Читать книгу Vollstreckt - Johann Reichart, der letzte deutsche Henker - Will Berthold - Страница 5

Der Tod trug mein Gesicht

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Es war so weit. Gewehrkolben hämmerten gegen die Holztür. Vor dem Haus stand ein Jeep. Drei, vier Soldaten in olivgrünen Uniformen waren dabei, in mein Deisenhofener Haus einzudringen. Es war im Mai 45; ein Lenz ohne Frühling.

Ich flüchtete in den Keller. Es war natürlich sinnlos, aber wenn der Mensch Angst hat, benimmt er sich wie ein gejagtes Tier. Einer meiner Nachbarn mußte mich denunziert haben.

Eine Minute später griffen sie mich und zerrten mich aus meinem Versteck. Sie hatten die Waffe im Anschlag und aufgedunsene, rote Gesichter.

»Bloody, dirty bastard!« schrie mir einer zu.

»Murderer!« brüllte ein zweiter.

Sie rissen mich derb am Arm, stießen mich vorwärts. Die Angst, die ich spürte, machte mich stumpf gegen den Schmerz. Ich roch den Fusel, den sie getrunken hatten. Einen Moment lang fürchtete ich, daß sie mich auf meinem eigenen Grundstück formlos umlegen würden. Einer machte eine Geste mit der flachen Hand an seinem Hals, und das sollte wohl bedeuten, daß sie mich hängen wollten.

Sie schleppten mich zu ihrem Jeep; einer setzte sich links, ein zweiter rechts. Aus der Entfernung sahen ein paar Zivilisten zu. Der Fahrer jagte los, mit Vollgas. Eine Zeitlang fuhren sie wie unschlüssig hin und her, rasten über Münchens zerstörte Straßen. Dann hielten sie vor dem Hachinger Friedhof.

»Go on, son of a bitch!« sagte der Sergeant neben dem Fahrer.

Sie trieben mich vorwärts, dabei ging ich freiwillig, mit einem pelzigen Gefühl in den Beinen. Als sie mich gegen einen Grabstein stellten, wußte ich, daß sie mich nicht hängen, sondern erschießen wollten.

Sie ließen sich Zeit. Sie waren ja Amateure. Sie fummelten mit der geladenen, entsicherten Waffe vor meinen Augen. Dann verbesserte der Sergeant meine Position wie ein Photograph, der das offizielle Hochzeitsbild macht. Sie schoben mich nach links, dann nach rechts. Einer fesselte meine Hände mit einem Kälberstrick. Sie lachten, redeten durcheinander. Einer spuckte, verfehlte aber mein Gesicht.

Ich lehnte mich gegen den Grabstein, starrte in die Gewehrmündungen. Gleich würde alles vorbei sein. Und das war gut so.

Aber es kam anders.

Plötzlich trat ein US-Offizier dazwischen und beendete die Szene. Er brüllte den Soldaten etwas zu. Sie nahmen auf einmal Haltung an. Er gab ihnen Befehle, die ich nicht verstand. Aber später sagte einer der GIs in seinem radebrechenden Deutsch: »Kaltgemacht wirst du doch, du Schwein.«

Sie lieferten mich in einer Arrestzelle der Polizei ab. Dann kam ich in ein Untersuchungsgefängnis. Jetzt begann die Irrfahrt quer durch die Barackenlager. Manchmal war ich mit fünfzehn anderen in einer Zelle, mitunter auch allein. Meistens war die Luft stickig und das Essen knapp. Aber wo ich auch war, stets war der Himmel für mich so groß wie das Fenster hinter den Gitterstäben.

Ab und zu erhielt ich eine Zeitung. Mitunter sagte mir einer der Mitgefangenen, was die Nazis alles verbrochen hatten. Allmählich begriff ich, wie sehr der Staat, dem ich blind ergeben gedient hatte, mich ausgenutzt hatte, ausgenutzt und mißbraucht.

Es brachte mich um den Schlaf. Der Morgen quälte mich, und die Nacht fürchtete ich. Niemand half mir. Meine Mitgefangenen waren Hoheitsträger der Partei, Richter, Staatsanwälte – die Größen von gestern. Einige wurden später hingerichtet; andere rückten schon sehr bald wieder in die höchsten Stellungen ein. Aber keiner, ob er zur Gruppe eins gehörte oder zu den Glücklicheren, wechselte ein Wort mit mir, wollte neben mir schlafen oder seine Zukunfssorgen mit mir teilen.

Ich war der Einsamste im Lager, und doch selten allein, denn nun fingen sie an, mich zu besuchen, in großer Schar, die Männer und Frauen, die ich hingerichtet hatte. Mitten in der Nacht starrten mich 3165 Gesichter an, so wie damals, als ich der letzte Mensch gewesen war, den sie in ihrem Leben sahen.

Ihr Tod trug mein Gesicht.

Ich hatte einen schrecklichen Beruf gehabt. Ich war Scharfrichter gewesen – ich möchte es nie wieder werden.

Damals begann es, aber der Spuk wurde nicht ferner, als sich die Zeit normalisierte, und oft verwünschte ich die betrunkenen GIs, die im Hachinger Friedhof so lange herumgemacht hatten.

Wenn die Nacht in den Tag übergeht, ist es soweit. Dann kommt der stumme Zug. Die Frauen. Die Männer. Die Schuldigen. Die Unschuldigen. Und ihre toten Augen starren mich aus Wachsgesichtern an, wie damals, als ich den Hebel zog. Einige lächeln. Andere kämpfen verzweifelt gegen das Ende. Die meisten beten. Doch mit dem Amen fällt das Beil. Und während ich die Lippen aufeinanderpresse, höre ich meine Stimme durch das Grauen geistern: »Das Urteil ist vollstreckt.«

Ich habe es öfter als dreitausendmal sagen müssen. Auf Befehl des Staates, der so großzügig mit dem Leben umging, führte ich 3165 Menschen in die Todeszelle. Ich arbeitete mit den Augen, mit den Händen, mechanisch. Empfindungen hätten den traurigen, letzten Akt verzögert und die Todesangst eines einsamen Menschen verlängert. Ich verkürzte das Sterben auf vier Sekunden In dreiundzwanzig Dienstjahren als Scharfrichter ist mir nie eine Panne passiert.

Nur in einem einzigen Fall versagte die Exekution:

Bei mir selbst.

Ich sollte schweigen. Ich habe es jahrelang getan. Viele Menschen gingen mir aus dem Weg. Aber die Sensation läuft mir nach. In den Hungerjahren nach dem Krieg wollte Amerika meine Geschichte kaufen. Gegen Care-Pakete.

Ich schwieg.

Dann kam eine englische Agentur und bot mir eine Riesensumme.

Ich schwieg.

Ich hatte die Absicht, immer zu schweigen. Aber zwischen diesem Entschluß und dem heutigen Tag liegen zweitausend Nächte, die mich folterten, marterten, zermürbten … und die mich zwangen, meine Geschichte zu berichten.

Ich weiß nicht, ob es eine Anklage oder Verteidigung sein wird. Ich muß es tun wie unter einem inneren Zwang. Ich will schildern, wie man Scharfrichter wird. Warum. Wie es ist, wenn man Menschen sterben läßt. Und dann das Gewissen aufsteht. Die Angst. Die Furcht. Das Grauen.

Ich habe diese Menschen gesehen. Ich kannte ihre Fälle. Ich hatte fast mit allen Mitleid. Aber ich war überzeugt, daß sie zu Recht sterben mußten.

Bis dann die Hitlerjustiz auf das Recht verzichtete.

Ich weiß, daß hier die Grenzen meines Berichts zu liegen haben. Diese Hunderte, Tausende von Menschen, die von einem Regime hingerichtet wurden, dessen Hebel ich bedienen mußte, sind eine ungeheure Anklage, die zu schreiben ich kein Recht habe. Ich werde mich auf die kriminellen Fälle beschränken. Meine Erlebnisse, Erinnerungen und Begegnungen mit politischen Opfern habe ich einem Journalisten übergeben, der sie als wohl einzig dastehendes Zeitdokument darstellen mag.

Bis zu den Hinrichtungen des Jahres 1933 stimmte es, wenn der Staatsanwalt sagte: »Im Namen des Volkes …«

Ich erhielt von der Weimarer Republik meinen ersten Anstellungsvertrag. Es war kein Zufall. Ich stamme aus einer Familie, die seit beinahe dreihundert Jahren in ununterbrochener Reihenfolge den Scharfrichter stellte. Bei uns zu Hause hatte ein Scharfrichter nichts Düsteres oder Anrüchiges an sich. Wir hielten es für einen harten, notwendigen und ehrenwerten Beruf. Wir kannten die Namen unserer Vorfahren, zum Beispiel Lorenz Schellerer, der auf dem Münchner Heumarkt im Jahre 1854 eine der letzten Hinrichtungen mit dem großen Handschwert vornahm und dabei die Delinquentin, eine Gattenmörderin, mehrmals verfehlte. Seitdem wurde in Deutschland die Guillotine eingeführt.

Ich hatte schon als Neunjähriger meinen Vater verloren. Ein wenig vertrat mein Onkel Franz Xaver die Vaterstelle. Er war ein großer, würdig aussehender alter Herr, der streng und fromm lebte.

Er war aber auch der Scharfrichter von Bayern, der einzige, der in diesem Land jemals in Beamtenrang aufrückte. Er hatte von 1894 bis 1924 achtundfünfzig Mörder hingerichtet. Für jeden von ihnen ließ er Totenmessen lesen. Und später stiftete er aus eigenen Mitteln eine Kapelle.

Damals war mein Onkel schon über siebzig Jahre alt. Als im Jahre 1924 die Schwurgerichte wieder eingesetzt wurden, mußte er in den Ruhestand treten. Er wurde vom Justizministerium gebeten, für einen geeigneten Nachfolger zu sorgen. Er wandte sich an meinen Bruder Michael, der aber den elterlichen Hof bewirtschaftete und nicht die Dienstwohnung im Münchner Amtsgericht in der Au beziehen konnte.

Damit war ich an der Reihe.

Ich sagte nein.

Ich hätte dabei bleiben sollen.

Mein Onkel und ein Staatsanwalt nahmen mich in die Zange. Ich hatte zu dieser Zeit eine gut gehende Gastwirtschaft. Vorher leitete ich eine Tanzschule. Damals war ich jung und lebenslustig. Die Wanderjahre hatten mich nach Hamburg verschlagen, wo ich auch zwei Tanzturniere gewann. Mit einem hanseatischen Regiment war ich in den Ersten Weltkrieg eingerückt, wurde verschüttet und verwundet, schließlich wieder entlassen. Dann arbeitete ich in einer großen Wurstfabrik. Der Neigung nach wollte ich Kaufmann werden und wurde es auch. Ich hatte in allen Berufen Glück – bis auf einen.

Auf ihn, auf die Stellung eines Nachrichters, wurde ich am 15. März 1924 vereidigt und trat am 1. April meinen Dienst an. Damit war ich der Nachfolger meines Onkels geworden, der jetzt zufrieden war, daß dieser Beruf in den Händen seiner Familie blieb.

Ich hätte das niemals tun sollen.

Es waren oft keine Menschen mehr, die ich zu dem schwarzen Vorhang führte. Aber viele starben ruhig und reuig. Einige stemmten sich in wilder, blinder Lebensgier gegen meine Gehilfen, bei denen jeder Handgriff saß. Ich mußte einmal an einem Tag Vater und Sohn und an einem anderen Bruder und Schwester enthaupten.

Unter meiner Hand endete das Leben von Söhnen, die ihre Väter ermordet hatten. Unter meinem Fallbeil starben Eltern, die ihre Kinder beseitigt hatten.

Ich hörte die schrillen Schreie der Frau, die zusammen mit ihrem Liebhaber den eigenen Mann im Backofen verbrannt hatte.

Ich steckte einem jugendlichen Raubmörder, als er schon auf dem Brett angeschnallt war, auf seinen Wunsch in die linke Hand das Sterbekreuz und in die rechte das Bild seiner Mutter.

Ich vollstreckte das Urteil an einem Mann, der … schon einmal gestorben und beerdigt worden war.

Ich sorgte dafür, daß die letzten Wünsche der Delinquenten erfüllt wurden, soweit es ging. Ein Bauernsohn, der die Magd ermordet hatte, durfte in seinem Hochzeitsanzug sterben; ein gelähmter Totschläger, dem das Anziehen Schmerzen machte, im Hemd.

Ich enthauptete einen siebenfachen Frauenmörder und einen Mann, der seine eigenen sechs Kinder erstickt hatte.

Die Sühne schickte mich kreuz und quer durch Deutschland. Niemand wußte, daß auf meinem Opel Blitz hinten zerlegt die Todesmaschine lag. Meine beiden Gehilfen reisten mit dem Zug, um kein Aufsehen zu erregen. Wir durften uns nicht in der Stadt der Exekution zeigen, keine Gastwirtschaft betreten, keinen Alkohol zu uns nehmen. Wir wurden wie Häftlinge in eine Zelle gesteckt.

Wenn wir kamen, wußte der Delinquent, daß er im Morgengrauen sterben würde.

Mein Dienstanzug waren Gehrock und Zylinder. Paragraph 15 der Hinrichtungsordnung lautet: »Der die Vollstreckung leitende Beamte hat darauf bedacht zu sein, daß die Hinrichtung in ernster und würdiger Form vor sich geht. Er selbst hat in Amtstracht, die übrigen Anwesenden haben im dunklen Anzug oder in Dienstkleidung zu erscheinen.«

Meine Befehle erhielt ich vom Staatsanwalt. Ich erlebte mitunter, wie der Vertreter der Anklage sich abwenden mußte, wenn ich das von ihm erwirkte Urteil vollstreckte. Manchmal beobachtete ich auf seinem Gesicht Grauen und Zweifel. Einmal hob einer die Hand, als ob er das Urteil rückgängig machen wollte. Andere drohten zusammenzubrechen. Aber sie mußten durchhalten, bis es vollzogen war.

Ich erlebte Staatsanwälte, die vor der Exekution Witze rissen oder danach mit Appetit belegte Brötchen aßen. Ich kannte andere, die vorher gequält zu mir sagten: »Nicht, Reichhart, Sie machen es doch so schnell, wie es geht?«

Ich kenne Staatsanwälte, die nicht nahe genug an das Fallbeil herangehen konnten, und solche, die während des Vollzugs die Augen schlossen und sich die Hände an die Ohren preßten.

Ich kann bezeugen, wie immer wieder bei politischen Urteilen die Opfer fast leicht und lächelnd starben, während der Vertreter der Anklage aussah, als ob er unter das Fallbeil müßte.

Und dann kamen die Sondergerichte. Der Volksgerichtshof. Die Urteile überschlugen sich. Die Guillotine kam nicht mehr nach. Und ich stand und stand und zog den Hebel. Zweiunddreißig Exekutionen einmal an einem Tag. Die Gesichter der Delinquenten hatten sich gewandelt. Die Mörder waren nur noch selten.

Keine Zeit zum Nachdenken. Drei Minuten Abstand zwischen den Hinrichtungen. Keine Kerzen mehr. Kruzifixe waren aus dem Todesschuppen entfernt worden.

»Schnell, schnell!« drängte ein Staatsanwalt.

Ich sah auf, ich konnte nicht mehr. Ich wollte zurücktreten. Ich habe es zweimal versucht, dreimal. Es wurde abgelehnt. Man hat mir gedroht. Man behauptete, daß meine Arbeit kriegswichtig sei.

Und ich tötete und tötete. Zweimal in der Woche, dreimal. Zehnmal am Tag, zwanzigmal. Ich ging den Menschen aus dem Weg. Wenn ich an einer Kirche vorbeikam, aus der ein Gebet wehte, wenn ich die Worte hörte: »Vater unser …«, dann blieb ich plötzlich stehen. Automatisch. Dann wartete ich noch drei, vier Sekunden. Jetzt mußte das Fallbeil sausen.

So war es doch immer. Nach dem »Amen« nickte der Staatsanwalt und sagte: »Walten Sie Ihres Amtes.«

Ein Griff. Das Brett dreht sich im Neunzig-Grad-Winkel. Ein schwarzer Vorhang. Ein Wachstuchkorb. Ein Schlag.

Aus.

So schnell ist der Tod.

Mich ließ er nicht mehr los. Ich glaube, in diesen Tagen, Wochen und Monaten der Haft erfaßte ich zum ersten Mal die Problematik meines Berufs. Der Staat, der mich überbeschäftigt hatte, ließ mich allein – oder besser gesagt, die Funktionäre des Staats, die jetzt, sich aus ihren eigenen Gesetzen und Anordnungen hinauswindend, ihre Verteidigung vor der Spruchkammer vorbereiteten.

Auch mir war mitgeteilt worden, daß ich mich zu verantworten hätte, und zwar gleich in der Gruppe der Hauptschuldigen.

Aber bevor ich Näheres erfuhr, trat eine Wendung ein: Plötzlich stand ein amerikanischer Captain vor mir, fragte nach meinem Namen, lächelte mir aufmunternd zu, bot mir eine Zigarette an. Als ich im Jeep nach Landsberg fuhr, wußte ich noch nicht, um was es ging. Im Gefängnishof begriff ich es schnell. Ich mußte auf Befehl der Dritten Armee zwei neue Galgen bauen und Mastersergeant Woods, den späteren Scharfrichter in Nürnberg, unterrichten. Ich holte die Stricke vom Zollamt ab, die später Woods geschmacklos zentimeterweise als Souvenirs verkaufte.

Mein Schicksal ließ mich nicht los. Auch in Landsberg standen Galgen.

Die Guillotine war bei Nacht und Nebel in die Donau versenkt worden. Aber an den Henker erinnerte man sich. Es schien, als ob von der Justiz des Dritten Reiches nur ich übriggeblieben sei, der ich Urteile vollstreckte, die ich nicht zu verantworten brauche. Staatsanwälte und Richter, denen ich beinahe tagtäglich in diesen schaurigen Morgenstunden im Todesraum der Strafanstalt begegnet war, haben längst ihre Stellungen wieder erhalten.

Ich sollte mich für sie verantworten.

Ich stand vor der Spruchkammer. Ich sagte: »Ich werde nie mehr einen Menschen hinrichten – mögen die Richter künftig ihre Todesurteile selbst vollstrecken!«

Neben mir saß Hans, der mir von meinen vier Kindern am nächsten stand. Er wollte helfen und konnte es nicht.

Er verzweifelte über mich.

Er verzweifelte für mich und ging freiwillig in den Tod.

Sie holten mich öfter, und wieder war der Tod in meinem Gefolge. Auf Befehl. Wie früher. Nur trugen diesmal meine Auftraggeber Uniformen statt Roben. Und die Männer, die ich hängte, waren in meinem Tagebuch keine Namen, die mir nichts sagten. Ihre Untaten hatten selbst in den dünnen Nachkriegszeitungen reichlich Platz eingenommen.

In der Nacht vor der Hinrichtung wurden sie in einen Keller gebracht. Eine Häftlingskapelle veranstaltete für sie ein Wunschkonzert, während die Frauen, die am nächsten Morgen Witwen sein würden, mit verstörten Gesichtern im »Hotel Goggl« herumsaßen.

Es gab wieder eine Henkersmahlzeit; jeder Verurteilte durfte rauchen, soviel er wollte, nur Alkohol blieb den Rotjacken versagt.

Dann wurden sie aufgerufen und gingen zum Galgen, von Priestern begleitet. Und ich waltete meines Amtes, wie immer so schnell, zielstrebig und schmerzfrei wie möglich. In die Augen brauchte ich dabei keinem zu sehen, denn es wurde ihnen eine schwarze Kapuze über das Gesicht gezogen, bevor ich den Mechanismus der Falltüre auslöste.

Zwischen den Hinrichtungen lebte ich jetzt in einer vorläufigen, brutalen Freiheit. Manchmal wurde ich nach Landsberg gerufen und dann wieder nach Hause geschickt; dann jeweils hatten die deutschen Anwälte der Rotjacken einen Hinrichtungsstop erwirkt. Meistens war es kein fragwürdiger Zeitgewinn, denn immer mehr Insassen von Landsberg wurden begnadigt, so daß ich am Ende nur noch sieben Delinquenten hinrichten mußte, unter ihnen Oswald Pohl, als Chef des SS-Wirtschaftshauptamtes zuständig für die KZ-Lager und die Leichenfledderei an den Ermordeten, Otto Ohlendorf, Chef eines Vernichtungskommandos, der nach eigenem Eingeständnis 90000 Menschen liquidiert hatte, und Standartenführer Paul Blobel, dem der Mord an 60000 Menschen vorgeworfen wurde.

Die Tage der Freiheit empfand ich von vornherein als eine Leihgabe. Bei den Anfeindungen, denen ich ausgesetzt war, mußte ich damit rechnen, daß man mich wieder holen würde. Im Mai 1947 erschien die Polizei und verhaftete mich. Als einer der Vollstrecker der Todesurteile des Dritten Reiches kam ich in das Internierungslager nach Moosburg.

Krankgeschrieben lieferte man mich in ein Interniertenlazarett in Garmisch ein. Ich hatte Kreislaufstörungen; mir ging es wirklich miserabel. Aber ich merkte bald, daß die anderen Patienten vorwiegend Prominente des Dritten Reiches waren, die bereits wieder eine Vorzugsbehandlung genossen. Ich bewegte mich unter feinen Leuten, und es war mir klar, daß die Größen von gestern meine Gesellschaft ebenfalls als merkwürdig empfanden.

Ich war zusammen mit Herrn von Papen, Emmy Göring, Feldmarschall Sperrle, Reichspostminister Ohnesorge, dem Hitler-Adjutanten Julius Schaub, SA-Obergruppenführer Brückner und vielen anderen gestürzten Hoheitsträgern, die ich nur aus der Zeitung und der Wochenschau kannte.

Nicht so sehr der Stacheldraht bedrückte mich als meine Mithäftlinge, die mir aus dem Weg gingen, als ob sie Angst vor mir hätten. Im Grunde verdankte ich es ja nur ihnen, daß ich im Internierungslager war. Aber sie wollten nichts mit mir zu tun haben.

Ich meldete mich gleich am ersten Tag beim Lagerleiter. »Ich gehöre nicht hierher«, erklärte ich ihm.

»Warum nicht?«

»Ich habe nur die Urteile des Reiches vollstreckt«, erwiderte ich. »Ich war ein kleiner, unbedeutender Mann.«

Ich erreichte nichts. Aber die Mithäftlinge erfuhren von meiner Intervention und benahmen sich entsprechend. Ich merkte es zuerst gar nicht, bis eines Tages der SA-Obergruppenführer Brückner zu mir kam, um mir die Verachtung des ganzen Lagers zu übermitteln.

»Reichhart«, sagte er. »Sie hätten die Hinrichtungen von Landsberg nie vollstrecken dürfen.«

»Was hätte ich denn tun sollen?« fragte ich.

Der Mann ballte die Fäuste. »Da hätten Sie sich eher selbst das Leben nehmen müssen!«

Ich drehte mich in meinem Bett zur Wand um.

Mein Zustand verschlechterte sich. Schüttelfrost. Man schaffte mich in den Operationsraum. Der behandelnde Arzt und seine Helfer waren ausnahmslos frühere SS-Leute. Sie verachteten mich wegen Landsberg.

Ich lebte in einem Getto innerhalb eines Gettos. Als Aussätziger. Ich haßte meine Mitgefangenen und wurde von ihnen gehaßt. Ich lebte in dumpfer Gleichgültigkeit. Die Baracken waren feucht und kaum geheizt. Ich war schwer krank und bekam kolikartige Schmerzen. Die schlechte Verpflegung war keine Schikane; zu dieser Zeit löffelte man in ganz Deutschland dünne Kohlsuppen. Auch die Menschen außerhalb des Internierungslagers mußten die Suppe schlucken, die ihnen die Menschen innerhalb des Internierungslagers angerührt hatten.

Ich lebte im Delirium und wartete auf das Ende. Es kam nicht. Nicht von selbst. Mein Bewußtsein dämmerte in einem Fieberwahn. Ich spielte mit dem Gedanken, Schluß zu machen. In meinen immer wiederkehrenden Anfällen sah ich mich in zwei Rollen: als Delinquent auf dem Schafott und gleichzeitig als Scharfrichter. Ich befahl mir selbst: »Mach schnell, Johann! Mach es wie immer!«

Vier Sekunden, überlegte ich verdämmernd, wie immer, länger darf es auch bei dir nicht dauern.

Es tat nicht einmal weh. Nebenan schnarchte einer. Das Urteil ist vollstreckt, dachte ich.

Dann schwamm mein Bewußtsein weg.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Bett. Vor mir stand ein Arzt und fluchte. »Schweinerei!« sagte er, während er an meinem Handgelenk hantierte.

Es schmerzte, und ich hatte die Empfindung, daß meine Armgelenke Stiefel waren, durch die man Schnürsenkel zog. Da begriff ich, daß man mein armseliges Leben wieder zusammennähte.

Ich weinte stumm, ohnmächtig und wehrlos, einem elenden Leben ausgeliefert. Ich verzweifelte, weil mir in meiner ganzen Laufbahn eine einzige Hinrichtung mißglückt war: das Todesurteil, das ich an mir selbst vollstrecken wollte.

Was es bedeutete, erfuhr ich schon wenige Tage später. Ich lag im Bett, an das der SS-Arzt Professor Dr. Packhaus herantrat. »Sieh da, der Henker«, sagte er höhnisch und drehte sich nach den anderen um.

Sie verstanden den Hinweis.

Ich war krank, hilflos. Ich konnte mich nicht wehren. Sie gingen mit Fäusten und Stiefeln auf mich los, rissen mich aus dem Bett, trampelten auf mir herum, bis ich das Bewußtsein verlor.

Ich lag Tage im Koma. Hinterher erklärte mir ein Arzt, er sei nicht sicher gewesen, ob ich je daraus wieder erwachen würde.

Ich wußte, was ich von meinen Lagergenossen zu halten hatte. Ich verstand mich auf sie.

Ich war ja ein Leben lang mit Mördern umgegangen.

Diese blutige Bekanntschaft hatte am 21. Juli 1924 begonnen.

Es war so weit. Im Gepäckwagen des Zuges, in einer riesigen Holzkiste verpackt, lag die Maschine. Die Arbeiter fluchten beim Einladen.

»Habt ihr Bleiklötze drin?« fragte der Zugschaffner.

Wir waren zu dritt im Abteil. Wenn wir zurückfuhren, würden drei Menschen nicht mehr leben. Drei abscheuliche Mörder. Ihr Fall stand in allen Zeitungen. Drei Gesichter. Eines wirkte brutal, das zweite gleichgültig, das dritte war ein Milchgesicht. Ich kannte die Fotos auswendig. Ich kannte die Unterschrift unter den Bildern. Drei Todesurteile im Landshuter Mordprozeß. Sie hießen Hutterer, Fischer und Steingruber.

Sie waren nach und nach auf die schiefe Bahn geraten. Zuerst hatten sie nur gestohlen und eingebrochen. Dann kamen die ersten Raubüberfälle. Eigentlich waren sie zu viert. Aber dem Vierten trauten sie nicht. Er hieß Langer.

Zu dritt führten sie es aus, während eines Skats zu viert. Der Tisch steht an einer Stelle, die genau markiert ist. Steingruber mischt die Karten. Dann steigt er auf den über dem Raum liegenden Boden und schießt nach unten. Da sich Langer gerade nach hinten beugt, gehen die Schüsse daneben. Steingruber geht nach unten und erwürgt unter Mitwirkung von Fischer und Hutterer den Komplizen.

Sie schleppen den Toten weg. Frau Fischer sieht es.

»Jetzt muß die auch noch beseitigt werden«, sagt Steingruber zu Fischer.

Sie würfeln, wer den Bandenbefehl auszuführen hat.

Der neunzehnjährige Hutterer verliert. Er verwürfelt das Leben der Frau Fischer, sein eigenes und das der Komplizen, die das Verbrechen mit ihm verabredet hatten.

Deshalb kamen wir nach Landshut. Die Gefängnisverwaltung schickte einen Lastwagen. Der Staatsanwalt wartete auf mich. »Bauen Sie die Maschine auf«, sagte er, »erst eine Probe.«

Dann wies er mir eine Zelle zu. Für eine kurze Besorgung durfte ich noch einmal in die Stadt. Auf der Straße traf ich einen alten Bekannten. Einen Gastwirt. Er faßte mich am Rockärmel. »Ich bin übermorgen auch dabei«, sagte er.

»Wobei?«

»Bei der Hinrichtung. Die machst doch du?«

Ich nickte und begriff, daß mein Bekannter einer der zwölf bürgerlichen Zeugen war, die bis zum Jahre 1934 jeder Hinrichtung beiwohnen mußten.

Die Probe klappte. Ein Regierungsrat vom Landesbauamt nahm sie ab. Seine Hände zitterten. Damit war für ihn der Fall schon erledigt.

Letzte Nacht vor der ersten Exekution. Ich konnte nicht schlafen. In meiner Nachbarzelle saß der Todeskandidat Fischer. Einmal sah ich ihn durch das Guckloch. Er stand in der Mitte, war groß und schlank, hatte den Kopf gehoben und bewegungslos zur Decke gestarrt. Er mußte gespürt haben, daß ich ihn beobachtet hatte.

Mein Gott, dachte ich. Ich fröstelte vor mir selbst. Ich wollte im Gang auf- und abgehen, aber man hatte versehentlich meine Zelle verriegelt.

Auf einmal hörte ich es. Schritte. Monotone, gleichmäßige Schritte. Erst zählte ich sie. Dann hämmerten sie in meinen Ohren, trampelten auf meinen Nerven, diktierten den Takt meines Blutes.

Ich hielt es nicht mehr aus, trommelte gegen die Türe. Die Wachen öffneten. Hinter ihnen stand der Gefängnisarzt. Im ersten Moment hielt er mich für den Delinquenten. Dann ging er in die richtige Zelle. Zu Fischer. Er gab ihm ein Beruhigungsmittel. Die Schritte waren nicht mehr zu hören.

Dafür klapperten um einhalb fünf Uhr die Kannen. Die Kalfaktoren brachten das Frühstück. Ich trank nur Kaffee. Dann aß ich doch. Du mußt, sagte ich mir, sonst wird dir schlecht. Wenn’s dir schlecht würde, müßten die Todeskandidaten länger leiden.

Eine halbe Stunde vor der Hinrichtung stand ich im Schuppen. Das Kruzifix glitzerte silbrig. Der Luftzug der Türe bewegte den schwarzen Vorhang vor der Guillotine. Ich mußte mich dazu zwingen, ihn wegzuschieben, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war.

Das Fallbeil war aufgezogen und grinste mit schräger Schneide.

Dann kamen die Beamten. Die Zeugen. Unter ihnen mein Bekannter. Sie drückten sich gegen die Wand. Ich stand mit meinen Gehilfen mitten im Raum.

»Lassen Sie Ruppert Fischer vorführen«, sagte der Staatsanwalt mit belegter Stimme.

Meine Assistenten holten ihn ab. Ihnen folgten sicherheitshalber Gefängnisaufseher. Die Zeit bis zu ihrer Rückkehr dauerte ewig. Ich las meine eigene Unruhe von den Gesichtern der anderen.

Dann kamen sie. Schritte. Die Füße des Verurteilten schleiften. Er wurde halb getragen. Die Kerzen zuckten flackrig über die Niederschrift des Urteils. Fischer hing in den Schultern meiner Helfer.

»Sie heißen?« fragte der Staatsanwalt genau nach dem Reglement des Todes.

Fischer gurgelte nur.

Ein Priester. Ein paar Herzschläge Gebet.

»Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!«

Er mußte es zweimal sagen, bis ich es begriff. Sechs Meter bis zu dem schwarzen Vorhang. Ich glaubte plötzlich, daß sich meine Füße nicht bewegen würden. Der Staatsanwalt starrte auf seine Schuhe, während Fischer der Kragenlatz abgebunden wurde. Fischers starres Gesicht begann allmählich zu leben. Vor Angst …

Da stürzte ich auf den Vorhang, riß ihn auseinander. Schnell, schnell, dachte ich … und das habe ich von da ab jedes Mal gedacht. Und immer sah ich das Gesicht des Mörders in den endlosen Sekunden vor mir, in denen sich meine Füße nicht vom Boden hoben. Ich sah nur noch Schatten.

Das schwere Brett klappte um. Der Schlitten mit dem armen Sünder schoß an mir vorbei, rastete ein. Wir mußten ihn noch festschnallen. Die Gurte haßte ich von der ersten Sekunde an. Sie kosteten Zeit. Meine Finger flogen. Einen Blick noch. Nur Schluß!

Ich hielt den Griff der Auslösung in der Hand. In dem Augenblick, in dem ich ihn herunterzog, hörte ich einen schweren Fall hinter meinem Rücken. Gleichzeitig polterte das Fallbeil dumpf in seinen Scharnieren. Ehe ich es begriff, hatte ich einen Menschen hingerichtet … wie das Gesetz es befahl.

Ich ließ den Griff los, als ob er aus glühendem Eisen wäre. Jetzt konnte ich mir auch den Fall vor der Auslösung des Beils erklären: Der Gastwirt, einer der zwölf bürgerlichen Zeugen, war zusammengebrochen und mußte weggeschafft werden.

»Urteil vollstreckt«, sagte ich.

Und zum erstenmal spürte ich, wie schwer diese Worte auszusprechen sind, wenn sie in die Stille des Todes hineingesagt werden müssen …

Und dann kam schon der nächste. Steingruber. Ich sah ihn nicht an. Es ist nur eine Probe, redete ich mir mit zusammengebissenen Zähnen ein. Ich brachte es fertig. Diesmal war auch der Staatsanwalt grün im Gesicht.

Ich schrie fast die Worte heraus: »Urteil vollstreckt!«

Der dritte, Hutterer, kam nicht. Er behauptete in letzter Stunde, sein Geburtsdatum falsch angegeben zu haben, jünger zu sein. Es mußte überprüft werden. Das kostete Zeit.

Draußen, vor dem Schuppen, bekamen die Gesichter der Zeugen wieder Farbe. Der Staatsanwalt wollte etwas zu mir sagen. Aber er mußte mein Gesicht gesehen haben, denn er schwieg. Der Pfarrer betete leise weiter.

Drei Tage später mußte ich doch noch den dritten hinrichten. Sein Einspruch war gescheitert. Aber er durfte zweiundsiebzig Stunden länger leben. Was das bedeutete, begriff ich schon bei meiner ersten Exekution.

Wir redeten auf der Rückfahrt kein Wort. Meine Frau sah mich fragend an. Ich zuckte die Schultern.

Wieder konnte ich nicht schlafen. Ich ging ruhelos in meiner Wohnung auf und ab. Irgendwo lag die Bibel. Ich fand sie, schlug sie auf, las die Stelle: »Wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden …«

Aber sie waren doch noch so jung, dachte ich. Zwei Morde. Jetzt sind fünf Menschen tot …

So begann meine düstere Karriere, zufällig in der gleichen Zeit, da mein größter Fall ins Rollen kam: Martha Marek, eine Frau ohne Beispiel. Bald werden alle Zeitungen voll von ihr sein.

Und ich wußte noch nicht, daß ich eines Tages mit ihr in der Todeszelle stehen würde, wie in Landshut mit Hutterer, mit Fischer, mit Steingruber.

Vollstreckt -  Johann Reichart, der letzte deutsche Henker

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