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ОглавлениеI. Ignatianische Vorbemerkungen
Das Exerzitienbuch – ein spiritueller Bestseller
Wie ein Buch betitelt ist und beginnt, ist oft schon kennzeichnend für den Autor, für den Inhalt und Stil. Der Titel des spirituellen Bestsellers von Ignatius lautet einfach »Geistliche Übungen« (exercitia spiritualia) und die erste Überschrift des Exerzitienbuches ist gleich ein ganzer Satz: »Anmerkungen, um einige Einsicht in die folgenden Geistlichen Übungen zu erlangen und damit sowohl der, der sie geben, wie der, der sie empfangen soll, Hilfe erlangen (EB 1). In diesem Sinn soll zu Beginn geklärt werden, was »geistlich« meint, was die Rolle des »Übens« und was Ziel und Methode von Exerzitien sind. Dies soll dann weiter entfaltet werden im Blick auf einige der 20 Vorbemerkungen, mit denen das Exerzitienbuch beginnt. Sie erweisen Ignatius als einen Menschen, dem es um Sinnziel und Weghilfe geht. Das Exerzitienbuch habe – so eine fromme Bemerkung – mehr Menschen auf dem Weg zur Heiligkeit geholfen, als es Buchstaben zähle. Ziel und Weg benennt Ignatius in der ersten Vorbemerkung des Exerzitienbuches: Geistliche Übungen, um im Blick auf Gottes Liebeswillen in wachsender Freiheit ein Leben im Lieben zu gestalten (vgl. EB 1). Dabei ist besonders wichtig zu sagen: »Nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren und Schmecken« (EB 2).
Besinnung auf das Leben
Ein altes Werbeplakat für Zigaretten zeigt junge Menschen, Strand, Sonne, Meer mit der Aufschrift »That’s life« – »Das ist Leben!« Darunter steht: »Der Gesundheitsminister warnt: Rauchen kann tödlich sein!« Diese Doppelbotschaft legt die Frage nahe: Was ist Leben wirklich und was ist lebensgefährlich? Dies sind wohl Fragen jedes Menschen, dem es ums Leben und ums ganze Leben geht. Es lohnt sich, im Buch des eigenen Lebens zu blättern und sich zu fragen:
– Was kommt mir spontan zur Frage, was Leben für mich bedeutet? Welche Menschen, Worte, Fotos mit Unterschriften, helle und dunkle Stunden lassen mich dies sehen?
– Was wären Kapitelüberschriften für meine Autobiographie?
– Ein Gang auf einem Friedhof kann fragen lassen: Welchen Grabspruch, welche Todesanzeige würde ich wählen und wie sähe mein geistliches Testament aus?
– Was gehört zu Gipfelerlebnissen, was zu den Abgründen meines Lebens?
– Wann war dies und jenes zum ersten oder zum letzten Mal?
– Was waren Anfänge und wann gab’s ein Aufhören?
– Welche inneren Regungen und Haltungen wie etwa Freude, Angst, Ohnmacht, Wut, Hass, Liebe, Freisein kenne ich?
– Wofür möchte ich leben und wofür sterben?
– Was bedeutet für mich »Leben in Fülle«? (Joh 10,10; vgl. 17,3). Für Jesus war es die Liebe und er fragt: Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?« (Mt 16,25f.).
Begeistert leben: Früchte des Geistes
Die Formulierung »Geistliche Übungen« legt zunächst die Frage nahe, was mit »geistlich« und »Geist« gemeint sein soll. Der Sprachgebrauch gibt Auskünfte: Teamgeist, Klassengeist, Geisterbahn, Begeisterung, Heiliger Geist, böser Ungeist, geistvoll und geistesgestört. Früher nannte man Priester nicht selten »Geistliche« und es wird um »geistliche Berufe« gebetet.
Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter gelegentlich mit einem etwas leisen, andachtsvollen Ton in der Stimme sagte: »Die Tante Maria hält sehr viel vom Heiligen Geist.« Es muss mehr gewesen sein als der Rat, man solle bei einer Prüfung zum Heiligen Geist beten. Was hat es mit dem Heiligen Geist auf sich? Gibt es ihn nur auf der Geisterbahn oder mitten in unserem Leben? Die vielleicht einfachste Annäherung an seine Wirklichkeit ist der Verweis auf die bildhafte Sprache der ersten Christen von den »Früchten des Geistes«. Von Früchten lebt man. Eine Reihe davon zählt Paulus auf: »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung« (Gal 5,22). Sind diese geistlichen Haltungen nicht lebensspendend und nah am alltäglichen Leben? Ob Menschen einander liebevoll oder missachtend begegnen, macht einen Unterschied und ebenso, ob jemand Mitempfinden hat oder alles an ihm wie an einer Plastikhaut abläuft. So ließe es sich vielfach weiterformulieren. Innere Haltungen äußern sich im konkreten Leben als freundlicher Gruß, als Krankenbesuch, als angemessene Rücksichtnahme auf Nähe und Abstand nicht nur in der Zeit der Pandemie, als Hausaufgabenhilfe, Verlässlichkeit und Treue, verständnisvolles Zuhören, finanzielle Unterstützung und all die vielfältigen Weisen des Begegnens.
Die Wirklichkeit des Geistes zeigt sich auch durch die Nennung der Früchte des Ungeistes, in der Bibel oft mit dem Wort vom verderblichen und verwesenden »Fleisch« bezeichnet. Dazu zählt Paulus: »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und Ähnliches mehr« (vgl. Gal 5,13–26). Der doppelte spirituelle Speisezettel stellt die Frage: Wovon nähren wir uns? Sind es Giftstoffe oder lebensfördernde Seelenspeisen? Paulus schreibt in seiner kräftigen Sprache: »Das ganze Gesetz ist in einem Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt acht, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt« (Gal 5,14f.).
Die geistlichen Übungen von Ignatius sind ein Beitrag zur Nahrung des inneren, des seelischen Menschen. Da geht es in erster Linie nicht um Kilokalorien, vegetarisches, veganes Essen, sondern um die spirituelle Gewichtung: »Das Gewicht der Seele ist die Liebe«, so Ignatius. Exerzitien sind eine Art Diät und Reha-Zeit der Seele und beleben mit der Frage: »Wes Geistes Kind bin ich?« Die vielgenannte »Kirchenkrise« ist wesentlich eine Heilig-Geist-Vergessenheit.
Exerzitien – Leben einüben
Exerzitien, exerzieren stammt vom Lateinischen exercere, was »üben« bedeutet, und dies wiederum kommt aus der Formulierung »ex arce«, d.h. aus der Burg herausgehen. Das Heer übt sich, um im Notfall für den Kampf, den Schutz bereit zu sein. Für Ignatius gehörte das Üben von höfischen Sitten, diplomatischer Sprache und Verhandlungsführung, Verwaltungsaufgaben bis hin zum Training mit Waffen zum täglichen Geschehen; Letzteres liebte er besonders.
Leben lebt vom Üben, vom Einüben und Ausüben. Was gibt es, was ohne Üben geht? Sprechen, Singen, Musizieren, Arbeiten, berufliches Tun, Gesprächsführung, Entscheiden, Training beim Sport, Beziehungskultur, Tugenden, innere Haltungen, Wissenschaft mit ihren Experimenten. Gewohnheiten und alles Lernen sind ganz wesentlich verbunden mit Üben. Übung ist ein wiederholtes Tun auf ein bestimmtes Ziel hin und mit bestimmten Methoden. Das mag streckenweise anstrengend, ermüdend, langweilig und langwierig sein und nur mit Geduld und Lernbereitschaft und mit demütigem Repetieren zum Ziel führen. Es ist, wie Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch »Vom Geist des Übens« schreibt: »Vom Kennen zum Können führt nur das Üben.« Und eine wesentliche Botschaft ist der vielsagende Titel des Bestsellers von Erich Fromm: »Die Kunst des Liebens«. Viele Liebesbeziehungen scheitern seiner Erfahrung nach daran, dass Liebe mit Verliebtheit verwechselt wird. Liebe wächst nur im gegenseitigen Lernen und Üben; man könnte auch sagen durch Inspiration und Transpiration.
Üben ist ein Akt der Hoffnung
In diesem Wort kommt zum Ausdruck, dass Üben nicht ein stures, sozusagen absichts- und hirnloses Wiederholen ist, sondern einem Sinn und Zweck dient. Dies wird auch deutlich, wenn man der Wortwurzel von Üben, nämlich »uoben«, nachgeht. Es bedeutet laut Lexikon: pflegen, bebauen, verehren. Die vermutlich aus dem bäuerlichen Bereich stammenden Menschen sahen im Prozess des Wachsens sozusagen drei Dimensionen: Man muss ein Feld bebauen, dann das Ausgesäte pflegen und schließlich müssen sie offensichtlich das ganze Geschehen mit einer Art Ehrfurcht wahrgenommen haben. Dieser Dreiklang bestätigt sich durch das lateinische Wort colere. Beim Lernen musste man sich die Sache einprägen: colere heißt pflegen, bebauen, verehren. Das Geschehen von Kultur und Kult kommt von dorther.
Wie differenziert und vielgestaltig das Üben ist, zeigt sich in einem etwas unbekannten Text aus dem zweiten Brief von Petrus. Er liest sich wie eine Treppe, auf der man bei jedem Wort innehalten kann: »Alles, was für unser Leben und unsere Frömmigkeit gut ist, hat seine göttliche Macht uns geschenkt, darum setzt allen Eifer daran, mit eurem Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit der Erkenntnis die Selbstbeherrschung, mit der Selbstbeherrschung die Ausdauer, mit der Ausdauer die Frömmigkeit, mit der Frömmigkeit die Brüderlichkeit und mit der Brüderlichkeit die Liebe. Wenn dies nämlich bei euch vorhanden ist und wächst, dann nimmt es euch die Trägheit und Unfruchtbarkeit für die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus« (2 Petr 1,3–8).
Sich disponieren – Gnade und Mitwirken
Die Übungen, so Ignatius, sollen helfen, »sich vorzubereiten« (se disponer), so wie man den Empfang eines Gastes vorbereitet. Wer sich darauf freut, die Begegnung ersehnt, wird tun, was er dafür tun kann. Die Zusage, das Kommen des Gastes sind dessen Entscheidung und Wirken, dessen Geschenk, dessen Gnade. Bedeutsam ist, dass Gott selber den Menschen zu dessen Tun disponiert (EB 20). Diese doppelte Disposition ist kurzgefasst die ignatianische Theologie, in der sich Gottes Gnade und menschliches Mitwirken vereinen. Dies ist eine Sichtweise, die immer wieder auch im ökumenischen Dialog erstaunt und dankbar verstanden und angenommen wird. Dies wird auch noch dadurch verstärkt, dass es in einer Vorbemerkung heißt, die begleitende Person solle »unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn« (EB 15).
Das Leben – ein Frommwerden
Das Leben ist nicht ein Frommsein,
sondern ein Frommwerden;
nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden;
nicht ein Sein, sondern ein Werden;
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.
Es glüht und glänzt noch nicht alles,
es reinigt sich aber alles.
(Martin Luther)
Auf dem Weg des Lebens
»Alles wirkliche Leben ist Begegnung« – dieses oft zitierte Wort des Religionsphilosophen Martin Buber weist darauf hin, dass wir, dass alles nur lebt in und durch Beziehung; durch Beziehung mit andern, mit der Natur, mit uns selber – und mit Gott, dem Ursprung allen Seins. Ein wenig buchstabenspielerisch kann man neun menschlich-existentielle Stationen des Lebensweges mit Zwischenüberschriften überschreiben, die allesamt mit »G« beginnen. Es sind dies auch die geistlichen Landschaften des Exerzitienweges. Wo jemand gerade steht, welche geistlichen Schritte »dran« sind und welche Wandlungen, das zeigt sich auf dem Weg.
Geschaffen
»Der Mensch ist geschaffen.« Mit dieser Aussage beginnen die Exerzitien. Geschaffen sein heißt, alles, was wir sind, wahrzunehmen: unsere Wirklichkeit, unsere Freuden und Schmerzen, unsere Erfüllungen und unsere Begrenztheiten, unsere Hoffnungen und Befürchtungen, unsere Lebensgeschichten, unser Suchen und Finden, unser Leben und Sterben. Was hier in allgemeinen Begriffen benannt wird, lässt sich in tausend Geschichten erzählen. – Was löst dieser Blick in uns alles aus? Staunen, Erschütterung, Dankbarkeit, Lobpreis, Aufstöhnen, Fluchen, Ehrfurcht, Anbetung, Lieben? Und was »gibt« mir die Botschaft Jesu, wir seien Geschöpfe, Kinder, Söhne und Töchter Gottes und untereinander Geschwister; und Gott habe »Wohlgefallen an uns«? (vgl. Ps 18,20).
Gefallen
Die Welt wird nicht als permanenter Idealzustand erfahren, sondern als »gefallene Welt«. Als Welt, die in ihrem Wahnsinn dem Ursinn und ihren Möglichkeiten nicht entspricht. Kennzeichen dieser Welt sind vielfach: Machtgier, Lügen, Gewalttätigkeit, Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Beziehungslosigkeit, Sucht, Verzweiflung, »die Hölle auf Erden«, wie manche sagen. Dies ins Bewusstsein kommen zu lassen mit dem Verwoben-Sein in ein Netz der Lebensfeindlichkeit und Liebesarmut (»Erbsünde«), mit Verletzungen, die man erlitten oder zugefügt hat, abgeleugnete Eigenschuld, Unversöhntsein, das ist eine harte Schule der Wahrheitsfindung; sie kann im biblischen Sinn aber auch erfahren werden als »Wahrheit, die freimacht« (Joh 8,32). Lebbar ist dies nur im Vertrauen auf Gottes Geist.
Gerettet
Die Rettung aus Seenot bzw. der Untergang von Menschen im Mittelmeer wird uns seit Jahren fast täglich vorgeführt. Es gibt Todesdrohung nicht nur auf den Meeren der Zeit, sondern in vielen Situationen, Lebensnöten, Missbrauchserfahrungen, Grausamkeiten, die einem die »Lust am Leben« genommen bzw. erst gar nicht entstehen haben lassen. Zugleich aber gibt es Menschen, die durch das Zusammenspiel von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Befreiung und Rettung erfahren von den Götzen der Leistung, der Anerkennungssucht und der Selbstverherrlichung. Das Evangelium ist voll von Geschichten der Vergebung, Verzeihung, Erbarmung (vgl. Lk 15). »Wir bitten euch an Christi statt, lasst euch mit Gott versöhnen«, so schreibt Paulus (2 Kor 5,20).
Geliebt
Der Weg der Exerzitien will nur eines: Liebe leben lernen – von Christus, in dem »die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters, erschienen ist« (Tit 3,4). Jede biblische Betrachtung ist im Grunde eine Liebesgeschichte. Und Jesus selber zeigt sich im Heiligen Geist als »Weg, Wahrheit, Leben«, als konkrete Liebe (Joh 14,6). Die Tiefe und Weite dieses Geschehens findet sich in der »Betrachtung, um Liebe zu erlangen« (EB 230–237).
Gerufen
Jesus ruft Menschen zu sich auf den Weg der »Nachfolge« und in seine Gemeinschaft, damit sie so Menschen seines Geistes werden. Er lässt sie miterleben, was er und wie er lebt; wie er redet, betet, empfindet, handelt, dient und ein Beispiel gibt. »Christus erkennen, lieben, nachfolgen« – dies ist die Richtung, die Ignatius in den Exerzitien mit auf den Weg gibt. Auf diesem Weg kann Befreundung wachsen, wie Christus sagt: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte … vielmehr habe ich euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe« (Joh 15,15).
Gerufen sein heißt, sich zum »Ja« Jesu zu entscheiden, der das Ja zu allen Verheißungen Gottes ist und in dem auch wir das »Ja« und »Amen« zu Gott sagen können. In seinem Geist sind wir Gemeinschaft, Leib Christi, Kirche und »nicht Herren des Glaubens, sondern Mitarbeiter zur Freude« (vgl. 2 Kor 1,15–24).
Gekreuzigt
»Wer nicht sein tägliches Kreuz auf sich nimmt, kann nicht den Weg mit mir gehen!« (Lk 9,23). Dies bedeutet nicht, tägliche Folterung zu ertragen, aber doch manchen Kampf durchzustehen – um der Wahrheit und Liebe willen. Die Seligpreisungen sind Situationen der Nachfolge Jesu Christi. Es gilt, mit Spannungen gut zu leben zu versuchen und das Wort zu beherzigen: »Einer trage des anderen Last, so erfüllt ihr das Gesetz Jesu Christi« (Gal 6,2). Freilich kann es auch einmal bedeuten, am Kampf auf dem Ölberg teilzunehmen, wo einen das Leben und die Sendung, in der man lebt, »ins Schwitzen bringen« und zu entgleiten drohen. Die Worte des Gekreuzigten »Mich dürstet«, »Vater, warum hast Du mich verlassen?« können einem da nahekommen. Vielleicht aber auch: »In deine Hände lege ich meinen Geist«, vielleicht kann da eigenes Leben zum Ausdruck kommen.
Geweckt
Es gibt nicht nur das morgendliche Verschlafen oder Aufwecken. Man kann auch das Leben verschlafen auf vielfache Weise: vor lauter Übermüdung, vor Dummheit, vor Angst, vor Uninteressiertheit, Hoffnungslosigkeit. Eine zentrale Erfahrung der Jünger Jesu war: Er ist auferweckt worden und wir mit ihm. Das heißt, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Christliche »Lebensanschauung« lebt mit der Hoffnung, dass die Liebe stärker ist als Sünde und Tod. – Wo erfahren wir, was wir singen: »Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung« (Gotteslob 472)? Überall dort, wo Lieben geschieht, wo wir Versöhnung suchen, wo wir die Hoffnung nicht mit dem Tod sterben lassen: »Weil wir einander lieben, wissen wir, dass wir vom Tod ins Leben übergegangen sind. Wer nicht liebt, bleibt im Tod« (1 Joh 3,14).
Gesandt
Gesandt sein heißt, einen Auftrag zu erfüllen, für andere ein Evangelium, d.h. eine frohe Botschaft, zu sein. Mag sein, dass wir uns als Gesandte, wenn auch nicht immer als sehr geschickte, erfahren; in jedem Fall sind wir füreinander Botschaft, gute oder manchmal auch schlechte. Wir sind es in allem: in unserer Ausstrahlung, unseren inneren Haltungen, unserm Reden und Tun und Verhalten. Missionarisch sein heißt, das, was einem Leben und Freude und Hoffnung schenkt, zu teilen, mitzuteilen. »Die Liebe besteht im Mitteilen von beiden Seiten« (EB 231), schreibt Ignatius.
Geerdet
Geerdet, das meint, dass alle »hohen Gedanken«, tiefen Einsichten, Erkenntnisse, Vorsätze, Projekte, außerordentlichen Tage wie etwa Exerzitien sich im Ernstfall des Lebens, d.h. im Alltag, bewähren müssen. »Und das Wort ist Fleisch geworden«, heißt es (Joh 1,14) und auch: »Was schaut ihr zum Himmel?« (Apg 1,11). – Er »ist von den Toten auferstanden und siehe, er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen« (Mt 28,7). Gott ist vor Ort. Er ist »in allem«, wie Ignatius schreibt: in allem Reden, Denken, Tun, Lassen, Atmen, Arbeiten, Ruhen und in allen Lebensphasen. »Dort« werdet ihr ihn finden. Dieses Sehnen und Suchen und Erfahren von Gegenwärtigkeit geschieht in der Bis-Zeit. So wie es in der Eucharistie heißt: »Geheimnis des Glaubens – deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.«
Voreinstellungen in einer »Dreiecksgeschichte«
»Wie wird es diesmal gehen?«, das fragen auch Menschen, die schon öfters auf dem Exerzitienweg waren. Wie wird es sein mit der »Dreiecksgeschichte« von mir, Gott und dem begleitenden Menschen? Die 20 Vorbemerkungen des Exerzitienbuches haben diese Fragen zum Inhalt: Die Haltung und das Verhalten der begleitenden Person soll zuhörend, freilassend, ermutigend, hinweisend, fragend, nicht ausforschend und der Individualität der Einzelnen entsprechend sein. Die Begegnung soll auf gleicher Augenhöhe geschehen und sie soll vor allem darauf vertrauen, dass Gottes Geist tragend und leitend ist.
Gott wird als der gesehen, von dem und auf den hin alles ist, der den suchend-übenden Menschen selber vorbereitet und begleitet und umarmt und Liebe schenkt und weckt (vgl. EB 15).
Großherzig und freigebig
»Da kommt nicht viel heraus …«, »das ist die große Chance für dich …«, »das schaffe ich kaum …«, »Vorsicht, Vorsicht!« Solche und eigentlich alle optimistischen, pessimistischen und sonstigen Voreinstellungen haben ihre Bedeutung für eine Begegnung, ein Projekt, ein Vorhaben. Man spricht dabei manchmal von »sich selbst erfüllenden Prophezeiungen«. Dies gilt für das alltägliche Leben und für Exerzitienzeiten ebenfalls. In der fünften Vorbemerkung im Exerzitienbuch spricht Ignatius das Thema Voreinstellungen an: »Für den, der die Übungen empfängt, ist es sehr nützlich, mit Großmut und Freigebigkeit gegenüber seinem Schöpfer und Herrn in sie einzutreten« (EB 5). Im spanischen Text heißt es »con grande animo« und mit »liberalidad«, also mit einem großen Geist und mit Freiherzigkeit darauf zuzugehen, nicht mit Kleingeisterei und Engherzigkeit.
Was kann dies alles bedeuten? Zunächst einmal, selber zu prüfen, wie man »so drauf« ist, welche inneren Voreinstellungen und Haltungen einen bewegen:
Bin ich hoffnungsgeladen oder auch mehr ängstlich? Sind es die üblichen Jahresexerzitien oder erwarte ich etwas Besonderes? Suche ich einen geistlichen Urlaub und vor allem Ruhe von der Alltagshektik oder etwas anderes? Bin ich bereit, mich überraschen zu lassen? Macht mir etwas Angst vor dem Geschehen der Tage? Meine ich, es müsse »unbedingt« etwas geschehen und entschieden werden? Denke ich etwas kindlich: Danach müsste ein Problem ganz und für immer gelöst sein?
Worauf hin richtet sich meine Sehnsucht, mein Wunsch für diese Tage? Fühle ich mich bereit, auch durch schwierige Momente wie Unsicherheit, Trockenheit, Ängste hindurchzugehen? Brauche ich jetzt Exerzitientage oder stünde für mich eher ein Kurs an für Kommunikation, Entscheidungsfindung, Verhaltenstraining oder irgendeine Weise von therapeutischer Hilfe oder auch eine echte Urlaubszeit? Was ist meine Voreinstellung gegenüber der geistlichen Begleitung und der anbietenden Institution? Fühle ich in mir eine Bereitschaft dazu, mich, meine Person, mein Leben nach dem Liebeswillen Gottes auszurichten?
Schweigen: Genug vom Zuviel
»Ob ich das aushalte?«, ist immer wieder die Frage von Menschen, die an Schweigeexerzitien teilnehmen. Fast alle erfahren aber dann Schweigen und Stille als ein wesentliches Element für das Gelingen der Tage und als Konfrontation mit sich selber und Begegnung mit Gottes Geist.
Was man so sehr wünscht
Ignatius setzt Stille und Schweigen als selbstverständlich voraus, gebraucht aber nicht oft das Wort Stille, sondern schreibt ganz nach seiner pragmatischen Art: Man wird »in den Exerzitien normalerweise umso mehr Nutzen ziehen, je mehr der Exerzitant sich von allen Freunden und Bekannten und von jeder irdischen Sorge absondert; etwa indem er aus dem Haus zieht, wo er wohnte, und ein anderes Haus oder Zimmer nimmt, um darin so geheim wie möglich zu wohnen, so dass es in seiner Hand liegt, jeden Tag zur Messe und zur Vesper zu gehen, ohne Furcht, dass seine Bekannten ihm ein Hindernis bereiten« (EB 20). Heute würde Ignatius sicher noch hinzufügen: zuvor möglichst alles zuhause gut ordnen, vereinbaren, dass das Handy nur für Unvorhersehbares und außerordentlich Wichtiges bereitliegt. Manche müssen dann in Exerzitien geradezu mit Entzugserscheinungen kämpfen, aber können dies auch als eine Einübung in Freiheitsgewinnung erfahren. Es kann die Erkenntnis bringen: Geräusch muss man machen, Stille ist. Wenn das Laute leiser wird, sagt die Stille: Ich bin schon da. Kannst du mich hören und das, was sich zu Gehör bringen will?
Als spirituelle Vorteile der »Absonderung« nennt Ignatius unter anderem: »Je mehr sich unsere Seele allein und abgesondert findet, um so geeigneter wird sie, sich ihrem Schöpfer und Herrn zu nähern und zu ihm zu kommen; und je mehr sie ihm so nahe kommt, desto mehr stellt sie sich darauf ein, Gnaden und Gaben von seiner göttlichen und höchsten Güte zu empfangen« (EB 20).
Alltäglich mit der Stille leben
Es gibt eine Fülle von Sprichwörtern, die auf verschiedene Weise auf Sinn und Wert von Schweigen und Stille auch im Alltag hinweisen: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«; »Man muss nicht alles, was wahr ist, sagen, aber was man sagt, muss wahr sein.« Thomas von Aquin gibt eine heftige Deutung: »Die Unfähigkeit zu schweigen ist eine Tochter der Verzweiflung.« Ignatius weist darauf hin, bei Gesprächen solle man zuerst hören, nachdenken und sich einfühlen und dann kurz innehalten und sich fragen, ob es besser ist, zu antworten bzw. nachzufragen oder zu schweigen. Außerdem ist die Diskretion, die Fähigkeit ein Geheimnis zu bewahren, für ihn ein hohes Gut für die Kommunikation.
Jesus – das Wort aus dem Schweigen
»Und das Wort ist Fleisch geworden« – so beginnt das Evangelium des Johannes. Jesus verkündet die Botschaft Gottes mit »Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer«; und das »Volk ist voll Staunen«. Manchmal beendet Jesus eine Diskussion mit einem einzigen Satz: »Soll man dem Kaiser Steuern zahlen? … Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« (Mt 22,21). Seine Gleichnisse sind gleichermaßen einfach wie wegweisend. Die Geschichte vom »barmherzigen Samariter« etwa ist geradezu zu einer Welt-Geschichte geworden.
Jesus ist mächtig im Wort und im Tun, ja, er wird als »das Wort Gottes« in Person gesehen. Und zugleich lebt Jesus auch aus dem Schweigen heraus und bringt zum Schweigen. Er kann sagen: Wenn ihr meine Frage nicht beantwortet, dann beantworte ich die eure auch nicht. Vor Pilatus und dem Volksgeschrei schweigt er, weil mit Worten nichts mehr zu sagen ist. Vor allem aber kommt sein ganzes Reden und Handeln aus der stillen Begegnung mit seinem Abba, seinem Vater. Immer wieder zieht er sich zurück, manchmal auf einen Berg, »er allein« (Joh 6,15); und wenn er sich zu Gott hin ausgesprochen hat, dann überlässt er alles schweigend seinem Abba und sein letztes Wort ist: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23,46).
Jesu Schweigen geschieht auch auf dem Hintergrund alttestamentlicher Worte wie: »Schweige vor Gott dem Herrn« (Zef 1,7); »Der Herr aber wohnt in seinem heiligen Tempel. Alle Welt schweige in seiner Gegenwart« (Hab 2,20). Oft wird gesagt, dass die Feinde Gottes zum Verstummen kommen. Jesus, der Stumme reden macht, ist auch der, welcher zu einem Dämon sagt: »Schweig und verlass ihn« (Lk 4,35). Eine der eindrucksvollsten Stellen ist die »Stillung des Seesturmes«: Er aber sprach: »Schweig still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein« (Mk 4,49). Immer wieder erfahren Menschen, dass nicht nur der Sturm auf dem See, sondern auch das Gewoge der Seele zur Ruhe kommen kann im Vertrauen auf Gott: »Herr, mein Herz überhebt sich nicht, nicht hochmütig blicken meine Augen, ich gehe nicht um mit großen Dingen, mit Dingen, die mir nicht begreiflich sind. Vielmehr habe ich besänftigt, habe zur Ruhe gebracht meine Seele. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie das gestillte Kind, so ist meine Seele in mir« (Ps 131,1f.).
Ein Text des dänischen Religionsphilosophen und existentiellen Denkers Sören Kierkegaard zeigt die Komposition von Reden, Schweigen, Hören: »Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörender. Ich meinte erst, Beten sei Reden. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt: still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört.«
Kommunizieren – Kommunion – Kommunikation
Für Christen zählt das Wort »Kommunizieren« zu den frühesten und einprägsamsten Worten des religiösen Wortschatzes. Sie kennen es aus der Vorbereitung auf die »Erste Kommunion« und als besondere Nähe zur Liebe Gottes und Jesu Christi. Da im liturgischen Kommunizieren Nahrung zu sich genommen wird, ist die Botschaft: Wir leben vom Kommunizieren. Und dies gilt nicht nur für dieses liturgische Geschehen, sondern für alle Weisen von Kommunikation: mit Worten, ohne Worte, mit Gesten, in familiären Gesprächen und geschäftlichen Verhandlungen. Alles, wo Gemeinschaft gelebt wird und Begegnung geschieht, ist Kommunikation. Der sog. Prolog, das Vorwort im Evangelium des Johannes, besagt: »Und das Wort ist Fleisch geworden«; vom Griechischen her formuliert: »Und der Logos ist Dia-log« geworden.
Die Kultur des Dialogs ist lebensnotwendig und friedenschaffend. Bei Ignatius gibt es zwei starke Stellen, die dies zum Ausdruck bringen. Für das Gespräch in den Exerzitien formuliert er als Voraussetzung: »Damit sowohl der, der die geistlichen Übungen gibt, wie der, der sie empfängt, mehr Hilfe und Nutzen haben, ist vorauszusetzen, dass jeder gute Christ bereitwilliger sein muss, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen« (EB 22). Dies ist der erste Hinweis, bevor noch irgendwelche inhaltlichen Hinweise gegeben werden. Anders läuft lebensfreundliche Kommunikation nicht.
Dies gilt nicht nur für den privaten, persönlichen Bereich, sondern auch für öffentliches Geschehen. In einer Instruktion für die Jesuiten, die 1546 als Berater für das Konzil von Trient vorgesehen sind, gibt Ignatius sieben Regeln für die Kommunikation. Die zentrale, sozusagen die »goldene Regel« lautet: »Ich wäre langsam im Sprechen, indem ich das Hören für mich nutze; ruhig, um die Auffassungen, Gefühle und Willen derjenigen, die sprechen, zu verspüren und kennenzulernen, um besser zu antworten oder zu schweigen« (BU S. 112). Ignatius verpflichtet dann die Mitbrüder, jeden Abend einem von ihnen eine Rückmeldung, ein »Feedback«, zu seinem Kommunikationsverhalten am Tag zu geben. Was für eine Schule!
Weiterhin und im Modus des Ausrufezeichens gesagt: Was für eine Einladung zu Erziehung, zu Bildung, zu therapeutischem Begegnen, zu seelsorglichen Gesprächen, zu gesellschaftlichem Dialog, zu christlichkirchlichem Miteinander in all dem Durcheinander und der Komplexität und Schnelllebigkeit unserer Zeit! Manches scheitert weniger an dogmatischen Streitigkeiten, sondern an mangelnder Gesprächskultur. Wer das Neue Testament aufmerksam liest, kann an ca. 70 Stellen über 30 verschiedene Streitpunkte entdecken, aber auch die Versuche, im verstehenden und liebevollen Miteinander zu leben.
Jesus räumt da der sogenannten »goldenen Regel« eine fundamentale Rolle ein: »Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen.« Und dann fügt er noch hinzu: »Darin besteht das Gesetz und die Propheten« (Mt 7,12). – Diesen Kommunionunterricht intensiv miteinander zu lernen, gehörte das nicht zum Wichtigsten für jede und für unsere Zeit und Situation?