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Eukaryoten und der Sex

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Seltsam, obwohl ich mich inzwischen bestimmt billiardenfach vermehrt hatte, fühlte ich mich einsam, eine billiardenfache Einsamkeit. In mir erwachte eine unbestimmte Sehnsucht nach dem anderen. Ich langweilte mich. Seit zweieinhalb Milliarden Jahren – was hätte man in zweieinhalb Milliarden Jahren nicht alles mögliche anfangen können – teilte ich mich und teilte ich mich, aber immer nur das selbe ich, spiegelte in der Elbe sich. (Pardon, aber ich musste diesen Schüttelreim loswerden, obwohl es noch keine Elbe gab.)

Nichts passierte, nichts.

Die Verbindungen, die ich mit anderen Zellen einging, hielten meist nicht lange. Ich wusste nicht, was ich mit den anderen anfangen sollte, sie langweilten mich.

Den anderen ging es genauso. Manchmal tauschten wir einige unserer Chromosomen aus, das war ganz lustig. Plötzlich hatte man ganz neue Eigenschaften, man war jemand anders, da man andere Erbinformationen hatte. Würde, zum Beispiel, ein Elefant seine Erbinformationen für den Rüssel mit einer Ente tauschen, wüchse ihm ein Schnabel und der Ente ein Rüssel. Aber damals gab es weder Enten noch Elefanten, es gab nur Einzeller, die mehr oder weniger alle gleich aussehen.

Die Erfinder der Photosynthese, die Cyanobakterien, erfanden so etwas wie ein Öko-Center. Ein Gebilde aus Kalk, verklebt mit Spucke – einer Art Schleim – und Sandkörnern. Riesige Gebäude, in denen leben konnte, wer wollte. Stromatolithen – du kannst sie heute noch an der Nordküste Australiens, der Shark Bay und im Yellowstone National Park der USA, den Bermudas und vielen anderen Orten bewundern.

Sie, die Cyanobakterien, siedelten sich selbstverständlich ganz oben an, auf den Sonnenterrassen. Weiter unten, sozusagen im Keller, lebten die Archaeebakterien, Archi‘s Verwandte. Viren – Viren sind keine Einzeller und schon gar keine Bakterien, sie sind genetische Zombies, wie sie Lynn Margulis nannte – leben vom Abfall der Einwohner. Sie plündern die Mülleimer, da sie sich selbst nicht ernähren können.

Die Höhe des Meeresspiegels schwankt beständig, je nach den klimatischen Verhältnissen. Schmelzen die Polkappen, steigt der Meeresspiegel, vereisen sie und binden dadurch das Wasser, sinkt er wieder. Manchmal ragten daher die ersten Wolkenkratzer, die Stromatolithen, ein ganzes Stück aus dem Wasser, was die Cyanobakterien auf die Idee brachte, das Leben außerhalb des Wassers zu erkunden.

Leben kann man nur im Wasser, das weiß jeder. Aber die Cyanos wollten mehr, sie sind so etwas wie frühe Wissenschaftler – wobei ich sagen muss, dass heutige Wissenschaftler die Sonnenenergie zwar einfangen aber nicht speichern können, geschweige denn, in Nahrung umwandeln. Möglich dass den Cyanobakterien die Idee der „Pflanze“ auf diesen luftigen Sonnenterrassen kam - Wurzeln im Wasser, die Blätter in der frischen Luft, um möglichst viele Sonnenstrahlen einzufangen. Die Verwirklichung dieser Idee dauerte allerdings noch hunderte von Millionen Jahren.

In einem Bistro dieser Öko-Center las ich eines Tages in der „Morgenröte“, der Tageszeitung für Einzeller, eine Kleinanzeige: „Eukaryotische Zellen suchen intelligente Bakterien. Kost und Logis frei, angenehme Arbeitsbedingungen“. Ich hatte keine Ahnung, was das sein soll, eine eukaryotische Zelle.

Neugierig geworden, doggte ich an einer eukaryotischen Zelle an und wurde durch die Membran in das Innere geschleust. Der Anblick war überwältigend. Allein die gewaltige Größe flößte Ehrfurcht ein, es war, als würde man den Petersdom zu Rom betreten.

In der Mitte – nicht ganz in der Mitte – das Allerheiligste, der Kern. Um diesen Kern, der mit einer eigenen Membran vom übrigen Raum getrennt ist, ein sonderbares Gebilde aus Röhren, Gängen und Löchern – das futuristische Bauwerk eines delirierenden Architekten, das wie in Dauerwellen gelegte Kutteln aussieht und sich an der Außenseite in tropfenförmige Gebilde auflöst. Ganz in der Nähe ein ähnlich verzwicktes Gebilde, der Golgi-Apparat, benannt nach dem italienischem Mediziner Camillo Golgi (1843-1926). Er entdeckte diese wellenförmig übereinandergestapelten Hohlräume unter dem Mikroskop. In meiner, im Vergleich winzigen Zelle, gibt es weder einen Golgi-Apparat noch ein endoplasmatisches Reticulum, wie man das andere Gebilde nennt, in dem Calcium gespeichert wird, wie ich später erfuhr. Geheime Gänge, in denen ich mich hoffnungslos verlaufen würde, führen von diesem endoplasmatischem Reticulum, kurz ER, zu dem geheimnisvollen Kern, dem Nucleus.

Um diese futuristischen Gebilde herum lagern etliche Mitochondrien, die sich um die Energieversorgung der Zelle kümmern. Früher, vor etlichen Milliarden Jahren, waren sie noch Bakterien wie ich, gingen dann aber eine Symbiose mit dieser Zelle ein und avancierten zu Organellen. Unter „Organellen“, eigentlich „Orgänchen“, die Verkleinerungsform von „Organ“ versteht man einen strukturell abgrenzbaren Bereich einer Zelle mit besonderer Funktion – laut Lexikon.

Zwischen all den Organellen laufen Ribosomen mit Notizblöcken und Kugelschreibern geschäftig hin und her. Ich erkannte sie sofort wieder, wir kennen uns seit langem, wir sind Verwandte. Damals, als ich in traumhaft verschwommenen Zeiten, noch als DNA, an einen Felsen geklammert durch das Weltall flog, da winkten wir uns von weitem zu. Womöglich landeten sie sogar früher als ich auf diesem Planeten – jedenfalls vermutet das die Biologin Lynn Margulis und meint, dass das Leben erst aus der Verbindung von Desoxyribonukleinsäuren, DNA, mit Ribonukleinsäuren, RNA, entstand.

Und da hat sie recht, was nutzt es mir, wenn ich sämtliche Informationen in Genen gespeichert habe und keine Sau liest sie! Die Ribosomen, die aus Ribonukleinsäure bestehen, RNA, lesen, kopieren und verarbeiten diese Geninformationen, wie wir gleich sehen werden.

Auf den Notizblöcken der Ribosomen mit den Kugelschreibern stand: „mRNA“ - messenger oder Boten- Ribosom. Nur sie, niemand sonst, hat Zutritt zu dem Kern. Top Secret! Das Geheimnis des Lebens ist hier, im Kern, gespeichert. Ähnlich einer riesigen Bibliothek, in der das gesamte Wissen der Menschheit in Büchern aufbewahrt wird. Die Bücher dürfen nicht entliehen werden, ginge das Buch verloren, ginge das Wissen verloren.

Um dieses Wissen aus der Bibliothek in die Zelle zu transportieren, müssen die Ribosomen, die mRNA, Kopien von dem Original machen. Natürlich wäre es unsinnig, die gesamte Bibliothek zu kopieren, wenn man nur etwas, sagen wir als Beispiel, über Gänseblümchen wissen will. Bibliothekare – wissenschaftlich gesprochen: Enzyme – helfen den Ribosomen, das betreffende Buch zu finden und die Seiten aufzuschlagen, in denen die Geninformationen für Gänseblümchen stehen.

Ein Gen ist lediglich ein Abschnitt auf der DNA, vergleichbar mit einem Buchstaben des Buches. Das Buch über die gesamten Geninformationen zu dem Gänseblümchen nennt man „Genom“, das nicht in Bücherregalen steht, sondern in Chromosomen verpackt ist. Die Gene sind wie an einem Faden in diesen Chromosomen derart raffiniert verpackt, würde man diesen Faden auspacken, er würde von der Erde bis zum Mond und wieder zurück reichen.

Enzyme helfen den Ribosomen, die Verpackung der Chromosomen an der Stelle zu öffnen, an der Informationen über das Gänseblümchen gespeichert sind und zwar in einer Doppelhelix. Das ist so etwas wie eine verdrehte Strickleiter oder eine Wendeltreppe. Die Sprossen der Leiter – oder die Stufen der Wendeltreppe, je nachdem, was du dir vorstellen willst – sind mit Buchstaben markiert: A, C, G und T. Vier Buchstaben, die vier Basen bezeichnen: Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Die Reihenfolge, in der diese Basen angeordnet sind, bestimmen den genetischen Code, so wie die Reihenfolge von Buchstaben ein Wort ergeben.

Die Ribosomen schreiben die Reihenfolge der Buchstaben ab, sie kopieren die Geninformationen für unser Gänseblümchen. Ich kann euch nicht alle Einzelheiten dieser „Transkription“, wie man diesen Vorgang nennt, beschreiben, ich war ja selbst nicht dabei, ich kann mich nur auf die Erklärungen der Ribosomen verlassen. Zurück im Protoplasma der Zelle übergeben sie ihre Aufzeichnungen anderen Ribosomen in weißen Kitteln, auf denen rRNA steht, ribonosale RNA. Das sind Chemiker, die nun diese Informationen buchstabengetreu in Proteine übersetzen, sozusagen die Idee eines Gänseblümchens in ein wirkliches Gänseblümchen umsetzen, vom Genotyp in eine Phänotyp - „Translation“ nennt man das.

Die Chemiker sehen natürlich nur die Reihenfolge der Buchstaben, das Original kennen sie nicht. Ihnen ist es egal, ob die Eiweißketten ein Gänseblümchen, ein Elefant, ein Kaktus oder ein Mensch wird, sie alle bestehen aus demselben Material, sie richten sich nach dem genetischem Code, den die Boten-Ribosomen kopiert haben.

„Eine Grundvoraussetzung der Vererbung ist die langfristige zuverlässige Kopierbarkeit des Erbmaterials, der Gene“ steht in jedem Lexikon.

Hat ein Ribosom mal seine Brille vergessen und ein G mit einem C ver-wechselt, so kann das verheerende Folgen haben. Der geringste Schreibfehler, selbst kleine, unscheinbare Änderungen des genetischen Codes können kaskadenartig im Laufe der Evolution zu immer größeren Unterschieden führen. Man spricht dann von Mutation. Die Evolution lebt von Mutationen – doch davon später.

Ich wurde als Virenkiller in diese eukaryotische Zelle integriert. Viren, diese Schmarotzer, die sich selbst nicht ernähren können und daher auf Wirte angewiesen sind, schleichen sich oft mit gefälschten Pässen in die Zellen ein und verbreiten Fake News, was zu Zank und Streit, nicht selten sogar zum Ruin der Zelle führt.

Wie schnell ist eine Zelle zerstört und wie lange hat es gedauert, eine Zelle aufzubauen, noch dazu eine derart komplizierte wie diese eukaryotische mit ihrem mysteriösen Kern. Wie viele Bakterien gingen die seltsamsten Verbindungen ein, Symbiosen nach dem Motto: Hilfst du mir so helf ich dir. Milliarden von Jahren vergingen, Milliarden von Versuchen wurden gemacht, um aus dieser Tretmühle, immer nur dasselbe „ich“ zu erzeugen, herauszufinden. Es musste doch im Leben mehr geben!

Und dann, vor ein und ein halb Milliarden Jahren, die große Symbiogenese, ein plötzliches Aufleuchten, ein Finden – Heureka! Die eukaryotische Zelle.

Die gesamte Zeitrechnung der Evolution richtet sich nach diesem Ereignis.

Eukaryotisch heißt mit dem Kern, während Zellen ohne Kern prokaryotisch vor dem Kern, also bevor es Zellen mit Kern gab, benannt werden. Dieser Kern war die Wende, die bewirkte, dass sich die Evolution wie nach einem Dammbruch rasant in eine bestimmte Richtung entwickelte. Diese eukaryotische Zelle ist der Urahn aller höheren Lebensformen, der Tiere sowohl auch der Pflanzen.

Durch einen verblüffend einfachen Trick veränderte dieser Kern den Lauf der Evolution. Wir, die Prokaryoten, verdoppeln unsere Chromosomen vor der Zellteilung, damit nach der Zellteilung in jeder Zelle wieder die gleiche Anzahl von Chromosomen wie vorher vorhanden sind. Die Urzelle ist nicht tot, sie lebt als zwei neue, identische Zellen weiter. Die Eukaryoten hingegen halbieren die Anzahl der Chromosomen. Die Chromosomen sind paarweise, diploid, um den Kern verteilt. Kommt es zur Zellteilung, werden diese Paare erbarmungslos getrennt, in der neuen Zelle sind somit nur halb so viele Chromosomen vorhanden. Neu hinzugekommen sind aber ein X und ein Y förmiges Chromosom. Woher die kommen konnten mir selbst die Ribosomen nicht sagen. Doch seither gibt es zwei Geschlechter auf der Welt, ein männliches, das Y Chromosom und ein weibliches, das X Chromosom. Sind in einer Zelle sowohl ein X als auch ein Y, so handelt es sich um eine männliche Zelle, ein Spermatozoon. Befinden sich hingegen zwei X in der Zelle, so ist sie weiblich, ein Ei oder Ovum. Vereinen sich diese Zellen, bringen sie natürlich auch die übrigen Chromosomen mit, so dass sich die vorher getrennten Chromosomenpaare wieder zu voller Anzahl treffen - doch welch Überraschung, der Partner ist ein anderer wie vorher. Die Paare wurden gemischt wie bei einem Kartenspiel. Die Anzahl der Karten bleibt dieselbe, doch die Mischung der Karten ist stets neu. Das Spiel kann beginnen – hast du gute Karten, sprich Gene, kannst du ein Genie werden, hast du aber schlechte Karten erwischt, so kannst du damit herzlich wenig anfangen.

Diese Mischung der Erbinformationen, ausgelöst durch die Sexualität, die Vereinigung von männlichen und weiblichen Zellen, ist wie ein Dammbruch, der die Evolution von einem stillen See in einen reißenden Fluss verwandelte.

Doch die Mutterzelle stirbt, sie wiederholt sich nicht in neuen Zellen, die Zellen sind verändert.

Du siehst zwar Papa und Mama irgendwie ähnlich, bist aber weder Papa noch Mama. Du bist ein einmaliges Wesen, das es weder vor dir gab, noch nach dir geben wird. Diese Einzigartigkeit musst du aber mit dem Tod bezahlen.

Der Affe mit der Zauberflöte

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