterwegs. Neben ihm Müller-Wagenknecht. Der Mann ist fahlblond, weißhäutig; seine farblosen Augen haben heute rote Ränder.
Der Hauptsturmführer tauchte erst um sechs Uhr morgens auf; er ist auch ein Günstling Heydrichs. Braucht man Kopf, wählt er Schellenberg, setzt er auf die Faust, Müller-Wagenknecht. Doch Faust und Kopf sind keine Einheit; sie können einander nicht leiden.
Kein Engländer kann so dumm sein, diesen rsha-Mann für einen deutschen General zu halten. Für diese Rolle hatte Schellenberg eine würdige Erscheinung aus dem SS-Fördererkreis der deutschen Industrie ausgesucht, aber in der Eile muß er auf den Mann zurückgreifen, den man hinter seinem Rücken einen blonden Kotzbrocken, kurz ›Bloko‹ nennt.
13.30 Uhr. Schellenbergs Wagen mit der zivilen Nummer hat die Grenzstation Venlo erreicht. Obwohl freie Durchfahrt angeordnet ist, überprüfen die Beamten sorgfältig die Papiere. Der Wagen rollt langsam zur niederländischen Seite weiter. Hier wiederholt sich der Vorgang, Dann hebt sich die Schranke.
Der falsche Dr. Schemmel fährt auf das Grenzcafé zu, parkt seinen Wagen hinter dem Haus. Er betritt, gefolgt von Müller-Wagenknecht, den Raum und wird vom Wirt mit Handschlag begrüßt.
Er erhält einen Fensterplatz, bestellt einen Aperitif und wartet. Die Zeit läßt sich Zeit, eine halbe Stunde, eine ganze. Der Fallensteller starrt heraus, bis ihn der Halswirbel schmerzt. »Da hätten wir doch leicht Waffen durchschmuggeln können«, mault sein Begleiter; sein Horizont reicht über Kimme und Korn nicht hinaus.
Trotz Schellenbergs warnendem Blick mäkelt Müller-Wagenknecht weiter: »Ich komm mir wie nackt vor ohne Ballermann.«
Das Wetter ist düster. Uniformierte vor und hinter der Grenze. Sie geben sich sorglos. Auffallend viele Zivilisten mit Hunden, unschwer zu erraten, daß ihre Spaziergänge Dienstrunden darstellen. Die Zeit beginnt an Schellenbergs Nerven zu sägen. Gelingt es ihm nicht, den Führerbefehl auszuführen, kann er gleich ganz in den Niederlanden bleiben.
15 Uhr. Aus Richtung Venlo kommt ein großer grauer Wagen, nähert sich rasch der Grenze. Dr. Schemmel ist schon aufgesprungen, dann sieht er, daß es kein Buick ist. Einen Moment lang fürchtet der Agent, seine Kidnapper könnten sich die falschen Insassen greifen, aber der Sturmbannführer hat aufgepaßt. Er hat ja seine Grenzerfahrung; aber es ist wohl leichter, im eigenen Land Wehrlose zu töten, als sich Bewaffnete jenseits der Grenze lebend zu greifen.
15.08 Uhr. Der Buick hat das holländische Stadthuis passiert und rollt an pittoresken Giebelhäusern aus dem XVI. Jahrhundert vorbei. Major Stevens setzte sich durch. Mit Rückendekkung aus London. Es ist, als wollte der erfahrenste Geheimdienst der Welt in dieser Sache keinen Fehler auslassen: Die SIS-Offiziere sind unbegleitet. Vier Mann in einem Wagen, so daß im Falle eines Überfalls bei der Gegenwehr einer den anderen behindern wird.
Die Briten lassen sich von dem holländischen Leutnant Klop in der Öffentlichkeit begleiten, obwohl das ihren Gegenspielern die Chance gibt, ein Zusammenspiel der neutralen Niederländer mit den kriegführenden Engländern zu beweisen. Und sie fahren in unmittelbare Nähe der Grenze, obwohl man ihnen mitteilte, daß Dr. Schemmels Begleiter durchaus nicht wie ein deutscher General aussieht. Aber wie sieht ein deutscher General aus? Außerdem gibt es unter Hitler Offiziere unter 30, die diesen Rang bekleiden.
15.14 Uhr. In scharfer Fahrt prescht der graue Buick über die Landstraße, schwenkt mit quietschenden Bremsen zum Grenzcafé ein. Dr. Schemmel und sein Begleiter springen auf und laufen den Holländern entgegen.
Gleichzeitig setzt sich hinter der deutschen Grenze der Kommandowagen in Fahrt. Er rollt langsam auf die Beamten der holländischen Seite zu.
Plötzlich tritt der Fahrer das Gaspedal durch.
Die Uniformierten springen zur Seite, um nicht überfahren zu werden.
Das schwere Gefährt nimmt Kurs auf den Buick, als wollte es ihn rammen.
Der englische Fahrer versucht, seinen Wagen herumzureißen. Zu spät. Captain Best verliert sein Monokel. Major Stevens wird bleich. Leutnant Klop springt aus dem Wagen, reißt die Pistole hoch, zerschießt die Windschutzscheibe.
Gleichzeitig ballern deutsche MPs auf. Der Holländer faßt sich mit beiden Armen an den Oberkörper, knickt in den Knien ein, knallt dann kopfüber auf den Boden. Querschläger zischen über die Köpfe der Grenzbeamten hinweg.
Bis die verblüfften Holländer dazu kommen, ihre Waffen zu entsichern und gezielt zu schießen, ist der Spuk bereits zu Ende.
Schellenberg und Müller-Wagenknecht erreichen ihren Wagen und jagen unter Feuerschutz zur deutschen Grenze zurück. Harte Fäuste zerren Stevens und Best aus dem Buick, halten sie fest wie im Schraubstock, als das Kidnapper-Gefährt entkommt – erst jetzt erfassen die Holländer voll das Gangsterstück.
Leutnant Klop stirbt in Düsseldorf auf dem Operationstisch. Stevens und Best werden in das KZ Sachsenhausen bei Berlin eingeliefert. Der Reichsrundfunk feiert Orgien: »Attentäter von München 18 Stunden nach dem Anschlag gefaßt«, überschlägt sich die Propaganda.
Zwei der wichtigsten Geheimnisträger des Secret Service befinden sich in den Händen von rsha-Männern, denen man nachsagt, sie brächten Steine zum Reden. In München erleidet das zuerst Georg Elser; sie drehen ihn durch die Mangel, zunächst mit brutalen, dann mit subtilen Methoden. Als sich Gestapo-Müller, der kahlgeschorene Chef der Schläger- und Schlächtertruppe, die Fingerknöchel an dem geständigen Attentäter des Bürgerbräukellers wundgeschlagen hat, übernehmen ›Fachärzte‹ seine Arbeit: Sie pumpen Elser mit Pervitin voll, erzeugen einen künstlichen Redeschwall. Der Mann in den Händen seiner Feinde schwäbelt darauflos, erzählt, was immer sie hören wollen, doch kein Wort über eine Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst. Auch unter Hypnose bleibt der Verhaftete ein Alleintäter. Widerwillig kommen Gestapo-Müller und Heydrich zu der Ansicht, daß er die Wahrheit sagt.
Himmler schreibt an den Rand des Protokolls: »Welcher Idiot hat diese Vernehmung geführt?« Er greift selbst ein.
Der Bluthund des Dritten Reiches, der sonst kein Blut sehen kann, trampelt in Münchens Wittelsbacher Palais, dem Sitz der Gestapo-Leitstelle, auf dem gefesselten Elser herum, schlägt ihn mit der Peitsche. Seine Fäuste wuchten dem Wimmernden ins Gesicht. Er tritt den Aufschreienden in die Hoden, dreimal, viermal.
»Reichsführer, bringen Sie den Mann nicht um«, sagt einer der Gestapo-Spezialisten: »Er wird noch gebraucht.«
Das Geständnis, das Hitler haben will, um Major Stevens und Captain Best in einem Schauprozeß der deutschen Öffentlichkeit vorzuführen, ist nicht zu beschaffen, weil es keinen Zusammenhang zwischen Elser und den SIS-Offizieren gibt. Das ist für die Engländer kaum ein Lichtblick. Die Katastrophe, die ihnen widerfuhr, könnte nicht schlimmer sein. Zwar ist an Härte, Loyalität und Patriotismus der Entführten nicht zu zweifeln, aber London muß damit rechnen, daß die Gestapo nach und nach alle Informationen über das britische Agentennetz in Deutschland aus ihnen herauspressen wird.
Hitler läßt sich täglich über den Gang der Vernehmungen berichten. Er will Resultate sehen, deshalb werden die Methoden so verschärft, daß Major Stevens versucht, sich das Leben zu nehmen, vergeblich. Von nun an wird er, ebenso wie Best, im KZ Sachsenhausen mit Ketten an Eisenringe geschmiedet.
Keine Frage: Zu diesem Zeitpunkt, da England dringend Nachrichten aus Hitler-Deutschland benötigt, ist das Netz aufgeflogen. Soweit sich die englischen Agenten nicht von sich aus absetzen, müssen sie zurückgerufen werden.
Der Chef des holländischen Geheimdienstes wird in die Wüste geschickt. Auch in London kommt es zu Umbesetzungen. M.I.-6 setzt Captain Howard Preston, einen der fähigsten Untergrundoffiziere, als Konkursverwalter in Deutschland ein; er soll vor Ort feststellen, ob einzelne Zellen noch zu retten sind.
Der Experte muß gleich einem Krebschirurgen »weit im Gesunden« schneiden, ohne Gewähr, daß die amputierten Glieder jemals wieder zu ersetzen sein werden.
Hinter verschlossenen Türen spricht man in London von nun an von einem Venlo-Komplex. Tatsächlich handelt es sich bereits um ein Venlo-Syndrom, damit ist gemeint, daß sich Fachleute von Außenseitern hereinlegen lassen, daß sie echten Oppositionellen mißtrauen und auf SS-Agenten hereinfallen, und das Schlimmste von allem, daß die Arbeit an der unsichtbaren Front grellem Tageslicht ausgesetzt wird.
Alle Aktivitäten des weitverzweigten englischen Geheimdienstes münden in die Anstrengung, die blamable Scharte wieder auszuwetzen und dem Reichssicherheitshauptamt die größte Niederlage, die der Secret-Intelligence-Service jemals während des Zweiten Weltkriegs hinnehmen mußte, heimzuzahlen. Zunächst freilich müssen die SIS-Offiziere ihre Revanche auf die lange Bank schieben und ums schiere Überleben kämpfen.
Das Jahr 1940 bringt den verschobenen Blitzkrieg im Westen. Zuerst das Fiasko in Dänemark und Norwegen; dann die Überrumpelung Hollands, Luxemburgs und Belgiens. Dünkirchen. Den Fall von Paris. Die Kapitulation Frankreichs. England steht allein und muß mit einer deutschen Invasion rechnen.
Streng geheim untersucht man bereits, ob und wie der Krieg nach dem Fall der Insel von Kanada und den Kolonien fortgesetzt werden könnte. Joseph Kennedy, der Botschafter des US-Präsidenten Roosevelt in London, warnt Washington vor der Unterstützung der britischen Vettern, da er es für zweckdienlicher hielte, den Deutschen die Waffen gleich direkt zu liefern, da sie ihnen in England ohnedies in die Hände fallen würden.
Am 15. August beginnt die Luftschlacht um England; sie wird entscheiden, ob die Verteidigungskraft der Engländer größer ist als der Defätismus des amerikanischen Botschafters.
Von allen Abteilungen des britischen Geheimdienstes ist nunmehr der Intelligence Service der Royal Air Force in Cock-fosters, Trent Park, der wichtigste. Er befaßt sich mit Stärke und Kampfmoral der deutschen Fliegersoldaten, die beinahe täglich die Insel mit dem Luftkrieg überziehen. Die Vernehmung und elektronische Ausforschung der abgeschossenen Flugzeugbesatzungen ist konsequent, fast perfekt. Dabei geht es den Offizieren von Cockfosters nicht nur um militärische, sondern auch um persönliche Dinge. So kann es passieren, daß ein abgeschossener deutscher Jagdflieger in Trent Park mit den zutreffenden Worten begrüßt wird: »Wie können Sie sich ausgerechnet am Geburtstag Ihrer Mutter herunterholen lassen?«
Im Juli stößt die R.A.F.-Perspektiv-Forschung erstmals auf einen Hinweis, daß zwischen zwei berühmten Jagdfliegern, dem deutschen Hauptmann Fabian und dem britischen Captain Dunhill, eine frappante Ähnlichkeit besteht. Eine Notiz unter vielen, wie sie sich in den Akten häufen, um dann langsam zu vergilben. Noch weiß Cockfosters nicht, daß ein glücklicher Zufall die Chance bieten wird, den Venlo-Komplex ein für allemal loszuwerden und die ›Operation Doomsday‹ (›Jüngster Tag‹) einzuleiten, das geheimste und verwegenste Kommandounternehmen des Zweiten Weltkriegs.
Am 4. September zeichnen sich erste Konturen ab: Eine Granate der Anti-Airkraft, der britischen Bodenabwehr, erfaßt in der Grafschaft Kent eine Me 109, und eine halbe Stunde später, nach der Festnahme ihres Piloten, wird sich der Abschuß als ein ausgesprochener Glückstreffer herausstellen.
»Alsdann vorwärts im Namen des Unsinns«, schließt der neuernannte Gruppenkommandeur die Einsatzbesprechung. Hauptmann Fabian gibt sich keine Mühe, die Verbitterung vor seinen Männern zu verbergen. Der dramatische Abschluß des Zusammenpralls mit seinem Kommodore hat ihn in einen Zustand versetzt, für den er sonst bei seinen Flugzeugführern Startverbot ausspricht – aber wegen eines psychischen Tiefs, das sicher bald vorüber sein wird, bleibt der beste Pilot und sicherste Schütze des ›Puma‹-Jagdgeschwaders nicht zu Hause.
Seit Hauptmann Fabian Abschuß auf Abschuß erzielt, in den Wolken wie in den Kissen, hat er einen Ruf wie Donnerhall. Schon optisch ist er ein Mann mit Mumm: 180 cm groß, mehr hager als schlank, drahtig und doch intelligent, einer, bei dem man bereits auf den ersten Blick vermutet, daß er mehr kann als töten oder sterben. Selbst in der Fliegerkombination wirkt der 28jährige nicht uniform, schon weil er statt der vorgeschriebenen Bordstiefel vormals weiße Tennisschuhe trägt, ein befehlswidriges Privileg, das er sich nach 19 Luftsiegen herausnimmt.
Der junge Offizier verfolgt, wie seine Männer in die Mühlen klettern. Der bullige Feldwebel Frommleben, der nie den Mund halten kann, quittiert die Sitzbereitschaft mit den Worten: »Besser ein wunder Hintern als ein kalter Arsch.«
Fabian steigt als letzter ins Cockpit, wartet, bis der zu schützende He 111-Verband den kleinen Einsatzhafen überflogen hat. Er nickt seinen Bordwarten zu, die Kuttenzwerge reißen die Bremsklötze von den Rädern, lösen das Kabel, das die 109 wie eine Nabelschnur mit dem Anlasserwagen verbindet. Der Propeller dreht sich, wirbelt Staub auf. Fabian jagt seine Maschine über die Graspiste, wird schneller und schneller, nimmt den Knüppel an den Bauch, zieht die Me hoch, startet zu seinem 167. Feindflug, dem dritten des Tages und dem letzten seines Lebens.
Die Gruppe – auf neun abgekämpfte Piloten und neun verschlissene Jagdeinsitzer reduziert – holt den Kampfverband ein, um von nun an nach der glorreichen Vorstellung ihres frontfernen Oberbefehlshabers »angelegt« Begleitschutz zu fliegen. Die Schnellsten an der Seite der Langsamsten – dafür ist die 109 nicht geschaffen, und die Männer, die sie fliegen, wissen bereits vor dem Start, daß sie sich nur blutige Köpfe oder ungerechte Vorwürfe holen können. Fabian wurde zum Sprecher und Heros der deutschen Jagdflieger, als er im Kasino dem Kommandierenden vor seinem versammelten Stab in das Gesicht sagte, die neue Taktik sei so »umständlich und zwecklos wie ein Eunuchen-Fick«.
Bei wolkenlosem Himmel überfliegt die Kampfgruppe den Kanal ohne Feindberührung, aber kurz vor der Küste wird die Formation von ›Spitfires‹ und ›Hurricanes‹ abgefangen und gesprengt. Da sich die Piloten des Fighter-Command nicht an die Befehle des deutschen Reichsmarschalls halten, kommt die Gruppe, in wilde Luftkämpfe verwickelt, doch noch zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Bei der wilden Kurbelei gelingt Fabian ein letztes Mal der Trick, den ihm keiner nachmacht: er fährt die Landeklappen aus, drosselt den Motor bis zum Äußersten, reißt die 109 in die denkbar engste Schleife und kommt von unten, statt aus der Überhöhung anzugreifen. Er überrumpelt den R.A.F.-Piloten, dem man auf der Jagdschule eingetrichtert hat: »Denk an den Hunnen in der Sonne.«
Ein kurzer Feuerstoß.
Fabian verfolgt, wie die brennende ›Spit‹ nach unten trudelt. Über Sprechfunk gibt er seinen Leuten den Befehl, die Luftkämpfe abzubrechen und ihre gejagten Schützlinge wieder einzuholen.
Unter ihm liegen normannische Kirchen, idyllische Wasserläufe, Dörfer mit Strohdächern; in 4000 Meter Höhe überfliegt der Hauptmann eine Kathedrale, deren Türme mit greisen Fingern nach oben zeigen, zum Himmel, an dem Platznot herrscht. In rollenden Einsätzen, in gestaffelten Höhen greifen seit Stunden Bombenflugzeuge mit dem Balkenkreuz Ziele in Südengland an, werden abgedrängt oder kommen durch, werfen ihre Bombenteppiche ins Ziel oder setzen sie wahllos ins Gelände. Mitunter sieht die Erde von oben aus, als trüge sie eine Gänsehaut.
Plötzlich gerät der Verband in eine Flak-Falle. Die erste 111 platzt in der Luft, eine zweite steht in Flammen. Fabian versucht im ›Bügeleisen-Walzer‹ aus den Sprengwölkchen herauszukommen, schafft es fast, dann reißt eine Granate seine linke Tragfläche auf – und das ist das Ende.
Er öffnet das Kabinendach, legt das unwillige Wrack auf den Rücken, läßt sich nach unten fallen, zählt die Sekunden mit, acht, neun, zehn, besonnen und ohne Hast zieht er die Reißleine, spürt, wie sich der Schirm über ihm öffnet und die Fallgeschwindigkeit bremst.
Langsam pendelt er nach unten, auf Felder und Wiesen zu, die immer größer werden.
Links unter ihm fleddern Souvenirjäger das Wrack eines rauchenden He-Bombers. Eine halbe Meile ostwärts steht ein Gehöft in Flammen, getroffen vom Notwurf einer Ju 88. Im Süden ballert die Flak wie wild auf einen neu eingeflogenen Verband. Eine ›Hurricane‹ fliegt so nahe an ihm vorbei, als wolle der Pilot ihn rammen. Fabian glaubt zu sehen, daß der Flugzeugführer ihn angrinst, und grinst sicherheitshalber zurück. Schwebend und baumelnd erfaßt er, daß der Wind ihn nach Süden weitertreibt, über eine halbverfallene Burg hinweg, auf schier endloses Weideland zu. Er winkelt die Beine ab, um beim Aufkommen elastisch zu sein. Er ist schätzungsweise noch 80 Meter über der Erde, noch 60, noch 40. Kurz vor der Landung bedauert er flüchtig, trotz des Verbots seines Ex-Kommodores, mit Tennisschuhen gestartet zu sein, und in den letzten Metern über der Erde sieht Fabian, daß er unweigerlich auf einem freistehenden Aborthäuschen inmitten einer großen Weide aufkommen wird. Seine Pendelbewegungen sind zwecklos. Der Bruchpilot knallt voll auf das Dach und bricht mit einem Bein durch bis zum Oberschenkel. Schließlich schafft er es, sich vom Schirm zu lösen. Die weiße Seide flattert davon und wird wohl bald das Brautkleid zu einer südenglischen Hochzeit beisteuern.
In seinem linken Bein flammen Schmerzen auf. Trotz aller Anstrengung kann Fabian es nicht aus dem zertrümmerten Dach ziehen. Er ist erleichtert, als er drei Landarbeiter – fuchtelnd, mit Heugabeln bewaffnet – heranstürmen sieht. Er überlegt, ob er die Hände heben soll, – aber er braucht sie, um sich abzustützen. Zu Beginn der Luftschlacht hatte die Angst vor deutschen Fallschirmjägern gelegentlich zu wilden Jagdszenen in Südengland geführt, aber seit die Bevölkerung aufgeklärt wurde, daß nur mindestens sechs gleichzeitig Abgesprungene Fallschirmjäger sein können – das größte britische Bomberflugzeug hatte zu dieser Zeit nur fünf Besatzungsmitglieder –, hat sich die Panik gelegt.
»I surrender!« schreit Fabian, als die Landarbeiter in Rufnähe sind: »I surrender!«
Der Vordere trägt die Mistgabel waagerecht wie ein Gewehr im Anschlag. Als er sieht, daß das Aborthäuschen bereits den Nazipiloten geschnappt hat, lacht er schallend. Sie legen alle drei ihre Primitivwaffen beiseite, um den Vogel von der Leimrute zu holen, eine schmerzhafte Bergungsaktion für Fabian.
»Von einer Scheiße in die andere«, schimpft er lachend.
»What did you say?« fragt der Mann zu seiner Linken.
Aber Fabians Englisch ist noch nicht aufgekommen. Sie führen ihn zu einem Herrensitz, eineinhalb Meilen entfernt. Da Fabian mit dem linken Bein nicht auftreten kann, geben sie ihm ein Zeichen, seine Arme um ihre Schultern zu legen.
In der Tür des rosenbewachsenen Gebäudes steht ein Bilderbuch-Butler mit dunklem Anzug und weißen Handschuhen. Die Landarbeiter liefern ihren Gefangenen bei ihm ab und bleiben abwartend stehen.
»Wen darf ich seiner Lordschaft melden, Sir?« fragt der Butler höflich.
»Beg pardon?« antwortet Fabian.
Der Mann wiederholt seine Frage.
»Hauptmann Fabian from the German Luftwaffe«, erwidert der Zwangsgast; er muß direkt vom Krieg in eine Narrenposse geraten sein.
Er steht allein vor dem Portal. Seine drei Bewacher warten diskret im Hintergrund. Im Übereifer haben sie vergessen, ihm die Pistole abzunehmen, aber das würde wohl wenig an seiner Demobilisierung ändern.
Der Butler kommt zurück: »Ich darf vorausgehen«, sagt er höflich und führt den ungebetenen Gast in den Bibliotheksraum im ersten Stock.
»Ich bin hier der Hausherr«, stellt sich der XIII. Lord Markham vor, stocksteif, doch mit der Andeutung einer Verbeugung.
»Hauptmann Fabian«, erwidert der Gefangene.
»Tut mir leid, daß Sie unsere Insel nicht von einer freundlicheren Seite kennengelernt haben.« Der Zufallsgastgeber, seinem Aussehen nach weit über 70, wirkt rüstig und würdig. Schlohweiße Haare umrahmen ein zerklüftetes Gesicht mit hellen, klaren Augen.
»Das«, antwortet Fabian, »liegt wohl in der Natur der Sache.« Sie lächeln beide. Lord Markham kann etwa soviel Deutsch wie Fabian Englisch, und so kommt der sprachlich alternierende Dialog kaum ins Stocken.
»Sind Sie verletzt, Captain?«
»Nicht weiter schlimm.«
»Soll ich einen Arzt –«
»Nein, danke.«
»Würden Sie mir bitte Ihre Waffe geben?«
Der PoW schnallt das Koppel ab und überreicht es dem Hausherrn. Dann serviert der Butler Tee. Ganz in der Nähe flammt der Kampflärm wieder auf. Es wird geschossen, getötet und gestorben, und einen Moment lang sorgt sich Fabian, daß eine deutsche Bombe hier einschlagen könnte, nicht, weil sie vermutlich ihn oder diesen freundlichen Kauz auslöschen würde, sondern weil ein so behaglich-stilvolles Haus einfach nicht zerstört werden sollte.
»Ein heißer Sommer«, sagt Lord Markham und klingelt seinem Butler.
»Anthony«, ordnet er an: »Stellen Sie mir eine Verbindung mit Cockfosters her. Versuchen Sie Major Gardner zu bekommen. Wenn er nicht da ist, dann seinen Vertreter.«
»Sehr wohl, Mylord.«
»Eigentlich müßte ich Sie jetzt der Home-Guard übergeben«, sagt der Gastgeber zu seinem Gefangenen. »Aber ich will Ihnen die Prozedur bei der Besenstielarmee ersparen, wiewohl ich einer ihrer Ehrenkommandeure bin.« Er lächelt fein.
»Cockfosters ruft in wenigen Minuten zurück, Mylord«, meldete sich der Butler.
Es bedarf keiner Erklärung, daß an einem Großkampftag wie heute alle Leitungen im R.A.F.-Intelligence-Center belegt sind. Sie sitzen und warten. Die Zeit ist stehengeblieben, wiewohl sie ihnen eine geschwätzige Tudor-Standuhr vorrechnet. Fabian spürt, wie ihn diese idyllisch-unwirkliche Atmosphäre zunehmend entwaffnet, und so ist er jetzt fast erleichtert, als ihm britisches Flak-Sperrfeuer und deutsche Teppichbombenwürfe wieder gewaltsam in eine Gegenwart zurückholen, auf die er sich versteht.
Schließlich setzt sich die Telefonklingel gegen den abflauenden Gefechtslärm durch. Als der Aristokrat zurückkommt, wirkt er verändert, mehr gespannt als urban.
»Sie sind Mr. Martin Fabian?« fragt er.
Der PoW-Offizier nickt.
»Dann sind Sie ein berühmter deutscher Jagdflieger.«
»Sehr schmeichelhaft, Sir«, erwidert Fabian. »Schätzen Sie mich so ein wegen der« – er deutet auf sein Ritterkreuz im Kragenausschnitt: »Blechkrawatte?«
»Ich lasse Ihnen einen kleinen Lunch richten«, umgeht Lord Markham eine Antwort: »Ich bitte Sie, sich noch eine Weile zu gedulden – Major Gardner möchte Sie persönlich in Empfang nehmen.« Mit einem schnellen Lächeln setzt er hinzu: »Das dürfte in jedem Fall bequemer für Sie sein.«
»Besten Dank, Sir, aber wer bitte ist Major Gardner?«
»Der Chef von Cockfosters.«
»Und was ist Cockfosters, Mylord?«
Lord Markham zögert kurz: »Eine Art Durchgangsstation für Offiziere Ihrer Waffengattung.« Er erhebt sich: »Sie entschuldigen mich jetzt bitte.«
Er läßt seinen Zwangsgast allein, aber Fabian hat keinen Zweifel, daß er unauffällig bewacht wird und daß er für die vorzüglichen Snacks, die ihm der Butler serviert, irgendwie zu bezahlen hat.
Nach 80 Minuten kommt der Gastgeber zurück, begleitet von einem Offizier, dessen Uniform aus der Saville Row stammen dürfte, Londons feudaler Gasse feiner Herrenschneider. Mehr aber als Einzelheiten der Garderobe – die Major Gardner den Spitznamen Dandy eingebracht haben – fällt Fabian das exzellente Deutsch des R.A.F.-Majors auf.
»Glücklich gelandet, Herr Fabian?« fragt er bei der Begrüßung.
»Unglücklich, Sir.«
»Ihr Pech unser Glück«, versetzt der Major. »Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß ich mich außerordentlich über Ihre Ankunft freue.« Er betrachtet seinen Gefangenen, sieht in das gespannte Gesicht mit der ledrigen Haut: Die Ähnlichkeit dieses Deutschen mit Captain Dunhill ist so umwerfend, daß er sich gewaltsam darauf konzentrieren muß, Fabian nicht mit dem Namen des Engländers anzusprechen. »Wie fühlen Sie sich, Herr Fabian?«
»Den Umständen entsprechend bestens«, erwiderte der PoW und grinst.
»Das ›Puma‹-Geschwader hat heute nach Ihnen noch einen Piloten verloren«, berichtet der Major wie beiläufig: »Feldwebel Frommleben. Er hat nicht einmal eine Schramme abbekommen.«
Fabian hält sich an die Belehrung über Verhalten im Feindesland und schweigt.
»Sein Bezwinger ist übrigens direkt neben ihm auf einer Wiese gelandet«, sagt der Major lachend, »und hat sich von seinem Opfer den Luftsieg gleich schriftlich bestätigen lassen.«
»Nicht sehr diszipliniert«, erwidert Fabian.
»Ihre Tennisschuhe doch wohl auch nicht?« kontert Gardner.
Sie lachen alle drei. Der Butler serviert Drinks. Sie nehmen sie im Stehen, mit dem Anstand und der Distanz dreier Gentlemen, die sich zufällig in einer feudalen Hotelhalle kennengelernt haben.
»Würden Sie bitte mitkommen, Herr Fabian?« beendet der Offizier aus Cockfosters die Cocktailstunde.
»Mir bleibt wohl keine andere Wahl«, entgegnet der abgeschossene Pilot und wendet sich höflich an seinen Gastgeber: »Thanks for your hospitality, Mylord«, sagt er zum Abschied, und Lord Markham wie Major Gardner stellen übereinstimmend fest, daß sich die Sitten bei den Hunnen inzwischen erheblich gebessert haben müssen.
Sie gehen zwanglos nebeneinander her, erreichen den Ausgang. Der Major deutet auf seinen betagten Austin, öffnet den Wagenschlag und bedeutet Fabian, vorne links einzusteigen.
»Keine Handschellen?« fragt der PoW belustigt.
»Sie sind doch kein Dummkopf, Fabian«, erwidert der Major. »Übrigens ist Ihre Tür verriegelt.«
Er will losfahren und sieht in diesem Moment den Butler, der Fabians Pistole bringt.
Der Major wirft sie achtlos in den Fond, startet, bietet seinem Mitfahrer eine Zigarette an.
»Beinahe hätte ich es vergessen«, behauptet er: »Ich soll Ihnen Grüße bestellen von zwei Ihrer Geschwaderkameraden, die sich schon seit längerer Zeit auf der Insel befinden.«
Unbeteiligter, als Hauptmann Fabian zum Fenster hinaussieht, könnte es auch Captain Dunhill nicht tun.
»Ihr Crew-Kamerad Pappenheim trauert immer noch seiner Hochzeit nach«, fährt Gardner fort. »Bei Oberfähnrich Kaudewitz bin ich mir nicht im klaren, ob er mehr für Sie schwärmt oder für Ihre Schwester Sabine, die wirklich sehr reizend sein muß.«
»Das ist sie auch, Herr Major«, erwidert Fabian spöttisch: »Und grüßen Sie bitte die Herren von mir«, erwidert der PoW-Offizier, automatisch in die Rolle eines intelligenten Täters schlüpfend, der weiß, daß das Leugnen bekannter Tatsachen genauso dumm wäre, wie Unbewiesenes zu gestehen: »Ich hoffe, die anderen Pechvögel bald zu sehen.«
»Das wird sich sicher arrangieren lassen«, erwidert Gardner.
»Treiben Sie eigentlich mit jedem deutschen Kriegsgefangenen einen solchen Aufwand?« fragt der Hauptmann.
»Wir geben uns viel Mühe. Wie sagt man bei Ihnen: Andere Länder, andere Sitten.«
»Sind Sie vom Geheimdienst, Herr Major?«
»Seien Sie bitte nicht so melodramatisch, mein Lieber«, versetzt Gardner. »Natürlich vernehmen wir Sie und Ihre Kameraden. Das machen Sie doch mit unseren Leuten auch?«
»Und genauso zwecklos«, antwortet Fabian in originaler Dunhill-Art. »Wohin bringen Sie mich eigentlich?«
»Zunächst in das R.A.F.-Lazarett in London, Abteilung deutsche Kriegsgefangene.«
»Und dann?«
»Sie erhalten eine erstklassige ärztliche Betreuung. Wenn Sie sich erholt haben, wird man Sie sicher vernehmen. Falls ich Zeit finde, werde ich das selbst erledigen. Fighter-Asse interessieren mich immer, selbst feindliche, mit 19 Luftsiegen.«
»20, Sir.«
»Heute?« fragt der Major.
»So ist es. Ich wurde nicht von einer ›Spit‹ erledigt, sondern von der Flak abgeschossen.« Dunhills Double lächelt mit krummen Lippen. »Darauf lege ich besonderen Wert.«
»So oder so«, erwidert der Major: »Jedenfalls ist für Sie jetzt der Krieg aus.«
»Meinen Sie, es bricht mir das Herz?«
»Ich nehme an, daß Sie heute noch Gelegenheit erhalten werden, über das Internationale Rote Kreuz ein Lebenszeichen an Ihre Angehörigen abzusenden.« Er weicht geschickt einem Lastwagen aus und setzt hinzu: »Wir sind keine Unmenschen.«
»Wir meistens auch nicht«, erwidert sein Gefangener. Dann erinnert sich Fabian an den Zusammenstoß mit seinem Kommodore und den Anlaß und hält bis London den Mund.
Craig Gardner trägt schwer an seiner Selbstherrschung. Ausgerechnet er, der als Skeptiker und Pedant gilt, muß sich dagegen wehren, unreife Früchte zu ernten. Er hat sich bisher an den Sandkasten-Spielereien, den Engländer in die Rolle des Deutschen zu stecken, nur am Rande beteiligt – schließlich weiß er, daß man die raffinierteste Giftsuppe nicht ohne Zutaten kochen kann. Nun aber sitzt die Schlüsselfigur neben ihm, Peter Dunhill ähnlich wie ein Zwillingsbruder. Diese phantastische Wendung zwingt den Geheimdienst fast automatisch zum Handeln, wie sie auch dem R.A.F.-Captain keine Chance läßt, sich dem Auftrag – wie immer er aussähe – zu entziehen.
»Wir sind am Ziel«, sagte Gardner zu seinem Gefangenen.
Der Posten am Seiteneingang des riesigen Militär-Hospitals hat den Wagen des Majors erkannt und öffnet das eiserne Tor. Zwei Soldaten nehmen Hauptmann Fabian in Empfang.
»See you later«, verabschiedet sich Gardner. »Ich hoffe, daß Sie sich an unser Klima und an unsere Küche gewöhnen können.«
Er fährt an wie einer, der noch einen langen Weg vor sich hat, aber stellt den Wagen auf der Rückseite des Gebäudes ab, um spezielle Maßnahmen vorzubereiten, die aus dem englischen Captain den deutschen Hauptmann machen sollen.
Er stürmt an das Telefon, läutet Cockfosters an – und seine Hochstimmung kentert von einer Sekunde auf die andere: Dunhill wird vermißt, seit er vor Stunden entgegen ausdrücklichem Befehl mit einer ›Spit‹ gestartet ist, um auf eigene Faust einen Einsatz über London zu fliegen.
Da er nicht aufzufinden ist, muß angenommen werden, daß mit dem Hauptdarsteller auch das geplante Kommando-Unternehmen gestorben ist.
Der britische Geheimdienst hatte das große Los gezogen, aber es ist nicht mehr wert als die Hälfte einer Banknote, so hoch sie auch sein mag. Und dabei hatte sich die ›Operation Doomsday‹, seit den berühmten sechs Tagen von Dünkirchen, beinahe zwangsläufig entwickelt.